Mo 09.10.2023
In den letzten 10 Jahren gab es weltweit 12 Putsche, 9 davon in oder unmittelbar um die afrikanische Sahelzone. Diese Welle begann vor allem durch den Militärputsch im Sudan, wo 2019 nach monatelangen Protesten Präsident al-Baschir gestürzt wurde. Getragen wurden die Proteste jedoch nicht durch das Militär, sondern durch die Bevölkerung - mit Massenstreiks und dem Aufbau von revolutionären Selbstverteidigungskomitees. Doch es gelang nicht, das System als Ganzes zu stürzen. Bereits 2021 kam es zu einem konterrevolutionären Militärputsch, aber auch großen Mobilisierungen, die das Ende der Militärmacht forderten.
Etwa ein Jahr davor, im Sommer 2020, fand in Mali ein erfolgreicher Coup d'état statt, bei dem ebenfalls eine militärische Führung die Macht übernahm. In den Nachbarländern Guinea und Tschad passiert dasselbe dann 2021. 2022 folgen dann gleich zwei Putsche in Burkina Faso, im Jänner und September - beide Male war die Unfähigkeit der Regierung, gegen dschihadistische Gruppen anzukämpfen, wichtiger Grund.
Dieses Jahr folgten (bisher) noch zwei weitere Coups, in Niger und Gabun. Diese beiden waren auch in unseren Medien etwas präsenter, unter anderem weil der immer noch enorme Einfluss der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich in der Region von Seiten der Putschenden unter Beschuss kam.
Generell ist es wichtig, all diese Ereignisse nicht unabhängig voneinander zu betrachten. Sie inspirieren einander und haben ähnliche Auslöser. Konflikte innerhalb der Region, in der weiterhin dschihadistische Kräfte Einfluss haben, systeminterne Probleme wie Korruption, die Klimakrise, die das Leben vieler Menschen immer stärker bedroht - aber auch die neokolonialen Bestrebungen Europas oder der globale Kampf zwischen China-Russland und USA-EU haben große Auswirkungen am afrikanischen Kontinent. So haben fast alle Putschist*innen Stellung zum Ukraine-Krieg bezogen und man sah auf den Straßen zum Teil Russlandflaggen - als vermeintlicher Protest gegen die EU und Neokolonialismus.
Der neue imperialistische "Wettlauf um Afrika" droht, die Sahelzone und den ganzen Kontinent in eine immer tiefere Spirale aus Gewalt und Armut zu stürzen. Wieso wir jetzt dieser Eskalation gegenüberstehen, und wie sozialistische Lösungen aussehen können, das diskutiert dieser Vorwärts-Schwerpunkt.
https://internationalsocialist.net/en/2018/12/sudan
https://internationalsocialist.net/en/2019/08/document
von Severin Berger
Françafrique: vom alten Kolonialismus zum neuen Kalten Krieg
Die jüngste Häufung von Militärputschen in der Sahelzone ist ein Ausdruck der Instabilität und herrschenden Unsicherheit in West- und Zentralafrika. Die Region ist geprägt von seiner kolonialen Vergangenheit und sich gegenseitig verstärkenden Krisen.
Der französische Kolonialismus war besonders brutal und die Abhängigkeit Zentral- und Westafrikas von Frankreich wird seit der Unabhängigkeit in neuem Gewand weitergeführt. Die Bezeichnung “Françafrique” beschreibt, wie es Frankreich nach Ende des Kolonialismus und dem Einsetzen der formalen Unabhängigkeit ab den 1960er Jahren gelungen ist, seinen Einfluss aufrechtzuerhalten. Um seine Interessen durchzusetzen, schreckte Frankreich in der Vergangenheit weder vor dem Einsatz von Söldnertruppen und Fremdenlegionär*innen zum Sturz von Regierungen, noch vor Bestechung oder anderen Mitteln zurück.
Zur Bedingung für die sogenannte “Unabhängigkeit” wurden verbindliche Handelsverträge, in denen Frankreich seine Vormachtstellung beim Zugriff auf Ressourcen wie Uran, Öl, Gold, usw. in Afrika sichert. Beispielsweise musste der Gabun sich dazu verpflichten, der französischen Armee bestimmte Rohstoffe zur Verfügung zu stellen; der Handel mit anderen Staaten damit wurde untersagt.
Besonders eindrücklich zeigt sich die Dominanz des französischen Neokolonialismus an der Schaffung der Währung CFA Franc 1945. Der Kurs orientiert sich am Euro und ermöglicht Frankreich den billigen Import afrikanischer Rohstoffe und einen begünstigten Export von Produkten in die 14 CFA-Staaten. 1994 beschloss Frankreich ohne Einbeziehung der betroffenen Staaten die Abwertung der Währung um 50%. Alle CFA-Staaten sind reich an natürlichen Rohstoffen - das in alten kolonialen Mustern eingebettete Währungssystem dient jedoch dazu, den afrikanischen Markt mit billigen ausländischen Produkten zu überschwemmen, während für lokale Produktion die Infrastruktur fehlt und Produkte teurer sind.
