Do 19.03.2009
„Wir zahlen nicht für Eure Krise“, das war der Schlachtruf der italienischen Bildungs-Streikenden im Herbst letzten Jahres. Die gleiche Losung wurde im Februar in Irland laut, als 120.000 Menschen gegen eine „Pensionsabgabe“ protestierten. Und es ist auch das Motto der beiden überregionalen Demonstrationen in Deutschland am 28. März.
Die globale Wirtschaftskrise hat gerade erst begonnen und wird keineswegs, wie Regierungen und Unternehmer noch kürzlich behaupteten, in diesem Sommer von einem neuen Aufschwung abgelöst werden. Mittlerweile erwartet auch die Europäische Kommission frühestens 2010 eine ökonomische Erholung. In Osteuropa musste die Europäische Union soeben einspringen, um – nach Ungarn und Lettland - mit Rumänien bereits zum dritten Mal eine Staatspleite, zumindest vorläufig, zu vereiteln.
Es ist alles andere als ausgemacht, dass die Arbeiterbewegung auf dem europäischen Kontinent, die älteste und traditionsreichste Arbeiterbewegung auf diesem Planeten, ihren Widerstand geradlinig steigern wird. Der Rechtsruck der Gewerkschaftsführung und das Fehlen von Arbeiterparteien in den meisten Ländern erschwert die Gegenwehr. Es sticht aber hervor, dass schon am Beginn der Krise in Frankreich, Italien, Deutschland, Irland, Griechenland, Island, Lettland und anderswo gegen die Auswirkungen der Misere über vereinzelte Protestaktionen hinausgehend Demonstrationen und Streiks stattfinden. Überall existiert ein tief sitzender Hass gegen das Establishment. Es gibt kein Vertrauen, dass „die da oben“ im Interesse der großen Mehrheit handeln. Mit Island und Lettland sind bereits in zwei Ländern Regierungen zu Fall gebracht worden; in Griechenland und anderen Staaten mussten einzelne Minister ihren Hut nehmen. Die ungarische Regierung ist ebenfalls stark angeschlagen.
Gerade Silvio Berlusconi und Nicolas Sarkozy, die Regierungschefs von Italien und Frankreich - beide bisher dafür bekannt, keine Konflikte mit ArbeiterInnen und Jugendlichen zu scheuen -, sahen sich in den vergangenen Wochen zu Zugeständnissen gezwungen. Sarkozys Redenschreiber, Henri Guaino, mutmaßte im Januar in einem Interview, dass Frankreich vor einer „Revolte der breiten Massen“ steht. Im Guardian meinte David Gow am 1. Januar: „Bei dem politischen Führungspersonal macht sich Angst breit, dass Studenten und andere die bestehende Ordnung auf der Straße mit einem "heißen Frühjahr" des Protests konfrontieren werden.“ Im gleichen Artikel erinnerte der Autor daran, dass vor ziemlich genau vier Jahrzehnten der Staatspräsident Charles de Gaulle in den Schwarzwald flüchten musste. Zuvor hatte der General dem US-Botschafter erklärt: „Rien ne va plus.“ Das Spiel ist aus, Frankreich ist für den Kapitalismus verloren.
Wirtschaft im freien Fall
Die heutige Wirtschaftskrise zeichnet sich dadurch aus, dass alle ökonomischen Zentren gleichermaßen erfasst sind: Nordamerika, Japan und Europa. Auch der Euro-Raum kennt nur eine Richtung: abwärts. Der Investitionsmotor will nicht anspringen. Und das, obwohl die Europäische Zentralbank (EZB) die Zinsen seit Oktober von 4,25 auf 1,5 Prozent gesenkt hat.
„Heute fragen sich besorgte Beobachter: Ist diese Krise womöglich schlimmer als die Große Depression?“ , schrieb Wolfgang Münchau am 11. Februar in der Financial Times Deutschland. Die FAZ konstatierte am 10. März: „Amerikas Wirtschaft nähert sich der Depression.“ Es gibt keine offizielle Definition für eine Depression. In der US-Depression nach 1929 schrumpfte die Wirtschaft um ein Drittel, die Erwerbslosigkeit erreichte 25 Prozent. Für den Nobelpreisträger Robert Barro wäre eine Depression heute bei einem Rückgang von zehn Prozent beim Bruttoinlandsprodukt erreicht. Ein solches Szenario ist – trotz der bürgerlichen Rettungspakete – in der Tat nicht auszuschließen.
