VORWÄRTS-Schwerpunkt zur Rolle des Sozialbereichs im Kapitalismus

Klatschen zahlt die Miete nicht!

von Michael Gehmacher, Betriebsrat beim Arbeiter-Samariterbund – Wohnen und soziale Dienste

Pflege & Soziales: Verschiedene Jobs - gleiche Probleme mit niedriger Bezahlung und zu wenig Personal

Corona rückte uns als “Systemerhalter*innen” in die Öffentlichkeit. An den oft katastrophalen Bedingungen in unserer Branche hat das aber nichts geändert. Am einfachsten ist es ja, auf jene Menschen einzuschlagen, die sich schwerer wehren können. Klingt wie eine Binsenweisheit aus dem Lehrbuch für Kapitalist*innen und ist genau das, was verschiedene Regierungen seit Jahrzehnten im Sozial-, Pflege- und Gesundheitsbereich machen. Und zwar bei den Beschäftigten sowie jenen Menschen, die auf Unterstützung angewiesen sind – ganz gleich ob nun auf Grund von gesundheitlichen Gebrechen, Armut, psychischen Erkrankungen oder sonstigen Beeinträchtigungen.

In unserer Branche arbeiten viel mehr Frauen. Für sie werden Überlastung und Burn-Out Gefahr durch die Mehrfachbelastung von Job und Familie noch verstärkt. Gerade sie sind in der dauernden Zwickmühle: Vollzeitarbeiten und Ausbrennen oder Teilzeit bzw. keine Nacht- und Wochenenddienste und zu wenig Einkommen. Denn: Wer nur Grundgehalt und eventuell Erschwerniszulage bekommt, verdient wenig. Es ist zwar möglich, das Einkommen durch Arbeit am Wochenende und in der Nacht mit Zuschlägen „aufzufetten“. Doch das geht auf die Gesundheit und erschwert soziale Beziehungen. Menschen mit Betreuungspflichten - meistens Frauen - können das nicht. 

Ein Teil der Beschäftigten arbeitet im Öffentlichen Dienst, andere bei privaten Trägern. V.a. dort wird fast immer genau das bezahlt, was der zuständige Kollektivvertrag (z.B. Sozialwirtschaft Österreich, Caritas, Diakonie, usw) vorsieht. Eine „Überzahlung“ (also mehr als nach KV), gibt es selten. Es ist daher kein Zufall, dass bei den Kollektivvertragsverhandlungen 2019 die 35 Stundenwoche und 6% mehr Lohn und Gehalt sowie weitere dringend nötige Verbesserungen gefordert wurden. Viele Kolleg*innen können die niedrigen Gehälter nicht mehr hinnehmen und sind bereit, für mehr zu kämpfen. Die Protestwelle der letzten Jahre in der Branche sowie mehrere Streiks im Februar/März 2020 unterstreichen das.

Personalknappheit, Druck und dauernde starke psychische Belastung prägen die Arbeitssituation. Die Tatsache, dass Viele hier arbeiten, weil sie anderen Menschen helfen wollen, wird ausgenutzt. Kolleg*innen arbeiten häufig mehr als gut für sie selbst ist, da sie wissen, dass die Leidtragenden die Patient*innen und Klient*innen sind. Der dauernde Geldmangel in der Branche führt dazu, dass all die guten Konzepte, die man in der Ausbildung lernt, mit Dienstantritt unmöglich werden. Die Menschenwürde der Beschäftigten sowie jene der zu betreuenden fällt dem Sparzwang zum Opfer.

Wer es sich irgendwie leisten kann, versucht oft sich in die Bildungskarenz zu flüchten oder bleibt länger in der Arbeitslosigkeit. Wer sich‘s nicht leisten kann, arbeitet bis er/sie selbst krank wird.

