VORWÄRTS-Schwerpunkt: 150 Jahre Alexandra Kollontai

“Ich bin nicht die Frau für dich, denn ich bin zuerst ein Mensch und dann eine Frau.”

Alexandra Kollontai, geboren am 31. März 1872 in St. Petersburg/Russland, war wohl die bekannteste Frau unter den russischen Revolutionär*innen. Sie war die erste Frau, die als vollwertiges Mitglied ins Zentralkomitee der Bolschewiki und nach der Oktoberrevolution 1917 zur “Ministerin” gewählt wurde. Die zentralen Anliegen für Kollontai waren dabei Fragen, die sich damit beschäftigten, wie Frauen aus der Arbeiter*innenklasse in den Kampf für eine Veränderung der Gesellschaft miteinbezogen werden können, welche Rolle dabei die revolutionäre Partei spielt und wie geschlechtsspezifische Unterdrückung in einer neuen, gleichberechtigten Gesellschaft aufgelöst werden kann. Kollontai brach dafür nicht nur mit ihrem bürgerlichen Klassenhintergrund, sondern auch mit den Erwartungen, die an Frauen in der kapitalistischen Gesellschaft herangetragen wurden.

Kollontai selbst beschrieb als einen entscheidenden Punkt ihrer Politisierung den Besuch in einer Textilfabrik 1895. Die Bedingungen, die sie dort sah, waren fatal. Arbeiter*innen, die täglich 12-18 Stunden am Tag schufteten, viele von ihnen so ausgehungert, dass sie nicht älter als 30 Jahre wurden. Gleichzeitig aber entwickelten sich zu der Zeit viele Revolten von Frauen aus der Arbeiter*innenklasse. So streikten im selben Jahr mehrere tausend Frauen in einer Zigarettenfabrik in St. Petersburg gegen sexuelle Übergriffe durch ihre Chefs. 1903 schloss Kolontai sich der marxistischen “Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei” (RSDLP) an. Eines der Hauptanliegen von Kollontai war, das Bewusstsein der arbeitenden Frauen zu stärken und die Mehrfachbelastung, der sie durch Haushalt, Kindererziehung und Lohnarbeit ausgesetzt waren, und die sie an der Teilnahme an politischer Arbeit abhielt, abzuschaffen.

Bürgerliche Feminist*innen zu der Zeit behaupteten, dass sie für die Rechte aller Frauen unabhängig ihrer Klassenzugehörigkeit kämpften und dass Gleichberechtigung für Frauen innerhalb des kapitalistischen Systems erlangt werden könne. Dies stand im Gegensatz zur Realität und zur Position der RSDLP, die vertrat, dass die Befreiung der Frauen nur durch einen grundlegenden wirtschaftlichen und sozialen Wandel möglich sei, der die Abschaffung des Privateigentums und die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft einschließt. 

Nach dem Studium in Zürich war Kollontai 1908 anlässlich eines Frauenkongresses nach Russland zurückgekehrt und die Rede, die sie dort hielt, war so gewagt, dass die im Saal anwesende Geheimpolizei sie sofort in Haft nehmen wollte. In letzter Minute konnte sich Kollontai der Verhaftung entziehen und landete in Deutschland. Die Reichstagsfraktion der SPD trug aber 1914 den Kriegskurs der eigenen Regierung mit - die 2. Internationale zerfiel. Kollontai organisierte daraufhin in Deutschland Antikriegs-Treffen für Arbeiter*innen. Sie war damit im Visier der Polizei, die sie nach Russland abschieben wollte, wo ihr Haft und Repression drohten. Durch Karl Liebknechts Intervention war es ihr möglich, nach Norwegen auszureisen. Dort schloss sie sich der Opposition zum Kriegskurs der Sozialdemokratie an und baute sie mit auf.

Nach der Februarrevolution 1917 kam Kollontai sofort nach Petrograd, unterstütze in Folge die “Aprilthesen” von Lenin, die den Sturz der provisorischen Regierung forderten, sich klar gegen den imperialistischen Krieg positionierten und sich für eine Machtergreifung durch Arbeiter*innen- und Bäuer*innenräte aussprachen. Nachdem der Zar schon im Februar gestürzt worden war, gelang im Oktober 1917 die siegreiche proletarische Revolution. Kollontai wurde Teil der ersten Sowjetregierung, wo sie für die soziale Wohlfahrt zuständig war. Die Verbesserungen für Frauen, die durch die Revolution und ihr Amt erkämpft wurden, waren enorm.