So wird geschätzt, dass die Gesamtverluste das Eigenkapital aller Banken übersteigen werden. Das „US-Bankensystem“, so der New Yorker Ökonom Nouriel Roubini in Business Week vom 3. Februar, sei „praktisch insolvent. Wir haben eine systemische Bankenkrise.“ Ähnliche Krisendimensionen bestehen im europäischen Finanzsektor.
Zudem existieren in der sogenannten „Realwirtschaft“ gewaltige Überkapazitäten, allein in der Autoindustrie von mehr als 40 Prozent. Atemberaubend sind Tempo und Ausmaß des Produktionseinbruchs und der Auftragsrückgänge seit November in den Zentren der Weltwirtschaft, Monat für Monat im zweistelligen Bereich. Die Krisen im Finanzsektor und in der Produktion verstärken sich gegenseitig.
Die Struktur der verschiedenen Ökonomien in Europa ist nicht einheitlich. Während ein Teil der Staaten, allen voran Deutschland, über eine starke industrielle Basis verfügt, bauen andere, wie Großbritannien, in gewaltigem Maß auf den Finanzsektor. Betroffen sind alle jedoch gleichermaßen. Die Dynamik des Arbeitsplatzabbaus droht in den exportstarken Ländern sogar den in den USA zu übertreffen. So stieg die Erwerbslosenzahl beim Exportweltmeister Deutschland im Januar und Februar um eine halbe Million, eine ähnliche Zahl von Beschäftigten wurde in die Kurzarbeit geschickt. Damit sind bereits ein Vierteljahr, nachdem die Industrie eingebrochen ist, eine Million Beschäftigte von Arbeitslosigkeit betroffen oder bedroht. Am 20. Februar fragte das Handelsblatt: „Droht ein Dammbruch am Arbeitsmarkt?“ Laut einer Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelstages (DIHK) plant ein Drittel aller Konzernchefs (und damit doppelt so viele wie noch im letzten Herbst) ihre Belegschaft zu verringern.
Andere europäische Länder trifft das Platzen der Immobilienblase besonders. Zwar ist es nicht wahrscheinlich, dass Spanien oder Irland schon in den nächsten Monaten – wie bereits spekuliert wird -, einen Staatsbankrott erleben werden, aber das Ausmaß der Banken- und Immobilienkrise ist enorm. In Spanien erreichte die Erwerbslosigkeit „furchterregende Höhen“, überschrieb das Handelsblatt am 27. Januar eine Studie. Im Zuge des Einbruchs im Baugewerbe verlor ein Viertel aller Bauarbeiter 2008 den Job. Landesweit wurden allein im vierten Quartal letzten Jahres 600.000 Arbeitsplätze vernichtet. Und in Großbritannien sieht es in vielerlei Hinsicht noch düsterer aus als in Nordamerika: „Der Häusermarkt ist noch bis zu 25 Prozent überbewertet, während der amerikanische Immobilienmarkt Analysten zufolge „nur“ noch zehn bis 15 Prozent überbewertet sein soll. Auch sind die britischen Haushalte noch stärker verschuldet als die amerikanischen“ (FAZ vom 10. März).
Osteuropas Ökonomien am Tropf des Westens
Lange meinten bürgerliche Ökonomen und osteuropäische Politiker, dass die internationale Immobilien- und Bankenkrise die Staaten Osteuropas verschonen würde. Schließlich konnten die Volkswirtschaften im ehemaligen Ostblock nicht das ganz große Rad drehen, so die These. Längst geht es allerdings auch mit den osteuropäischen Ökonomien bergab. Aus gutem Grund.
Zum einen war der dortige Aufschwung maßgeblich getrieben durch ausländische Direktinvestitionen, vor allem aus Westeuropa. Gerade Autokonzerne und Zulieferer sahen in den Niedriglohnländern verlängerte Werkbänke. Damit zogen die Absatzschwierigkeiten der Westkonzerne rasch ein Stocken der Produktion im Osten nach sich.