Denn der finanzielle Druck wird oft 1:1 an die Kolleg*innen weitergegeben. Ist eine Einrichtung einmal nicht zu 100% ausgelastet, reagieren die Träger häufig mit Kürzungen beim Personal. Steigt die Auslastung, steigt auch der Arbeitsdruck, weil nicht automatisch mehr Personal angestellt wird. Die Finanzierungen der privaten Träger durch die öffentliche Hand sind oft befristet, die Verlängerungen kommen oft viel zu spät. In Wien kann es schon mal geschehen, dass eine Finanzierungszusage des „Fond Soziales Wien - FSW“ (er wickelt die Finanzierung des Sozialbereichs) so spät kommt, dass die Kolleg*innen bereits gekündigt wurden. Kommt dann noch rechtzeitig vor Auslaufen eines Projektes eine neue Zusage (das Geld kommt oft noch später), wird die Kündigung zurückgenommen. Diese Situation erzeugt Stress und Unsicherheit.

Die ganze Situation mit Corona inklusive nötiger Schutzmaßnahmen (die oft nicht gegeben waren!) hat die Situation weiter verschärft. Das Budget ist wegen des größeren finanziellen Aufwandes (etwa für Masken, Desinfektion etc) überstrapaziert, andererseits bedeutet Erarbeiten und Umsetzen von Schutzmaßnahmen mehr Arbeit. Teams werden durch Sonderbetreuungszeiten, Freistellung von Risikogruppen, Home-Office usw. personell reduziert. Wer noch an der Dienststelle ist, muss noch mehr arbeiten. Der erhöhte psychische Stress, dem viele Klient*innen unter Corona ausgesetzt sind, bringt noch mehr Arbeit. Mit Corona sind Einsamkeit, Depressionen usw. weiter gestiegen, das kriegen z.B. die Kolleg*innen in der Hauskrankenpflege, die oft die einzigen Ansprechpersonen über Wochen sind, voll ab. Als ersten Schritt braucht es hier 20% mehr Personal, eine Arbeitszeitverkürzung auf 35 Stunden bei vollem Gehalt und Personalausgleich sowie eine Woche Corona-Sonderurlaub pro Monat Arbeit unter den verschärften Corona-Bedingungen. In der Branche gärt es weiter, neue Proteste könnten schneller kommen als der herrschenden Politik lieb ist.

 

Zahlen und Fakten zum Gesundheits- und Sozialbereich

  • In Österreich sind fast 1,5 Millionen Menschen armutsgefährdet, über 22.000 Menschen sind wohnungslos, die Jugendarbeitslosigkeit ist massiv angestiegen, psychische Erkrankungen nehmen dramatisch zu.

  • Der Sozial- und Gesundheitsbereich umfasst eine ganze Reihe von unterschiedlichen Arbeitsbereichen, Trägern und Vereinen: Von der Kranken- und Altenpflege, über Flüchtlingsbetreuung, Obdachlosenhilfe, Suchthilfe, Frauenhäusern bis hin zu Jugendzentren und Nachmittagsbetreuung für Kinder. 

  • Insgesamt arbeiten rund 400.000 Menschen in Österreich im Gesundheits- und Sozialbereich, damit handelt es sich um eine der beschäftigungsstärksten Branchen. Davon arbeiten 160.000 im privaten Gesundheits- und Sozialbereich, ein großer Teil davon sind religiöse Träger (wie z.B. Caritas und Diakonie, die trotz der reichen “Mütter” staatliche Gelder erhalten und schlecht bezahlen).

  • Die Gesundheitsausgaben beliefen sich 2019 auf 41,5 Millionen Euro, das sind nur knapp über 10% des BIP.

  • Der Bedarf an Personal, insbesondere an Pflegekräften, wächst immer mehr. Die Zahl der zusätzlich benötigten Pflegekräfte wird bis 2030 voraussichtlich auf über 75.000 steigen. 

  • Die schwarz-grüne Landesregierung in Vorarlberg will gerade in der Corona-Krise 5% im Sozialbereich und sogar 10% bei den Spitälern kürzen.

