Mo 03.11.2014
Vor hundert Jahren, im November 1914, erklärte der osmanische Sultan den Eintritt seines krisengeschüttelten Reiches in den 1. Weltkrieg an der Seite Deutschlands und Österreich-Ungarns. Zwei Jahre vor Kriegsbeginn hatte die British Royal Navy begonnen ihre Flotte von Kohlen- auf Ölbetrieb umzustellen und verhalf Öl als strategischem Rohstoff Nr. 1 zu seiner entscheidenden Bedeutung. Das imperiale Interesse an der Region war groß. Gleich zu Beginn des Krieges marschierten die Briten im heutigen Irak ein. Nach 1918 verteilte der Völkerbund (Vorläufer der UNO) die Beute an die Siegermächte.
„Saladin, wir sind zurück!“ Mit diesen Worten fasste der französische General Gouraud die Kreuzfahrermentalität der neuen Herren bei seiner Ankunft in Damaskus zusammen. Zuvor hatte er den arabischen Nationalaufstand blutig niederschlagen lassen. Zur Stabilisierung ihrer Herrschaft setzten Briten und Franzosen auf die altbewährte Teile-und-Herrsche-Politik. Einzelne Gruppen, v.a. religiöse Minderheiten (christliche bzw. alewitische) wurden bevorzugt und in die Kolonialverwaltung integriert. Die muslimische Mehrheit (sowohl sunnitisch als auch schiitisch) wurde unterdrückt. Das Gift des Sektierertums breitete sich überall aus.
Ab den 30er Jahren entwickelten sich die Kommunistischen Parteien in der Region von kleinen Intellektuellenzirkeln zu Massenorganisationen. Hunderttausende ArbeiterInnen aus den verschiedensten ethnischen und religiösen Gruppen schlossen sich zusammen um gegen Elend, Imperialismus und für eine bessere Welt zu kämpfen. Die sowjetische Bürokratie opferte diese Bewegungen jedoch am Altar taktischer Bündnisse mit dem Westen.
Die Alternative entstand in Form der Baath-(Erneuerungs/Auferstehungs)-Partei(en). Nationalistische Offiziere, inspiriert von der Politik Nassers in Ägypten stürzten 1963 im Irak und in Syrien die jeweiligen Regierungen. Verpackt in pseudosozialistische Rhetorik sprachen die Baath-Parteien nicht nur die nationalistischen Gefühle sondern auch die sozialen Ambitionen an. Ausgehend von den ägyptischen Erfahrungen wurden große Teile der Wirtschaft verstaatlicht, das Sozial-, Bildungs- und Gesundheitssystem entwickelt. Mit sowjetischer Unterstützung wurde versucht, eine eigenständige Industrie zu entwickeln. Die Sowjetunion, auf verzweifelter Suche nach Verbündeten in der Region, arrangierte sich mit den beiden Diktaturen und zwang die jeweiligen Kommunistischen Parteien zur Aufgabe selbständiger Positionen und zu Bündnissen mit der herrschenden Baath. Während die Regimes sich betont arabisch-national gaben, blieben die kurdischen Minderheiten ausgeschlossen, verfolgt und unterdrückt. Dies ging vom Entzug der Staatsbürgerschaft (Syrien) bis zum Massenmord durch Giftgas (Irak).
Ab den 70er Jahren, mit einer strauchelnden Wirtschaft und zwei verlorenen Kriegen gegen Israel, begannen sich die Regime zu wandeln. Vom ursprünglichen nationalrevolutionären Anspruch war wenig übrig geblieben. Während sich die zu einem großen Teil an militärischen Bedürfnissen orientierte Wirtschaft als instabil erwies, wuchs die Opposition unter der Bevölkerung. Da die politische Linke jedoch entweder brutal unterdrückt oder mit dem Regime verbündet war, kanalisierte sich der Widerstand – aus Mangel an Alternativen – in Richtung islamischem Fundamentalismus. Oft wurden die FundamentalistInnen vom Westen als Instrumente gegen unliebsame Regime unterstützt (was nicht bedeutet, dass sie dadurch nur Marionetten seien). Heute richten sich diese Bewegungen oftmals gegen ihre einstigen Förderer. Die Regimes reagierten zweifach auf diese Herausforderung: einerseits wurden die ehemals weitgehend säkularen (nicht-religiösen) Gesellschaften „re-islamisiert“ (Bau von Moscheen, Entlassung politisch-religiöser Gefangener, religiöse Rhetorik, später im Irak Alkoholverbot etc.). Andererseits zogen sich die Herrschenden Eliten zunehmend auf die eigene Kerngruppe zurück.