Zum anderen sind die Wirtschaft und der Finanzbereich Osteuropas extrem anfällig, weil „das Bankensystem zu mehr als 80 Prozent in ausländischer Hand ist. Systemrelevante einheimische Banken gibt es nach Einschätzung von Fachleuten nur in Polen (PKO), Ungarn (OTP) und in Lettland (Parex Bank).“ Letztere konnte kürzlich nur noch mittels Verstaatlichung vom Kollaps bewahrt werden. Da sich die meisten Westbanken völlig übernommen haben, ziehen sie seit Monaten Geld aus dem Osten ab.
Der Kapitalabfluss unterhöhlt die Volkswirtschaften in Osteuropa weiter. Und zwar beträchtlich, da das dortige Wachstum extrem kreditfinanziert war.
In der Folge purzeln die Aktienkurse (seit Juli 2007 verloren die Börsen in Bulgarien, Rumänien und der Ukraine 80 Prozent ihrer damaligen Werte). Die Währungen geraten ebenfalls massiv unter Druck. Zudem ist die Bevölkerung verschuldet – und das in Fremdwährung, auf Grund der niedrigeren Zinsen. Jetzt sind sie gezwungen, in (gegenüber den Währungen Osteuropas) aufwertenden Währungen wie dem Schweizer Franken ihre Kredite zu bedienen. Damit droht im Zuge von umfangreichen Kürzungsprogrammen und zunehmenden Stellenstreichungen für viele der Ruin.
In Staaten wie Lettland erleben die arbeitenden Menschen keinen Abschwung, sondern einen Absturz: während die Wirtschaft 2007 noch um zehn Prozent wuchs, schrumpfte sie im vierten Quartal 2008 um zehn Prozent. Um Staatspleiten zu verhindern, hat die Europäische Union festgelegt, dass die EU-Kommission Darlehen im Umfang von 25 Milliarden Euro für Länder außerhalb der Euro-Zone aufnehmen kann. Von diesem Geld ist allerdings nicht mehr all zu viel da: Nachdem Ungarn einen EU-Kredit von 6,5 Milliarden Euro und Lettland von 3,1 Milliarden erhielt, klopfte Anfang März nunmehr auch Rumänien an.
Die Politik der herrschenden Klassen Europas
Das aktuelle Krisenszenario wird nicht nur ökonomisch, sondern auch sozial in Vielem an die dreißiger Jahre erinnern. In Großbritannien haben bereits zwei Millionen in der Folge der Rezession ihren Job verloren. In Spanien stieg die Erwerbslosigkeit innerhalb eines Jahres von neun auf offziell 15 Prozent. In Estland und Litauen kam es zu einem ähnlich sprunghaften Anstieg. Dabei stehen wir noch am Beginn der ökonomischen Talfahrt. Werkschließungen und Konzernpleiten in großem Umfang liegen erst noch vor uns. Firmenfusionen und Aufkäufe, die zu einer „Kapitalzentralisation“ (also keiner Erweiterung der Produktion) führen werden, wie Karl Marx es formulierte, werden von Massenentlassungen begleitet sein.
Zwar tätigen einige Regierungen Europas derzeit Konjunkturmaßnahmen, um den weiteren Anstieg der Arbeitslosenzahlen und den Konsumrückgang aufzuhalten. Am 10. März beschlossen die EU-Finanzminister, die Senkung der Mehrwertsteuer zu ermöglichen. (Wobei auch in diesen Fällen die Rechnung der Arbeiterklasse über künftige Steuererhöhungen und steigende Sozialabgaben präsentiert werden wird.)
Gleichzeitig wird aber jetzt schon der Rotstift gezückt: In Irland sollen die Gehälter der Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes über eine „Pensionsabgabe“ um bis zu 7,5 Prozent geschröpft werden. In Polen wurde eine Rentenreform gegen tagelange Proteste (darunter die Besetzung des Büros von Premier Donald Tusk und die Blockade mehrerer Zugstrecken) durchgeboxt, die nur noch für 250.000 statt zuvor einer Million Menschen den Anspruch auf eine Frühpensionierung vorsieht. In Spanien strebt der Arbeitsminister das Einfrieren der Löhne von rund einer Million Beschäftigten (die mehr als 30.000 Euro im Jahr verdienen) im Öffentlichen Dienst an.