  • 2018 lag das Durchschnittseinkommen im Sozial- und Gesundheitsbereich bei nur knapp über 1.900 Euro netto.

  • Der Sozialbereich ist mit 78% die Branche mit dem höchsten Frauenanteil. Gleichzeitig verdienen sie in der Branche rund 13% weniger als Männer.

  • Nur 44% der Beschäftigten in dem Bereich arbeiten Vollzeit, 22% arbeiten weniger als 30 Stunden. 

  • Die Burnout-Quote im Gesundheits- und Sozialbereich ist enorm hoch. Laut einer Befragung der GPA djp haben rund 20% der Beschäftigung ein sehr hohes Risiko, ein Burnout-Syndrom zu entwickeln.

 

Der Sozial- und Gesundheitsbereich: zwischen Unterstützungs- und Repressionsinstrument

von Sarah Moayeri, Lehrerin

Wir brauchen Milliarden für einen öffentlichen, bedarfsorientierten Gesundheits- und Sozialbereich

Menschen waren zu jeder Zeit auf Hilfe und Unterstützung angewiesen. Die Frage nach der gesellschaftlich organisierten Hilfe für jene, die aus unterschiedlichen Gründen nicht ohne Hilfe im jeweiligen gesellschaftlichen System leben und am sozialen Leben teilhaben können, hat sich in allen Klassengesellschaften gestellt und war immer mit den jeweiligen ökonomischen und politischen Bedingungen verbunden. 

Der Ursprung der modernen Sozial- und Gesundheitsarbeit liegt in der Entwicklung der Armenhilfe/Armenpflege. Das Almosenwesen im Mittelalter basierte auf der religiösen Verpflichtung von Kirche und wohlhabenden Privatleuten, Hilfe zu leisten. In der feudalistischen Gesellschaft wurde im europäischen Raum das Klassenverhältnis ideologisch durch das Christentum gestützt. Die Armen boten dem Feudaladel die Möglichkeit, sich durch Almosen von Sünden freizukaufen. Private Stiftungen und freiwillige Zusammenschlüsse setzten diese Hilfe um. Die Beginen, ein Zusammenschluss frommer Frauen, gründeten beispielsweise Spitäler, pflegten kranke und alte Menschen und leisteten damit Armenhilfe.

Mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft kam es zur Gründung von sogenannten Armen- und Arbeitshäusern, die oft auch gleichzeitig Zuchthäuser waren. Ziel war nicht nur das “Wegsperren”, sondern auch eine Disziplinierung zur Arbeit. Arbeitsfähige Arme, Jugendliche und Kinder wurden an Betriebe vermietet. Die zahlreichen Waisenhäuser im 18. und 19. Jahrhundert waren auf ökonomischen Interessen begründet und sollten durch Strafe und Erziehung Kinder auf Lohnarbeit abrichten. Gleichzeitig gab es auch die ersten kommunalen Versuche, mit Armut systematisch umzugehen. Ein Beispiel dafür waren “Bettelordnungen”, die Bettler*innen zum Tragen von Kennzeichnungen nötigten. Das zeigt, dass sich auch ideologisch das Bild von Armut wandelte. Sie wurde nicht mehr als unveränderbarer Zustand, sondern in erster Linie als individuell verschuldet gesehen - daraus resultierte die Verpflichtung der Bedürftigen zur Arbeit. Das unsystematische Almosenwesen war unter den neuen wirtschaftlichen Bedingungen und mit der Entwicklung neuer Klassen kein geeignetes Mittel mehr, um der Masse von Bedürftigen begegnen zu können. Durch die Industrialisierung explodierten Elend und Armut. Die sich entwickelnde Arbeiter*innenbewegung basierte auf Solidarität und dem Kampf um einen staatlich organisierten Umgang damit (Versicherungen etc.). 