Nach dem Tod von Lenin und dem Aufstieg Stalins schloss sich Kollontai zunächst der “Arbeiteropposition” an und veröffentlichte Schriften für diese Fraktion der Bolschewiki. Ab 1927 jedoch, als sich angesichts von Bürgerkrieg, Mangel und Isolation der Sowjetunion der bürokratische Flügel durchsetzte, Revolutionäre wie Trotzki ins Exil verbannt bzw. ermordet wurden und Stalin die “Linke Opposition” innerhalb der Partei zerschlug, war Kollontai mehr Teil des Regimes als der Opposition. Sie beugte sich dem Terror. Das führte dazu, dass viele Errungenschaften wie das Scheidungsrecht erschwert oder das Recht auf Abtreibung abgeschafft wurden und das “traditionelle” Familienbild wieder propagiert wurde. Auch die Frauenabteilung im Zentralkomitee der Bolschewiki wurde durch Stalin aufgelöst. Anders als Revolutionäre wie Zetkin und Trotzki, die öffentlich gegen die Repression des Stalin-Regimes protestierten, sah Kollontai untätig zu, als die Parteibürokratie rund um Stalin die Errungenschaften der Oktoberrevolution zerstörte. Trotz dessen, dass sie sich letztlich mit dem Stalinismus arrangierte, schmälert dies nicht Kollontais enorme Bedeutung und Rolle für die Russische Revolution und die internationale proletarische Frauenbewegung.

Kajal

 

Zahlen und Fakten: die Russische Revolution und Frauenbefreiung

  • Das vor 1917 erzkonservative Land führte unmittelbar nach der Revolution das Frauenwahlrecht ein - als einer der ersten Staaten weltweit.
  • Gleicher Lohn für gleiche Arbeit wurde festgelegt, Frauen stand 16 bzw. 12 Wochen bezahlter Mutterschutz zu und für stillende Frauen wurde die Arbeitswoche auf vier Werktage reduziert.
  • Die neuen Ehegesetze waren vollständig säkular, Scheidung beschränkte sich auf eine einseitige Erklärung. 1918 gab es in Moskau 7.000 Scheidungen im Vergleich zu nur 6.000 Eheschließungen.
  • Schwangerschaftsabbrüche wurden legalisiert (als erstes Land der Welt!) und konnten kostenlos vorgenommen werden.
  • Homosexualität wurde entkriminalisiert, 1922 alle homophoben Gesetze aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. Die gleichgeschlechtliche Ehe war legal und 1926 wurde auch die Änderung des Geschlechts in den Reisepässen legal. 
  • Inter- und transsexuelle Menschen erhielten medizinische Versorgung und wurden nicht verteufelt. Die Forschung zu diesen Themen wurde staatlich finanziert, und Operationen zur Geschlechtsumwandlung auf Wunsch der Patient*innen genehmigt.
  • Die Bolschewiki begannen mit der Umsetzung von Plänen für ein System der sozialen Fürsorge, das Entbindungshäuser, Kliniken, Schulen, Kinderkrippen und Kindergärten, Speisesäle und Wäschereien umfasste.
  • Prostitution wurde 1922 bewusst entkriminalisiert, aber Zuhälterei verboten. Es wurden Kliniken eröffnet, die Frauen mit Geschlechtskrankheiten behandelten und Sexualerziehung und Berufsausbildung anboten.
  • Im Gesetz wurden Sexualverbrechen als "Verletzung der Gesundheit, Freiheit und Würde" des Opfers verankert. Vergewaltigung wurde gesetzlich definiert als "nicht einvernehmlicher Geschlechtsverkehr unter Anwendung physischer oder psychischer Gewalt”.
  • Nicht alles, was auf dem Papier beschlossen wurde, konnte auch umgesetzt werden. Oft fehlten Mittel und Fachkräfte, Russland war geprägt von rückschrittlichen Ideen und reaktionären Einflüssen. Oft kamen die Bolschewiki angesichts der objektiven Situation und des Bewusstseins der breiten Bevölkerung auch an die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Später wurden viele dieser Fortschritte unter der stalinistischen Bürokratie zurückgenommen.

 

Ohne Sozialismus keine Befreiung der Frau, ohne Befreiung der Frau kein Sozialismus

Die Revolution zeigte, wie die unterdrücktesten Arbeiter*innen an der Spitze des Kampfes stehen. Kollontai forderte spezielle Agitation unter Arbeiterinnen, um sie für den Sozialismus zu gewinnen.