Mit der Zuspitzung der Krise werden sich die Spannungen innerhalb der EU, zwischen den einzelnen Nationalstaaten und ihren Kapitalistenklassen deutlich verschärfen. Schon heute zielen die Rettungsaktionen von Banken und Unternehmen auf die Subventionierung der eigenen Konzernherren ab. Protektionistische Maßnahmen stehen an. Nationalistische Töne werden lauter. Die Regierung in Wien beschloss im Februar bereits, dass „Österreichs Arbeitsmarkt bis 2011 vor Arbeitskräften aus Osteuropa geschützt bleiben“ soll. Der britische Premier Gordon Brown forderte: „Britische Jobs für britische Arbeiter.“
Noch suchen Länder, wie die von Währungsabwertungen gebeutelten Staaten Osteuropas, Zuflucht im Euro-Raum. Im Verlauf der Krise ist allerdings eine Zerreißprobe der Euro-Zone programmiert. Wie in allen vorherigen tiefen Wirtschaftskrisen wird für die verschiedenen Nationalstaaten eine einheitliche Geld- und Zinspolitik immer schwerer durchzuhalten sein (allein in Sachen Haushaltsdefizit werden bis 2010 zehn von 16 Euro-Staaten gegen die Maastricht-Kriterien verstoßen).
Die Wut wächst - europaweit
Griechenland – wo es vor zwölf Monaten schon zu zwei Generalstreiks innerhalb von drei Monaten kam – erlebte nach dem Tod von Alexandros Grigoropoulos durch eine Polizeikugel über Wochen hinweg einen Ausnahmezustand. Der Polizei schlug im ganzen Land offener Hass entgegen. Ein (schon vor Alexandros' Tod geplanter) Generalstreik wurde eindrucksvoll befolgt. Die Jugend revoltierte (wobei es allerdings auch zu sinnloser Zerstörung und quasi-terroristischen Aktionen kam).
In Islands Hauptstadt Reykjavik gingen von Oktober an wochenlang bis zu 10.000 Menschen auf die Straße (in einem Land von 300.000 EinwohnerInnen). Regierungsgebäude wurden umzingelt, Manager-Puppen symbolisch an selbst gebastelten Galgen aufgehängt. Politiker trauen sich kaum noch auf die Straße. Sogar eine Polizeiwache wurde von 500 DemonstrantInnen gestürmt, um inhaftierte Demo-Teilnehmer zu befreien.
Auf Grund der Verkommenheit der Gewerkschaftsspitze sind in einigen Ländern halbspontane Unruhen denkbar. In Irland wuchs der Protest sprunghaft an. Daraufhin sah sich die Gewerkschaftsbürokratie gezwungen, in Dublin am 21. Februar eine Großdemonstration zu organisieren, zu der laut Polizeiangaben 120.000 kamen. In Irland und anderswo rechnen Repräsentanten der herrschenden Klassen sogar mit Rebellionen, auf die sich die Staatsorgane entsprechend einzustellen hätten. „So ließ der Chef des irischen Generalstabs beispielsweise wissen, er habe der Personalvertretung der Soldaten gegenüber deutlich gemacht, dass die Armee „notfalls ihre Pflicht tun“ müsse, falls die Regierung im Falle eines Generalstreiks um Hilfe Bitte“ (FAZ vom 22. Februar). Bemerkenswerter Weise „hatte sich die Soldatengewerkschaft zuvor an die Armeeführung gewandt und eine Garantie dafür haben wollen, dass die Streitkräfte nicht als Streikbrecher eingesetzt würden.“
Der Herbst 2008 war in großen Teilen Europas vor allem von Bildungsprotesten geprägt. Im November und Dezember waren europaweit eine Million Jugendliche auf der Straße. Wie der 100.000 starke Schülerstreik in Deutschland im November richtete sich die Empörung oft gegen den Kahlschlag, der bereits in den Aufschwungsjahren durchgeführt wurde. In Frankreich kam es im Herbst zu landesweiten Streiks und Schulbesetzungen. Bei diesen Bildungsprotesten wurde aber auch der Unmut über den Kurs der Regierungen in der einsetzenden Wirtschaftskrise laut. So demonstrierten am 13. November in Spanien 70.000 gegen ein neues Schulgesetz und gegen Privatisierungen, aber auch gegen die Folgen der Rezession. Einen Tag später waren in Rom 300.000 SchülerInnen und Studierende auf der Straße. Hier war eine der Hauptlosungen: „Wir zahlen nicht für Eure Krise.“ Am 12. Dezember demonstrierten in ganz Italien sogar eineinhalb Millionen Menschen, darunter nicht nur Jugendliche, sondern auch Lohnabhängige.