Sowohl in Saddam Husseins Irak als auch in Assads Syrien gehörte die Staatselite einer Minderheit an (Sunniten bzw. Alawiten). Auf der Suche nach loyalen Untergebenen wurden die Schlüsselpositionen in Staat, Armee und Wirtschaft mit Angehörigen der jeweiligen Gruppe besetzt. Je höher die Positionen, desto näher waren ihre TrägerInnen am Präsidenten. Den Kern stellte die herrschende Familie dar. Diese herrschende Schicht war sowohl ökonomisch als auch physisch an das Regime gebunden und wusste, dass sie im Falle eines Umsturzes alles verlieren würde.
Im Irak kam dieser Umsturz mit der US-geführten Invasion 2003. Angetrieben vom Wunsch nach strategischer Kontrolle über die Region und vor allem über das Erdöl marschierten die Koalitionstruppen im Irak ein und zerschlugen das sunnitisch dominierte Baath-Regime von Saddam Hussein. Die ehemalige sunnitische Elite wurde entmachtet und eine nicht minder sektiererische schiitisch dominierte Regierung nahm ihren Platz ein. In Syrien versank der ursprünglich friedliche Aufstand für soziale und demokratische Rechte auf Grund der Struktur des Regimes bald im sektiererischen Bürgerkrieg. Damit verbunden waren der Niedergang der säkularen, fortschrittlichen Opposition und die dramatische Stärkung religiöser FundamentalistInnen. Diese konnten zudem auf finanzielle Ressourcen und Waffen aus den Golfstaaten zurückgreifen und diese auch gegen die säkulare Opposition einsetzen.
Auf dieser Grundlage gelang es dem IS, sich Unterstützung aufzubauen. Der völlige Zerfall von staatlicher Ordnung und sozialen Strukturen ermöglichte es ihm, wohl finanziert aus den Golfstaaten, in dem von ihm beherrschten Gebiet eine Grundversorgung sicherzustellen und seinen Einfluss dramatisch auszuweiten. Finanziert wurde dies einerseits durch Plünderungen, andererseits durch den illegalen Verkauf von Erdöl; sowohl an das Assad-Regime als auch an den Westen. Der IS ist nicht nur eine Miliz, sondern ein hervorragend vernetztes, Wirtschaftsunternehmen mit beträchtlichen Umsätzen. Ideologisch präsentiert sich der IS als Verteidiger der SunnitInnen gegen „die Ungläubigen“, also andere religiöse Gruppen und den Westen. Das westliche Bombardement unterstützt ihn in dieser Argumentation. Die gleiche Logik, die im Drohnenkrieg in Pakistan/Afghanistan gilt, gilt auch hier: beinahe jeder Luftangriff tötet ZivilistInnen und jedeR Tote bringt den FundamentalistInnen neue Kämpfer. Vom Imperialismus ist keine Lösung der Katastrophe zu erwarten. Auch keine andere sektiererische Gruppe in der Region wird dauerhafte Stabilität, Frieden und einen Ausweg aus Elend und Krieg bringen können. Derzeit leisten vor allem kurdische Parteien Widerstand gegen IS. Diese haben jedoch (verständlicherweise) vor allem den Schutz der „eigenen“ Leute zum Ziel. Der Kampf für die Rechte der KurdInnen muss mit dem Widerstand gegen IS, Imperialismus und lokale Despotien verbunden werden. Dies geht letztlich nur auf der Grundlage gemeinsamen Kampfes von ArbeiterInnen und Armen aller Religionen und Ethnien zusammen. Dies mag derzeit noch abstrakt klingen, ist aber die einzige Alternative zum sektiererischen und imperialistischen Morden.