Von 2014 bis 2021 führte Frankreich mit Unterstützung von Deutschland, Kanada und dem Vereinigten Königreich die Militäroperation “Barkhane” in fünf Ländern der Sahelzone durch, um gegen dschihadistische Gruppierungen vorzugehen. Der Einsatz besonders in der Grenzregion von Burkina Faso und Niger führte zu weiteren Eskalationen, seit 2016 verfünffachten sich Bombenattacken und Anschläge. Bestehende Konflikte zwischen unterschiedlichen ethnischen Gruppierungen werden aufgeladen und verstärken das Klima der Gewalt. Klimawandel und Wüstenbildung verstärken den Druck auf die Ressourcen der Länder und führen zu Fluchtbewegungen. Imperialistische und nationale Militärs scheitern im Kampf gegen den Terrorismus, weil sie die Stärke des Dschihadismus auf ein rein militärisches Kräfteverhältnis reduzieren. ISIS, Al Quaida, Boko Haram und deren Ableger profitieren allerdings von der Perspektivlosigkeit und Armut und lassen sich nicht durch bloße militärische Stärke zurückdrängen. Als die Operation Barkhane scheiterte, blieben französische Truppen stationiert, um die Sicherung von Rohstoffen zu garantieren. Frankreich bezieht etwa ein Drittel seines benötigten Urans aus Niger, Europa ca. ein Viertel. Erst dieses Jahr haben die Regierung von Niger und der französische Atomkonzern Orano einen neuerlichen Vertrag zum Import von nigrischen Uran nach Frankreich unterzeichnet. Der jährliche Umsatz Oranos ist höher als das Budget, das dem Staat Niger jährlich zur Verfügung steht.
Der neue Wettlauf um Afrika
Nach dem Putsch in Niger haben tausende Menschen vor der französischen Botschaft für den Abzug der französischen Truppen demonstriert. In Mali und Burkina Faso konnten sie bereits zum Abzug gezwungen werden. Die französische Regierung sieht darin vordergründig den Erfolg pro-russischer Kampagnen in der Region und der westliche Imperialismus fürchtet um seinen Einfluss. Tatsächlich lässt die Schwäche des westlichen Imperialismus in der Region mehr Raum für Interventionen durch Russland und dessen Verbündete. Die Putschist*innen in Burkina Faso und Mali werden militärisch von der Söldnertruppe Wagner unterstützt, die es Russland in den letzten Jahren ermöglicht hat, zu diversen Ressourcenvorkommen zu kommen (z.B. Gold und Diamanten). Auch in der Zentralafrikanischen Republik setzt Wagner russische Interessen mit Waffengewalt durch. Die weitere Beziehung zwischen Russland und Wagner ist nach dem misslungenen Putschversuch noch unklar - anzunehmen ist jedoch, dass nach Prigozhins Ableben der Druck Russlands auf die Söldnertruppe, sich ihrem Geldgeber unterzuordnen, steigen wird. Beim Russland-Afrika-Gipfel kündigte Ibrahim Traore, der Chef der Militärregierung in Burkina Faso, eine Annäherung an Russland an. Er nimmt positiven Bezug auf die Rolle der Sowjetunion während der Dekolonialisierung, als sie im Kalten Krieg auf Bündnispartner angewiesen war.
Auch der chinesische Imperialismus hat großes Interesse an afrikanischen Rohstoffen. Mittlerweile haben 37 afrikanische Staaten und die Kommission der Afrikanischen Union Verträge mit China zum Aufbau der Neuen Seidenstraße unterzeichnet. Teile der chinesischen Industrie sollen künftig ausgelagert werden, um Lohnkosten zu sparen und gleichzeitig neue Absatzmärkte für chinesische Produkte entstehen. Bereits 2011 wurde China zum wichtigsten Handelspartner für den afrikanischen Kontinent und löste somit die USA ab. Die Sahelzone wird gerade zu einer neuen Front im Neuen Kalten Krieg, in dem imperialistische Mächte einen offenen Kampf um Ressourcen, Absatzmärkte usw. austragen.