Eine Revolution ist so lange undenkbar, bis sie stattfindet, dann gilt sie als unausweichlich, schrieb schon Rosa Luxemburg. Dasselbe galt für die Russische Revolution, in der Frauen eine zentrale Rolle spielten. Russland war vor der Revolution 1917 ein rückständiges Land. Frauen machten zwar einen immer größeren Anteil der Arbeiter*innenklasse aus, verdienten aber deutlich weniger als Männer, arbeiteten in den am wenigsten qualifizierten Berufen, waren mit Schwangerschaft, Kindererziehung und Hausarbeit neben dem Beruf mehrfach belastet, von Bildung weitestgehend ausgeschlossen und per Gesetz ihrem Ehemann unterstellt.

1905 machten Frauen fast 40 % der russischen Beschäftigten aus, der Anteil stieg im Zuge des 1. Weltkriegs. Frauen galten aber im Allgemeinen, auch bei den Revolutionär*innen, als "rückständig", was ihr Bewusstsein betraf. Kollontai schrieb: „Die arbeitenden Frauen gehen dem Leben und dem Kampf aus dem Weg, weil sie glaubten, ihr Schicksal sei der Kochtopf, der Waschzuber und die Wiege".

Bereits 1903 nahm die RSDLP die Gleichstellung der Geschlechter in ihr Programm auf. Sie fordert u.a. 10 Wochen Mutterschaftsurlaub, Betreuung vor und nach der Geburt sowie die Einrichtung von Kinderkrippen. Es wurde jedoch kaum systematisch daran gearbeitet, diese Forderungen mit den Frauen am Arbeitsplatz zu verbinden. Dies änderte sich mit der Streikwelle 1905, Arbeiterinnen begannen das traditionelle Bild abzulegen und sich zu organisieren. So beteiligten sich 11.000 Textilarbeiterinnen an einem der längsten Streiks. In den Streiks wurden auch bezahlter Mutterschaftsurlaub, Freistellung zum Stillen und betriebliche Kinderkrippen gefordert.

In ihrer Geschichte der Bewegung der Arbeiterinnen in Russland schrieb Kollontai 1920: „…je aktiver sie wurde, desto schneller vollzog sich der Prozess ihres geistigen Erwachens. Die Arbeiterin begann, die Welt um sich herum wahrzunehmen, die Ungerechtigkeiten des kapitalistischen Systems. Sie wird sich der Bitterkeit all ihrer Leiden und Sorgen immer schmerzhafter und schärfer bewusst. Neben den allgemeinen proletarischen Forderungen hört man immer deutlicher die Stimmen der Frauen der Arbeiterklasse, die an die Bedürfnisse und Forderungen der Arbeiterinnen erinnern.”

Durch die Ereignisse von 1905 politisierten sich viele Frauen und schlossen sich auch der Bolschewistischen Partei an. Die Revolution von 1905 hinterließ ihr ein Netzwerk engagierter Aktivistinnen in einigen der riesigen Fabriken von St. Petersburg. Es entstand auch eine bürgerliche Frauenbewegung an der Seite der entstehenden bürgerlichen Parteien. Kollontai war eine der Ersten, die die Gefahren des bürgerlichen Feminismus, der im kapitalistischen System verhaftet bleibt, erkannte. Gleichzeitig fanden die bürgerlich-feministischen Ideen allmählich ein gewisses Echo bei Arbeiterinnen, weil sie auf ihre Bedürfnisse einzugehen schienen.

In der Praxis hatten die bürgerlichen Feministinnen oft wenig Verständnis oder Willen, die Probleme der arbeitenden Frauen anzusprechen. Ihre Forderungen nach demokratischen Rechten griffen zu kurz - Sozialist*innen erkannten, dass beispielsweise das reine Frauenwahlrecht nicht ausreicht, wenn Frauen und die gesamte Arbeiter*innenklasse weiterhin unter Armut, Hunger und Elend leiden. Kollontai leistete Pionierarbeit mit einer Taktik, bürgerliche Feministinnen auf Versammlungen in die Zange zu nehmen, um Forderungen zu stellen, die das Leben der arbeitenden Frauen verbessern sollten und denen die bürgerlichen Feministinnen kaum zustimmen konnten, da sie ihren eigenen Klasseninteressen widersprachen - so wurde deutlich, wo die Gemeinsamkeiten und wo die Unterschiede lagen. In den Wochen vor dem russischen Frauenkongress 1908 organisierte Kollontai arbeitende Frauen, um ihre Forderungen nach sozialen Reformen vorzubringen und innerhalb der feministischen Bewegung für Sozialismus zu organisieren.