Gleichzeitig gab es zum Teil auch ein Interesse der Herrschenden an diesen ersten Elementen des “Sozialstaats”, wo es zur Stabilisierung half. Die Armenfürsorge wurde so aber auch zum Instrument zur Erziehung zur Arbeit und zur Reproduktion der Arbeitskraft des Proletariats (mehr dazu Marx aktuell).

Im Zuge der weitgehend hart durch die Arbeiter*innenbewegung erkämpften sozialen Verbesserungen fand auch eine Professionalisierung und Institutionalisierung des Bereichs statt. Mit dem Nachkriegsaufschwung und der Entwicklung des Sozialstaats unter dem Einfluss der Sozialpartnerschaft vollzog sich auch ein Ausbau der sozialen Versorgung, nicht ohne Druck der Arbeiter*innenbewegung. 

In den 60er und 70er Jahren entwickelten sich in Deutschland und Österreich - auch unter dem Einfluss der 68-er Bewegung - zunehmend kritische Tendenzen, auch in Abgrenzung zu den institutionalisierten Strukturen. Ein wichtiger Teil davon war das Streben nach Selbstorganisation der Klient*innen, unterstützt durch Sozialarbeiter*innen und Aktivist*innen. Beispiele dafür waren Jugendwohlkollektive, entstanden aus Revolten von Jugendlichen in den Heimen, Zusammenschlüsse wie das Sozialistische Patientenkollektiv, autonome Vereine etc. Die Pathologisierung von Klient*innen, Disziplinierungsmaßnahmen und andere repressive Elemente wurden zunehmend hinterfragt. 

Selbst reformistische Ansätze einer “kritischen sozialen Arbeit”, die gar nicht das Ziel der Systemüberwindung haben, sind seitdem aber auch stets in Widerspruch zu den gesellschaftlichen Verhältnissen und der Stellung des Gesundheits- und Sozialbereichs im neoliberalen Kapitalismus geraten. Die Auswirkungen des Neoliberalismus auf diese Bereiche umfassen Kürzungen und Angriffe auf Errungenschaften und Veränderungen der Arbeit selbst. Die Ökonomisierung des Sozial- und Gesundheitsbereichs bedeutet auch eine Zunahme von privaten, gewinnorientierten Trägern und Einrichtungen, die nach marktwirtschaftlichen Prinzipien agieren, aber auch öffentliche Einrichtungen müssen im Kapitalismus zumindest kostendeckend arbeiten. Die Öffnung gegenüber profitorientierten Unternehmen bedeutet einen zunehmenden Widerspruch zwischen dem Charakter der Arbeit und einem größeren wirtschaftlichen Druck. Die Entwicklung von immer mehr freien Trägern hat also einen widersprüchlichen Charakter. Autonome, nichtstaatliche Vereine sind einerseits Ausdruck fortschrittlicher Elemente, andererseits fällt diese Entwicklung auch zusammen mit den Auswirkungen neoliberaler Politik. 

Gerade der Gesundheitsbereich bewegt sich im Zusammenhang mit dieser Ökonomisierung im Widerspruch, größtmögliche Gesundheit zu gewährleisten und andererseits in möglichst wenig Zeit und möglichst ressourcenschonend Patient*innen zu versorgen. Diesen Widerspruch spüren Beschäftigte tagtäglich, wenn sie die Versorgung so wie es eigentlich notwendig wäre, nicht umsetzen können. Gleichzeitig hat Neoliberalismus und damit Sozialabbau auch bedeutet, dass der Druck für Beschäftigte im Gesundheits- und Sozialbereich durch die Zunahme an Bedarf, an Klient*innen, Patient*innen etc. gestiegen ist. Der gesamte Bereich bewegt sich im Kapitalismus im Spannungsfeld zwischen ihrem Disziplinierungs- und Integrationsauftrag für das System einerseits und der Durchsetzung sozialstaatlich erkämpfter Rechte für Klient*innen andererseits. Insbesondere in der Flüchtlings- und Jugendarbeit wird das Element der “Integration ins System” sehr deutlich. Im besten Fall ist der Sozialbereich im Rahmen des Kapitalismus Symptombekämpfung, im schlimmsten Fall ein “harmloses” Gesicht staatlicher Repression gegen die größten Verlierer*innen des Systems (Exekution der Kürzung von Sozialleistungen, Zusammenarbeit mit Polizei etc.).