Von der westafrikanischen Staatengemeinschaft ECOWAS verhängte Sanktionen gegen Niger führen bereits jetzt dazu, dass Lebensmittel und wichtige Güter nicht importiert werden können. Versorgungskrisen werden in Kauf genommen, laut UN würden aufgrund der Sanktionen schon jetzt 90.000 Kinder in Niger notwendige Lebensmittel nicht erhalten. Doch auch Güter auf dem Weg in andere Länder hängen an der Grenze fest. Auch bei einer militärischen Intervention ist klar, wer die Leidtragenden sein werden - Frauen, Arbeiter*innen, Bäuer*innen und ethnische Minderheiten. Niger war bis zum Putsch einer der letzten Bündnispartner für den westlichen Imperialismus mit wichtigen strategischen militärischen Stützpunkten im Land. Frankreich hat 1.500 Soldat*innen stationiert. Den von der Militärregierung angeordneten Abzug der Truppen lehnte Macron zunächst ab, Ende September versprach er jedoch widerwillig einen Abzug bis Ende des Jahres. Die ECOWAS und deren Verbündete des westlichen Imperialismus kündigten die Möglichkeit einer militärischen Intervention in Niger an, falls die Macht nicht wieder an die geputschte Regierung übergeben werden sollte. Frankreich stationiert bereits Truppen in Senegal, Benin und Côte d’Ivoire. Ein Stellvertreterkrieg in der Sahelzone zwischen dem westlichen Imperialismus und seinen Verbündeten in der ECOWAS auf der einen Seite und Niger, mit Mali und Burkina Faso, unterstützt von der Russland/Wagner und möglicherweise China auf der anderen Seite, ist möglich.
Niger, Mali, Burkina Faso, usw. zählen zu den ärmsten Ländern der Welt, sind aber extrem reich an natürlichen Rohstoffen, deren Profite aber nicht der arbeitenden Bevölkerung zugute kommen, sondern die Taschen einer kleinen Schicht an korrupten Staatschefs, imperialistischen Verbündeten und Konzernen füllen. Das Vorhaben der Militärs, den westlichen gegen den russischen Imperialismus auszutauschen, wird daran nichts ändern. Aufgrund der Abhängigkeit der imperialistischen Mächte von afrikanischen Ressourcen, Arbeitskräften, Absatzmärkten, usw. ist es zentral, die ausbeuterische Natur des Kapitalismus weltweit zu bekämpfen und eine sozialistische Systemalternative aufzuzeigen: Eine Gesellschaft, welche ihre Reichtümer demokratisch verwaltet und deren Produktion nicht nach Profitinteressen, sondern nach den Bedürfnissen von Mensch und Umwelt plant.
von Theresa Reimer
Marx aktuell: Permanente Revolution
Immer wieder wird in den Zeitungen diskutiert, warum es in vielen afrikanischen Staaten keine stabilen Demokratien nach westlichem Vorbild gibt. Dabei wird oft die Ansicht vertreten, die Menschen seien „zu dumm“ oder zu “zurückgeblieben“ für den Aufbau und Erhalt einer Demokratie. Noch perfider sind “malthusianische” Ansätze, die Probleme auf angebliche “Überbevölkerung” zurückführen. Die zynische Konsequenz wäre dann, Hungerleidende sterben zu lassen. Sieht man sich die Ausbeutung der afrikanischen Länder durch Kolonialismus und Imperialismus an, zeigt sich, wie menschenverachtend und falsch diese Haltung ist.
Doch wie lassen sich Diktaturen bekämpfen? Durch westliche Staaten keinesfalls. Zahlreiche europäische und amerikanische Großkonzerne schöpfen aus Afrikas Rohstoffen Profit und stecken sich diesen in die eigenen Taschen. Sie dulden jedes Regime, egal wie grausam es ist, solange ihr Einfluss erhalten bleibt. Die Interessen der afrikanischen herrschenden Klassen sind wiederum tief verflochten mit den imperialistischen Interessen - Ihre Macht besteht darin, Stellvertreter*innen der tatsächlich Mächtigen zu sein. Sie haben weder die Macht noch das Interesse, eine “unabhängige” bürgerliche Demokratie durchzusetzen. Somit ist es für den globalen Süden praktisch unmöglich, langfristig die wirtschaftliche Stabilität im Kapitalismus zu erlangen, welche die Basis für eine bürgerliche Demokratie darstellt. Diese Tatsache erkannte bereits Leo Trotzki im Zuge der russischen Revolutionen 1905 und 1917. Das war der Grund für die Entwicklung der Theorie der „Permanenten Revolution“, die besagt, dass es unter diesen Umständen direkt eine proletarische Revolution braucht, um demokratische Grundlagen zu etablieren. Der “Zwischenschritt” einer rein bürgerlich-demokratischen Revolution wird nicht funktionieren. Für echte Demokratie müssen die wirtschaftlichen Grundpfeiler global umgeworfen und im Zuge dessen eine sozialistische Rätedemokratie etabliert werden.