Alexandra Kollontai erkannte, dass ein Wettstreit zwischen Feminismus und Sozialismus um die Organisierung der politisierten Arbeiter*innen entstand. Feministische Bewegungen in ganz Europa versuchten, alle Frauen, unabhängig von ihrer sozialen Klasse zu vereinen, um für ihre politischen Rechte zu kämpfen, anstatt sich gegen das System, das sie unterdrückte zu wenden. Kollontai betonte, dass die Partei auf die besonderen Probleme der Frauen eingehen muss, wenn sie sie für die Ideen des Sozialismus und gegen die falschen Versprechungen des bürgerlichen Feminismus gewinnen will.

Kollontai forderte die RSDLP auf, spezielle Propaganda für die Frauen der Arbeiter*innenklasse zu entwickeln und sich für Reformen einzusetzen, die ihnen direkt zugutekommen. Sie sprach sich auch für die Einrichtung eines Frauenbüros unter der allgemeinen Leitung und dem Programm der Partei aus, das die Arbeit unter Frauen organisieren und die Gewinnung und Integration von Frauen aus der Arbeiter*innenklasse in die Partei erleichtern sollte. Hieraus entstand nach der Revolution 1917 das Frauenbüro, Zhenotdel - eine große Struktur mit vielen Aktivist*innen.

Viele Parteimitglieder lehnten nicht nur die Idee eines Frauenbüros ab, sondern auch Propaganda oder Kampagnen, die sich speziell an arbeitende Frauen richteten. Kollontai stimmte zu, dass die Einheit der Arbeiter*innenklasse unerlässlich sei, argumentierte jedoch, dass sie nicht verwirklicht werden könne, ohne die spezifische Unterdrückung von Frauen zu thematisieren. Sie wandte sich energisch gegen diejenigen, die behaupteten, Frauen bräuchten keine "spezielle Aufmerksamkeit” und würden sich automatisch der allgemeinen Bewegung anschließen. Sie wandte sich auch gegen diejenigen (darunter viele weibliche Mitglieder), die die Arbeit unter Frauen für unwichtig, zweitrangig, eine Verschwendung von Ressourcen oder eine Ablenkung vom allgemeinen Klassenkampf hielten.

Nur durch eine systematische, bewusste und organisierte Kampagnenarbeit könne die Beteiligung von Frauen aus der Arbeiter*innenklasse in der Partei und somit dem Kampf zur Umgestaltung der Gesellschaft geschehen. Der Kampf für die Befreiung der Frau wurde damit an zwei Fronten geführt, einerseits innerparteilich, um die Wichtigkeit der Organisierung von Frauen in eigenen Kampagnen und Material widerzuspiegeln und gleichzeitig innerhalb der Frauenbewegung, um Frauen für Sozialismus und den geeinten Kampf der Arbeiter*innenklasse zu gewinnen.

Alexandra Kollontais politische Geschichte ist bestimmt nicht unumstritten, vor allem ab dem Übergang zum Stalinismus. Aber was sie unzweifelhaft erkannte, wohl auch aus ihrer eigenen Politisierung heraus, ist, dass politisches Bewusstsein und Radikalisierung vor allem eines sind: Ein Prozess. Ein Prozess, der keineswegs linear verläuft, sondern sich auch in Sprüngen entwickelt, wie beispielsweise nach der Streikwelle 1905. Es war essentiell, zu erkennen, welche zentrale Rolle der Kampf um die Befreiung der Frau im Kampf um eine geeinte Arbeiter*innenklasse spielen musste. Es reichte nicht, „Sozialismus“ und „sind eh mitgemeint“ zu hämmern, das gilt auch für heute. Die Strategie der Bolschewiki zur Organisierung arbeitender Frauen mittels eigenem Material und einem eigenen Frauenbüro - aber im Rahmen der revolutionären Partei - war und ist unerlässlich.

Martina Gergits

 

Marx Aktuell: Prostitution und die Klassengesellschaft

Eines der Themen, denen sich Kollontai widmete, war Prostitution. Zu ihren Lebzeiten waren viele Frauen gezwungen, ihren Körper zu verkaufen, um ihre Familien zu ernähren. Die sozialistische Revolution hatte die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen verbessert, doch Prostitution war noch nicht verschwunden. Im Kapitalismus ist Prostitution das Ergebnis von Ungleichheit und Armut, die der Klassengesellschaft eigen sind. Die bürgerliche Moral verurteilt die Prostitution nicht, weil sie die Frauen gefährdet oder weil sie den Sexismus verewigt, sondern weil sie augenscheinlich der monogamen Ordnung widerspricht. Wie schon Marx und Engels erklärt auch Kollontai, dass eine Ehe, in der eine Frau finanziell von ihrem Partner abhängig ist, sich nicht wesentlich von der Prostitution unterscheidet, da beide Beziehungen auf materiellem Tausch beruhen.