In Irland waren es auch 100.000 SchülerInnen, LehrerInnen und Eltern, die am 7. Dezember in verschiedenen Teilen der Republik auf der Straße waren. RentnerInnen hatten dort zuvor ebenfalls protestiert. Fortgesetzt und gesteigert wurde der Widerstand dann im Februar mit der Großdemonstration der Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes. Am 13. Februar demonstrierten in Rom 700.000 Beschäftigte im Rahmen eines nationalen Streiktages. Protestiert wurde gegen das jüngste Lohnabkommen im Öffentlichen Dienst und gegen weitere Kürzungsvorhaben der Berlusconi-Regierung. In Griechenland kam es Anfang 2009 zu Streiks von Verkehrsbeschäftigten, einem Ausstand der Fluglotsen und zu Bauernprotesten, die zur tagelangen Blockade des Hafens von Piräus führten.
Kurz nach dem Rücktritt der isländischen Regierung im Januar musste auch das Kabinett in Lettland abtreten – unter dem Eindruck einer 10.000 Menschen starken Demonstration.
Noch ist das Bild von Protesten gegen Angriffe der Regierung geprägt. Im Verlauf der Krise werden auch Arbeitskämpfe bis hin zu Betriebsbesetzungen zum Erhalt von Belegschaften und Betrieben an Bedeutung gewinnen. In Irland besetzten bereits 700 KollegInnen der Glasfabrik Waterford Crystal ihren Betrieb im Januar, nachdem dort die Insolvenz bekannt gegeben wurde. Auch in Deutschland, Schottland und in der Ukraine fanden schon Betriebsbesetzungen statt.
Außerdem wird die Arbeiterklasse zunehmend damit konfrontiert sein, dass die Unternehmer Belegschaften gegeneinander ausspielen und die Löhne drücken wollen. In Stockholm streikten die Beschäftigten der Müllabfuhr im Februar zwei Tage erfolgreich gegen Lohnraub. In Belgien wehrten sich 35.000 Briefträger in einem dreitägigen Streik im März dagegen, dass KollegInnen von Zeitarbeitern ersetzt werden sollten.
Wichtig war zudem der Streik von Baufacharbeitern in britischen Ölraffinerien und Kraftwerken zu Jahresbeginn, die sich auf 22 Baustellen im ganzen Land ausweiteten. Hintergrund war eine Entscheidung der EU-Gerichte, die den Arbeitgebern praktisch grünes Licht geben, gewerkschaftlich organisierte ArbeiterInnen durch unorganisierte ersetzen zu können. Zwar gab es unter den Streikenden auch Parolen wie: „Britische Arbeitsplätze für britische Arbeiter.“ Im Kern war es aber eine Streikwelle, die sich über die bestehende Antistreikgesetzgebung hinwegsetzte und gegen weitere Lohnsenkungen eintrat. Das Streikkomitee in Lindsey, wo die Socialist Party eine herausragende Rolle spielte, und die Belegschaftsversammlung stimmten für die Forderung: „Gewerkschaftsrechte für alle Arbeiter.“ Außerdem traten die KollegInnen dafür ein, dass die Tarifverträge für alle ArbeiterInnen auf den Baustellen gelten müssen.
Das Beispiel Frankreich
Zu Beginn seiner Amtszeit fragte Sarkozy noch arrogant: „Wo sind die Streikenden? Ich sehe keine Proteste.“ Inzwischen ist er ernsthaft besorgt über die Zukunft seiner Regierung. So warnte er – mit dem Blick auf Griechenland gerichtet - Kabinettsmitglieder während der Haushaltsberatungen, nicht zu offensichtlich die Reichen zu begünstigen: „Die Franzosen lieben es, wenn ich mit Carla in einer Kutsche fahre, aber sie haben auch schon einen König geköpft“, so zitierte ihn die Zeitung Scotsman.