Der Kapitalismus produziert immer Armut und Elend. Gerade in Krisenzeiten werden sozialstaatliche Errungenschaften, und damit eng verbunden der Gesundheits- und Sozialbereich, angegriffen. Die Herrschenden sind in der Krise auf der einen Seite aus rein finanziellen Gründen darauf angewiesen, bei Sozialem zu sparen, auf der anderen Seite können sie es sich auch immer weniger leisten, auf “unterstützende”, “friedliche” Sozialarbeit für das System statt auf direkte Repression zu setzen. Die Notwendigkeit von einem Ausbau des Gesundheits- und Sozialbereichs und einer bedarfsgerechten Ausfinanzierung ist heute mehr als offensichtlich. Die prekären Arbeitsbedingungen zeigen gleichzeitig, dass Staat und Kapital immer weniger zu einer Ausfinanzierung bereit bzw. in der Lage sind. Die Streik- und Kampfbereitschaft der Beschäftigten ist aber auch Ausdruck von dem Potential für Veränderungen: Um Verbesserungen zu erreichen, aber auch um die Grundlage der Notwendigkeit vieler Bereiche der Sozialen Arbeit zu überwinden, müssen wir uns als Beschäftigte zur Wehr setzen und auch für eine Überwindung des kapitalistischen Systems kämpfen.

 

Braucht der Kapitalismus den Gesundheits- und Sozialbereich?

von Till Ruster

Zu Arbeitsbeginn halbwegs gesund, erholt, gut ernährt und sauber sein: Das ist der Anspruch, den die Unternehmen an die Beschäftigten haben, damit sie ihre Arbeit leisten und Profite für sie erwirtschaften können. Die Arbeitsfähigkeit muss also nur soweit wie nötig vorhanden sein, das ist etwas ganz Anderes als das Erholungsbedürfnis... der Beschäftigten.

Die Arbeitskraft muss „wiederhergestellt“ werden, oder „reproduziert“, wie Marx das nennt. Das muss nach jedem Arbeitstag passieren, aber auch wenn Arbeitskraft durch Pension oder Tod entfällt. Kindererziehung und Bildung gehören also auch dazu. Marx schreibt dazu im Kapital Bd 1:

„Der Wert der Arbeitskraft schließt aber den Wert der Waren ein, welche zur Reproduktion des Arbeiters oder zur Fortpflanzung der Arbeiterklasse erheischt sind. Wenn also die naturwidrige Verlängerung des Arbeitstags (...) die Lebensperiode der einzelnen Arbeiter und damit die Dauer ihrer Arbeitskraft verkürzt, wird rascherer Ersatz der verschlissenen nötig, also das Eingehen größerer Verschleisskosten in die Reproduktion der Arbeitskraft, ganz wie der täglich zu reproduzierende Wertteil einer Maschine um so größer ist, je rascher sie verschleißt. Das Kapital scheint daher durch sein eigenes Interesse auf einen Normalarbeitstag hingewiesen.”