Die Bolschewiki entkriminalisierten Prostitution nach der Revolution rasch, wobei sie auch versuchten, die Frauen von dem Stigma zu befreien. Kollontai vertrat die Ansicht, dass Prostitution Ungleichheit hervorruft und die Solidarität innerhalb der Arbeiter*innenklasse bedroht: Ein Mann, der den Körper einer Frau kauft, denkt schlechter von allen Frauen. Kollontai und die Bolschewiki arbeiteten daran, im gesamten Arbeiter*innenstaat Programme zur Unterstützung von Frauen einzurichten, die aus der Prostitution aussteigen wollten, einschließlich Wohnungen und Berufsausbildung. Kollontai wies darauf hin, dass zwar einige Faktoren, die zur Prostitution beitragen im Arbeiter*innenstaat abgeschafft wurden, andere jedoch weiterhin bestehen. Sie verwies auf Obdachlosigkeit, Vernachlässigung, schlechte Wohnverhältnisse, Einsamkeit und niedrige Löhne - die Bolschewiki arbeiteten daran, diese Faktoren zu beseitigen, was angesichts der objektiven Lage (Krieg, Bürgerkrieg, Isolation der Revolution) nicht von heute auf morgen möglich war. Kollontai war der Ansicht: Um freie Entfaltung von Liebe und Sexualität zu erreichen, ist die Verbesserung der materiellen Bedingungen unabdingbar, aber sie reicht nicht aus, es muss eine neue Moral gefördert werden. Sie plädierte für Sexualerziehung in den Schulen und für Diskussionen über Ehe, Familie und die Geschichte der Beziehungen zwischen den Geschlechtern. Obwohl Prostitution später unter Stalin kriminalisiert wurde, hatten die Bolschewiki einen nüchternen Klassenansatz gegenüber der Prostitution - sie erkannten ihre materiellen Ursachen und arbeiteten daran, sie zu beseitigen, und wiesen auf die Notwendigkeit hin, sexistische und vorurteilsbehaftete Wahrnehmungen, die aus der bürgerlichen Moral stammen, zu verlernen und eine neue Moral für eine gleichberechtigte, sozialistische Gesellschaft zu schaffen.

Lesetipp: “Prostitution und Wege, sie zu bekämpfen” von Alexandra Kollontai, Rede auf der dritten gesamtrussischen Konferenz der Leiterinnen der regionalen Frauenabteilungen, aus dem Jahr 1921 (https://www.marxists.org/archive/kollonta/1921/prostitution.htm)

Yasmin Morag

 

Wie eine proletarische Frauenbewegung aufbauen?

Wir brauchen einen Feminismus der Arbeiter*innenklasse statt mehr Frauen in den Chefetagen.

Die Geschichte der Russischen Revolution und Kollontais Rolle kann uns dabei helfen, zu verstehen, welche Aufgaben heute vor uns liegen im Kampf gegen Sexismus, Gewalt an Frauen und jede Form von Unterdrückung. In den letzten Jahren haben wir eine neue Welle von feministischen (Massen)bewegungen in verschiedenen Teilen der Welt gesehen. Einige dieser Bewegungen haben auch Erfolge erringen können - wie der Kampf um das Recht auf Schwangerschaftsabbruch in Argentinien oder Irland. Aber egal welche Verbesserungen wir erkämpfen - innerhalb dieses System können sie uns jederzeit wieder genommen werden. Die Geschichte der Russischen Revolution zeigt, dass der Kampf gegen die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern untrennbar mit dem Kampf gegen das kapitalistische System verbunden ist. Das gilt heute genauso wie zu Kollontais Zeit. Kollontai und die Bolschewiki handelten auf der Basis der Analyse, dass die Klassengesellschaft die systematische Unterdrückung der Frauen braucht: Ihre Rolle in der Ehe und Familie, um unbezahlte Haus- und Pflegearbeit zu leisten und damit doppelt ausgebeutet zu werden. Sie wussten, dass nur in einer sozialistischen Gesellschaft, in der die Wirtschaft demokratisch organisiert und geplant wird, eine Emanzipation der Frauen überhaupt erst möglich wird. Wir sehen heute, wie abhängig der globale Kapitalismus von der bezahlten und unbezahlten Arbeit von Frauen ist. Sexismus und Gewalt sind integraler Bestandteil dieses Systems, das Gewalt, veraltete Rollenbilder und die Objektifizierung von Frauen in vielerlei Hinsicht reproduziert. 