Nach Sarkozys Vertagung von Angriffen im Bildungssektor musste er auch gegenüber dem 44 Tage andauernden Generalstreik auf der französischen Karibikinsel Guadeloupe kapitulieren. Neben der Erhöhung der Gehälter von 30.000 Geringverdienern um 200 Euro im Monat wurden weitreichende Preissenkungen zugestanden. Konzessionen erreichte auch der Streik auf der Nachbarinsel Martinique. Auf La Reunion im Indischen Ozean dauert der Ausstand noch an.
In Frankreich gab es Solidaritätsdemonstrationen von Tausenden. Der Erfolg der Bewegung auf Guadeloupe wird mit Sicherheit als Ermutigung gesehen werden. Schon am 29. Januar hatten in Frankreich 2,5 Millionen Menschen gestreikt, darunter zwei Drittel aller Grundschullehrer. Bedeutsam war, dass die Arbeitsniederlegungen im Öffentlichen Dienst diesmal mit einer großen Streikbeteiligung in der Privatindustrie zusammen kamen. Für den 19. März ist der nächste nationale Streiktag angesetzt. Attackiert wird Sarkozys Konjunkturprogramm. Die Gewerkschaften fordern weitergehende Maßnahmen zur „Stärkung der Kaufkraft“.
Das Beispiel Irland
„Massendemonstrationen, Haushaltsnot, ein Bankenskandal, abstürzende Umfragewerte, ramponiertes nationales Image, explodierende Arbeitslosigkeit – die irische Regierung kämpft auf einem halben Dutzend Schauplätzen gleichzeitig gegen den Untergang“, schrieb die FAZ am 23. Februar. Vor der Großdemonstration mit 120.000 TeilnehmerInnen kam, so die FAZ, „mitunter der Eindruck auf, Irland stehe am Rand eines nationalen Notstands.“ Protestiert wurde am 21. Februar primär gegen eine „Pensionsabgabe“, die zu Lohnkürzungen im Öffentlichen Dienst von im Schnitt fünf bis sechs Prozent führen würde. Auf der Demonstration forderten die Gewerkschaften auch die Verstaatlichung aller Banken.
Geschätzt wird, dass bis 2010 25 Prozent aller im erwerbsfähigen Alter arbeitslos sein werden – so viele wie in den USA auf dem Höhepunkt der Großen Depression. Die Steuereinnahmen blieben im Januar und Februar um ein Viertel hinter den erwarteten Beträgen zurück. Das Staatsdefizit wird sich laut Schätzungen bis Ende 2009 gegenüber 2007 auf über 65 Prozent des Bruttoinlandsprodukts verdreifacht haben.
Anfang April will die Regierung nun einen weiteren Notnachtragshaushalt absegnen, der unter anderem eine starke Reduzierung des Kindergeldes beinhalten soll. Vor diesem Hintergrund sah sich der Gewerkschaftsdachverband gezwungen, eine Urabstimmung über einen Generalstreik am 30. März – das wäre in Irland der erste seit 30 Jahren – durchzuführen. Streiks und Proteste finden in diesen Wochen auch bei Busbeschäftigten, Eisenbahnern und Taxifahrern statt.
„Pinguin-Revolution“ in Lettland
Um zwölf Prozent soll die Wirtschaft 2009 schrumpfen, die Arbeitslosigkeit bis Ende des Jahres auf 25 Prozent ansteigen. Überall schließen Fabriken. Kein Wunder, dass die Nerven bei den Herrschenden blank liegen. Nachdem der Sänger der Popgruppe „Putnu balle“ zur Überbrückung einer Pause während eines Konzerts im vergangenen November die Zuschauer aufforderte, nicht gleich an die Geldautomaten der von der Insolvenz bedrohten (und inzwischen verstaatlichten) Parex-Bank zu rennen und ihre Konten zu räumen, wurde gegen ihn ein Ermittlungsverfahren wegen angeblicher Destabilisierung des Finanzsystems eingeleitet. Der Wirtschaftsprofessor Dmitrijs Smirnovs wurde nach kritischen Äußerungen über die Banken im Baltikum sogar für zwei Tage ins Gefängnis gesteckt.