von Anna Hiermann
Revolutionäre Sozialist*innen gegen Putsch und Krieg
Der afrikanische Kontinent im Allgemeinen - und das nördliche sowie subsaharische Afrika im Besonderen - durchlebt seit mehr als einem Jahrzehnt eine immer intensiver werdende Periode von Revolution und Konterrevolution. In den letzten Jahren haben wir nicht nur die Massenbewegungen des “arabischen Frühlings” gesehen, die weit über den arabischen Raum hinausgingen und in der aktuellen Welle an neuen Protesten gegen Assad in Syrien wieder aufflammen. In Nigeria gibt es seit dem Generalstreik 2016 regelmäßig Wellen von Klassenkämpfen: Die Streikbewegung in Oyo 2016, die Streiks der Gesundheitsbeschäftigten in Nasarawa 2019 und während der Pandemie 2021, aber auch die von Black Lives Matter inspirierten und von Jugendlichen getragenen Massenproteste gegen Polizeibrutalität #endsars bzw. #endswat. Besonders sticht der Sudan hervor, in dem eine revolutionäre Massenbewegung 2019 das verhasste Regime von al-Bashir stürzte. Seither haben sich im Sudan tausende Selbstverteidigungskommittees gegründet, die Schutz vor militärischen Konflikten im Land und Versorgung mit Lebensmitteln, Strom und medizinischen Behandlungen organisieren. Gleichzeitig sind sie ein Ort, wo politische Diskussionen geführt und Forderungen entwickelt werden. Der Putsch von 2021 und die neuen blutigen Machtkämpfe zwischen Militär und RSF-Milizen konnten diese Strukturen und ihre Lehren nicht gänzlich auslöschen. Die Komitees haben noch immer das Potenzial, den Widerstand zu bündeln und die Bewegung der Arbeitenden und Jugendlichen wiederzubeleben, die für die demokratische Kontrolle und Verwaltung der Ressourcen durch die arbeitende Bevölkerung kämpft.
Die Arbeit der ISA in Nigeria und Cote d’Ivoire
Die Sektionen der ISA waren und sind Teil dieser Bewegungen und Kämpfe, auch unter den schwierigsten Umständen. Wir stellen uns gegen die Putsche, die letztlich nur eine Fraktion der Herrschenden und der mit ihr verbündeten Imperialist*innen gegen eine andere austauschen. So erklärt die ISA-Sektion in Cote d’Ivoire: “Die Erfahrung der Putsche in Mali und Burkina Faso zeigt bereits, dass die neuen Militärregime weder ein Programm noch eine echte Absicht haben, die tief verwurzelten Probleme anzugehen, die durch die private Aneignung und Plünderung der Ressourcen dieser Länder durch große Konzerne verursacht werden. In Mali hat das Militärregime streikende Arbeiter angegriffen. Die Spitzen dieser Regime, wie der neue Anführer der Junta in Niger, Abdourahamane Tiani, haben selbst jahrelang von diesem System profitiert”.
In Cote d’Ivoire, aber auch in Nigeria, mobilisieren wir gleichzeitig auch gegen die drohenden Militärinvasionen in Niger und gegen die Sanktionen der ECOWAS, die nur die unterdrückten Massen in den betroffenen Ländern treffen und ein Einfallstor für weitere imperialistische Aggression darstellen. Dabei rufen wir Arbeiter*innen und Gewerkschaften in der Sahelzone auf, Widerstand gegen eine militärische Intervention zu organisieren. In einem Statement schreibt Movement for a Socialist Alternative (MSA, ISA Nigeria): “Die MSA ruft die Gewerkschaften dazu auf, eine Kampagne gegen den Krieg und die Invasion der Republik Niger sowie gegen jegliche Art von Sanktionen, die sich negativ auf die arbeitenden Massen in Niger auswirken, zu führen.” In der ganzen Region existiert der Wunsch, die Fesseln des französischen Imperialismus und seiner Verbündeten zu sprengen - aber auch die Gefahr, dabei nur unter das Joch des russischen oder chinesischen Imperialismus zu fallen. Dagegen hilft nur die internationale, sozialistische Solidarität von unten. Darum schließt der Aufruf der MSA: “Die Aufgabe der arbeitenden Massen in der Sahelregion, in Nigeria und tatsächlich in ganz Afrika besteht darin, entschlossen in die Arena des Kampfes zu treten, um eine Revolution herbeizuführen. Eine sozialistische Revolution würde die entscheidenden Sektoren der Wirtschaft unter demokratischer Kontrolle und Management der arbeitenden Massen verstaatlichen und ein Parlament gewählter Arbeiter*innen, armer Bäuer*innen und einfacher Soldat*innen einführen.”
von Yasmin Morag