In der Geschichte des Kapitalismus wurden bestimmte Teile dieser „Reproduktionsarbeit“ professionalisiert. Zum Einen, weil die Arbeiter*innenbewegung hier wichtige Fortschritte zB bei Krankenversicherungen erkämpft hat. Aber auch, weil es unter bestimmten Bedingungen effizienter und damit billiger für die Kapitalist*innen war. Wenn zB ein Arbeitskräftemangel entsteht, lohnt es sich auch für das Kapital, über Pflegeheime oder Kindergärten „Haushaltsaufgaben“ zu kollektivieren und so vor allem Frauen für den Arbeitsmarkt „frei“ zu spielen. So entsteht ein Bereich der bezahlten Reproduktionsarbeit, obwohl der allergrößte Teil weiter unbezahlt und vor allem von Frauen erledigt wird. Der professionelle Gesundheits- und Sozialbereich ist aus Sicht von Arbeiter*innen und Frauenbewegung eine Errungenschaft, die es zu verteidigen und auszubauen gilt. Aus Sicht der Kapitalist*innen ist er ein notwendiges Übel, das möglichst auf ein Minimum beschränkt werden sollte und sehr abhängig ist von der allgemeinen wirtschaftlichen Lage.
Genau diesen Widerspruch hat Corona noch einmal deutlich gemacht: Kindergärten werden nicht wieder eröffnet, weil das für Kinder und Eltern das Beste ist, sondern weil die Arbeitskraft der Eltern sonst nur eingeschränkt zur Verfügung steht. So lange Viele in Kurzarbeit waren, blieben sie daher auch geschlossen. Mit steigenden Arbeitslosenzahlen kann sich das schnell ändern und zu (weiteren) Einsparungen bei u.a. Kindergärten führen.

Zur Vertiefung empfiehlt sich natürlich „Das Kapital“, in dem Marx sich ausführlich mit den Reproduktionskosten auseinandersetzt. Für den Einstieg ist es aber vielleicht besser, sich an die wesentlich kürzere Darstellung seiner ökonomischen Theorie in „Lohn, Preis und Profit“ von 1865 zu halten.

 

Beschäftigte auf den Barrikaden

von Moritz Erkl

Im Sozial- und Gesundheitsbereich gibt es immer mehr Proteste - und zwar international!

Wer Menschen pflegt und betreut, die von einem abhängig sind, tut sich mit dem Kämpfen schwer. Auf dieses hohe Verantwortungsgefühl haben die Herrschenden lange zählen können. Doch in den letzten Jahren ist die Stimmung gekippt. Die Selbstausbeutung im Pflege- und Sozialbereich ist in Wut und Widerstand umgeschlagen. 

Die chronische Unterfinanzierung des ganzen Bereichs ist durch Corona noch einmal deutlicher geworden. So sind z.B. die Gesundheitssysteme in Afrika derart unterfinanziert, dass auf 1.000 Einwohner*innen gerade einmal 2,2 Beschäftigte kommen – und nur 0,3 Ärzt*innen. Diese Situation – gepaart mit unzureichender Schutzausrüstung und mangelhaften Möglichkeiten, Corona-Tests durchzuführen – hat dem Kontinent bereits eine Million Corona-Infizierte beschert (ohne Dunkelziffer).

Doch wie auf jedem anderen Flecken der Erde beweisen die Kolleg*innen im Sozial- und Gesundheitsbereich Afrikas seit vielen Wochen, dass sie sich wehren müssen und können. Ärzt*innen und Pflegepersonal in Nigeria, Simbabwe, dem Kongo und Sierra Leone sind bereits Anfang Juli in den Streik getreten. Ihre Forderungen sind so simpel wie notwendig: Bessere Schutzausrüstung und bessere Bezahlung. Letzteres wird in Simbabwe in US-Dollar gefordert, da die rasante Inflation ansonsten jede Lohnerhöhung auffrisst.

Auch in Indien steht das Pflegepersonal an der Spitze des Widerstands. Die sogenannten „Ashas“ (akkreditierte Aktivist*innen für soziale Gesundheit) sind Mitte August in den Streik getreten. Sie können sich nicht darauf verlassen, dass ihre Löhne von gerade mal 22 €/Monat regelmäßig bezahlt werden - für pünktliche und mehr Bezahlung kämpfen sie.