Zur Abwendung eines Staatsbankrotts gewährten die EU, das IWF und die Weltbank Lettland einen Kredit von 7,5 Milliarden Euro – unter Auflagen. Das führte zur Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 21 Prozent und der Kürzung der Gehälter aller Staatsangestellten um 15 Prozent Ende 2008. Gegen diese Schritte der Regierung gingen Mitte Januar 10.000 Menschen in Riga auf die Straße. Da Ministerpräsident Ivars Godmanis, der in der Zwischenzeit zurücktreten musste, unmittelbar zuvor in seiner Neujahrsansprache empfohlen hatte, sich an den Pinguinen ein Beispiel zu nehmen (die der Kälte widerstehen würden, in dem sie eng zusammenrücken), ist seitdem von der „Pinguin-Revolution“ die Rede.
Aussichten
Die Bankenkrise nahm bereits im Sommer 2007 ihren Lauf. Die Industrieproduktion bricht erst seit Herbst 2008 ein. Damit steht die Krise in Europa und international noch am Anfang (unter kapitalistischen Vorzeichen setzt ein neuer Konjunkturaufschwung die Vernichtung von Kapital in großem Stil voraus). Trotzdem ist bereits jetzt europaweit eine beeindruckende Serie von Protesten zu verzeichnen. Ein Faktor dabei ist der Umstand, dass es in mehreren Ländern West- aber auch Osteuropas schon in den Vorjahren eine tendenziell aufsteigende Linie von Kämpfen gab.
Bisher richtet sich der Widerstand in der Krise vor allem gegen Kürzungs- und Umverteilungsmaßnahmen der Regierungen. In den kommenden Monaten werden vermehrt betriebliche Auseinandersetzungen in den Fokus geraten. Damit kann die Rolle der Arbeiterklasse in Wirtschaft und Gesellschaft deutlicher zu Tage treten.
Es ist allerdings auch möglich, dass es im Verlauf der Krise für einige Zeit zu einem Rückgang an Kämpfen kommen kann. Sollten Volkswirtschaften in noch rasanterem Tempo einbrechen, die Arbeitslosenzahlen in kurzer Zeit dramatisch ansteigen und die Zahl insolventer Familien zunehmen, könnte das – nicht zuletzt wegen der Politik der Gewerkschaftsoberen - vorübergehend auch eine lähmende Wirkung haben. Das Leben vieler ArbeiterInnen könnte davon bestimmt sein, überhaupt „über die Runden zu kommen“.
Jugendliche, die in Deutschland und anderen Ländern jahrelang nicht an der Spitze der Proteste standen, werden künftigen Konflikten verstärkt ihren Stempel aufdrücken. In Griechenland fand die dortige Jugendrebellion (in der es auch Stimmungen Richtung Anarchismus und individuellen Terrorismus gab) auf Basis einer Arbeitslosenquote von 25 Prozent unter den unter 24-Jährigen statt. Man spricht von der „Generation 600“ in Anspielung auf den Mindestlohn von 600 Euro. Dabei ist „eine wachsende Unzufriedenheit der Jugend in vielen europäischen Ländern“, so das Wall Street Journal, zu beobachten. In Spanien beträgt die Jugendarbeitslosigkeit über 30 Prozent.
Ein erfolgreicher Kampf in Zeiten tiefer Rezession erfordert antikapitalistische und sozialistische Antworten. Der Rechtsruck der Gewerkschaften und die Schwäche der politischen Linken verkompliziert Bewusstseinsprozesse in der Arbeiterbewegung. Es besteht die Gefahr, dass auch nationalistische und sogar offen rechtsextreme Kräfte punkten können.
Verbreitet ist aber heute schon die Haltung, dass Politiker, Bankbesitzer und die oberen Zehntausend auf Kosten der großen Mehrheit der Bevölkerung ihre Haut und ihre Vermögen retten wollen. Ein nationaler Streiktag in Frankreich am 19. März (und ein möglicher Generalstreik in Irland am 30. März) können ArbeiterInnen und Jugendliche in Deutschland und anderen Ländern darin bestärken, mit ihren Regierungen ebenfalls „Französisch“ zu reden. Es ist auch nicht auszuschließen, dass der Aktionstag des Europäischen Gewerkschaftsbunds am 16. Mai nicht, wie von oben geplant, hilft, um Dampf abzulassen und auf die Sozialdemokratie bei den Europawahlen am 7. Juni zu orientieren, sondern der Bewegung weiteren Auftrieb gibt.
Damit ist noch nicht ausgemacht, dass es zu dem vom Guardian befürchteten „heißen Frühjahr“ kommt; ins Schwitzen werden die Sarkozys und Merkels aber alle mal geraten.