Kollontais enorme Leistung als Revolutionärin bestand darin, die zentrale Rolle der Arbeiter*innenklasse im Kampf gegen die Unterdrückung der Frau und andersherum, die zentrale Rolle des weiblichen Teils der Arbeiter*innenklasse im Kampf für den Sozialismus zu erkennen und daraus praktische Schlussfolgerungen zu ziehen. Sie leistete einen entscheidenden Beitrag zur Verankerung der Partei der Bolschewiki unter Arbeiterinnen, was eine der Voraussetzungen für die erfolgreiche Revolution 1917 unter ihrer Führung war. Kollontai befürwortete keine separaten Organisationen, nur für Frauen, da sie davon ausging, dass die Emanzipation der arbeitenden Frauen nur zusammen mit der übrigen Arbeiter*innenklasse möglich sein würde. Sie hatte Vertrauen darin, dass der gemeinsame Kampf Spaltungen zwischen den Geschlechtern zurückdrängen würde. Dennoch betonte sie die Notwendigkeit konkreter Maßnahmen zur Gewinnung von Frauen aus der Arbeiter*innenklasse für den revolutionären Kampf.

Kollontai setzte sich vor, während und nach der Revolution unermüdlich für die Rechte der arbeitenden Frauen, für deren praktische Organisation und deren Beteiligung am Aufbau der neuen sozialistischen Gesellschaft ein. Gemeinsam mit anderen Bolschewiki gelang es ihr, durch den aus der Revolution hervorgegangenen neuen Staat soziale Fortschritte im Interesse der Frauen umzusetzen. Sie wusste aber auch, dass es für ein Ende von Frauenunterdrückung und die jahrhundertelang gewachsenen reaktionären Rollenbilder mehr brauchte. Natürlich konnte all das nicht von heute auf morgen beseitigt werden. Die soziale Basis für Emanzipation wurde mit der Revolution gelegt, doch nicht umsonst kämpfte Kollontai auch für eine Umwälzung der bestehenden Moralvorstellungen. Die Basis war geschaffen - doch tief verwurzelte Ideen verschwinden nicht auf einen Schlag. Das gilt auch heute. Als Sozialist*innen müssen wir an der vordersten Front in diesem Kampf stehen und ihn stets mit einer Perspektive für eine grundlegende Umwälzung der Gesellschaft verbinden. UND es braucht auch schon heute einen bewussten Kampf gegen jede Form von Sexismus, Rassismus, LGBTQI+ Feindlichkeit und Diskriminierung - ob am Arbeitsplatz, in der Schule oder anderswo.

Für den Aufbau einer proletarischen, sozialistisch-feministischen Bewegung heute brauchen wir Klarheit darüber, dass es innerhalb des kapitalistischen Systems keine Emanzipation geben kann. Viele Menschen bezeichnen sich heute als “Feminist*innen”, viele Marken und Konzerne haben dieses Label für sich entdeckt und vermarkten es unermüdlich. Das ist Ausdruck einer veränderten Stimmung innerhalb der Gesellschaft, befeuert durch die zahlreichen feministischen Kämpfe der letzten Jahre. Doch der Feminismus, der von den Herrschenden und Regierenden genutzt wird, hat uns nichts zu bieten: Er verspricht uns angebliche Befreiung in einem System, das auf Ungleichheit und Unfreiheit basiert. Kollontai und andere Sozialist*innen haben stets gegen den bürgerlichen Feminismus gekämpft, weil sie wussten, dass er Augenauswischerei ist. Stattdessen muss sich ein sozialistischer Feminismus daran orientieren, was im Interesse der Arbeiter*innenklasse ist und eine klare Grenze ziehen zu den Interessen der Reichen und Mächtigen, egal welches Geschlecht diese haben. Wir müssen innerhalb der Arbeiter*innenbewegung und der Gewerkschaften um einen kämpferischen Kurs gegen Sexismus und Ungleichheit kämpfen und eine Bewegung aufbauen, die nicht nur an der Oberfläche kratzt, sondern den Kampf gegen das gesamte kapitalistische System aufnimmt.

Sarah Moayeri

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