In Israel wiederum sind die Pflegekräfte inzwischen den bereits seit Monaten immer wieder streikenden Sozialarbeiter*innen in den Arbeitskampf gefolgt. Ihre Wut entlädt sich nicht nur wegen der miesen Arbeitsbedingungen und dem mangelhaften Krisenmanagement der Regierung Netanjahu (Tage in Quarantäne werden als Krankentage berechnet), sondern richtet sich auch generell gegen die wirtschaftlich miese, im Kapitalismus jedoch normale Zukunftsperspektive. So hat die Arbeitslosigkeit in Israel mit 21% inzwischen ein Rekordhoch erklommen.

Das zeigt, dass sich der Widerstand für höhere Löhne oder bessere Arbeitsbedingung von anderen, auch politischen Forderungen nicht trennen lässt. In Weißrussland verarzten Ärzt*innen und Pfleger*innen die gefolterten Aktivist*innen im Protest gegen das Regime von Lukaschenko. 

Die Beschäftigten im Sozial- und Gesundheitsbereich haben nicht die selbe wirtschaftliche Macht wie ihre Kolleg*innen in der Industrie. Doch durch die zunehmende Privatisierung in diesem Bereich können sie mit Kampfmaßnahmen auch die Profite “ihrer” Kapitalist*innen bestreiken. Aber durch die Größe des Sektors und die Tatsache, dass jedeR irgendwas mit dem Bereich zu tun hat, als Patient*in/Klient*in, als Elternteil, als AngehörigeR etc. ist die Verankerung in der Bevölkerung sehr groß. In Kombination mit einerseits dem gesteigerten Selbstbewusstsein durch das Wissen um die Wichtigkeit der eigenen Arbeit und andererseits der Wut über die Missstände handelt es sich um einen Bereich mit hoher Sprengkraft. Viele junge Kolleg*innen, viele Frauen die auch über andere Fragen zunehmend politisiert sind, viele Menschen mit Migrationshintergrund - eine widerständige Beschäftigtengruppe ist hier entstanden.

Weltweit sind es Sozialarbeiter*innen, Pflegekräfte, Betreuer*innen und Ärzt*innen, die tagein, tagaus mit den Gräueln des barbarischen kapitalistischen Systems konfrontiert werden. Sie sollen für die Herrschenden und ihre Speichellecker*innen einen simplen Zweck erfüllen: Probleme verschleiern und optimalerweise Betroffene wieder fit machen für die kapitalistische Produktion. Doch diese emotional belastende Arbeit führt immer öfter nicht nur ins Burnout, sondern in den (internationalen) Widerstand. Manchmal findet der Widerspruch eine Vertretung in den offiziellen Gewerkschaften, oft ist es aber auch nötig, dass sich die Kolleg*innen selbst, in den Gewerkschaften oder sogar außerhalb, organisieren müssen, um kämpferisch ihre Interessen vertreten zu können.

Nicht umsonst ist die internationale Organisation, deren Mitglied die SLP in Österreich ist – Internationale Sozialistische Alternative – Teil dieser Proteste. Wir waren in Österreich an vorderster Front bei den Streiks Anfang des Jahres, mobilisieren in Belgien mit der Pfleger*innen-Organisation „Gesundheit im Kampf“ („La Santé en Lutte“) zu einer Großdemonstration im September oder gründeten in Russland eine „Virus-Gewerkschaft“, um für bessere Schutzmaßnahmen gegen Corona zu kämpfen. Wir sind Teil aller Proteste für unmittelbare Verbesserungen. Und wir zeigen auf, dass es keinen gesunden Kapitalismus gibt, sondern ein wirklich gutes Gesundheits- und Sozialsystem für Alle mit guten Arbeitsbedingungen im Widerspruch zur Profitlogik steht. 

All diese Beispiele zeigen gut, was wir – vor allem wenn wir uns in Gewerkschaften oder revolutionären Parteien organisieren – erreichen können. Die Corona-Pandemie ist genauso weltumspannend wie das System, in welchem wir leben – leisten wir gemeinsam international Widerstand dagegen.

 

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