Mi 04.07.2018
Die schwarz-blaue Regierung hält eigentlich wenig von Minderheitenrechten, v.a. bei Betroffenen in Österreich: SlowenInnen, UngarInnen, Roma/Romnija, KroatInnen... Im Falle Südtirols agiert die Allianz aus österreichischem Bürgertum, Rechtsextremen und Deutschnationalen jedoch mit bemerkenswerter Fürsorge und Umsicht. Ein Doppelpass für alle Deutschsprachigen in Südtirol sorgt für Wirbel. Auf dem Parkett der EU-Diplomatie unterstreicht das den Hardliner-Anspruch, den sich Kurz auch bei anderen Streitfragen bereits gegeben hat. Doch es ist ein leicht zu durchschauendes Manöver. Es reicht, auf den Umstand hinzuweisen, dass im Fall der seit vielen Jahren hier lebenden und arbeitenden Austro-TürkInnen (oder „türkischen ÖstereicherInnen“) ein Doppelpass kategorisch abgelehnt wird. Es offenbart sich ein rassistisches Konzept. Es wirkt das Blut-und-Boden-Prinzip, welches aus Sicht der ArbeiterInnenbewegung absurd ist angesichts internationaler Arbeitsteilung und der Wirklichkeit der (Arbeits-)Migration. Tatsächlich wäre eine Entkopplung der BürgerInnenrechte vom Pass nötig.
In Südtirol stellt sich eine schwierige Aufgabe für SozialistInnen und die ArbeiterInnen-Bewegung. Dies liegt in der Struktur des Landes, seiner Geschichte und den heute spürbaren Folgen. In den letzten Jahren dürfte tatsächlich ein Umbruch in der Gesellschaft Südtirols, v.a. seiner deutschsprachigen Mehrheit, vollzogen worden sein. Dies ist auch Ausdruck des Zerfalls der kapitalistischen Ordnung in Europa. Vor wenigen Jahren noch war es unwahrscheinlich, dass eine Mehrheit, v.a. aufgrund der vorliegenden weitgehenden Autonomie, eine vollständige Loslösung fordern oder ihr zustimmen würde. Genau dies liegt nun im Bereich des Möglichen. Die Dynamik in solchen Fällen darf nicht unterschätzt werden. Es kann gut sein, dass deutschsprachige nationalistische und rechtsextreme Kräfte, die zusammen bereits 10 von 35 Mandaten im Landtag halten, so manche unverbindliche Umfrage über-interpretieren. Angeblich wünschen laut Karmasin-Umfrage „nur 26% … sich Verbleib bei Italien“. Doch es sind in jedem Fall deutliche Spuren und Versuche einer Richtungsänderung bis tief in die dominante „Sammlungsbewegung“ der Südtiroler Volkspartei (SVP, 17 Mandate) zu erkennen.
Ausgerechnet die Bewegung in Katalonien gegen den spanischen Staat, der immer noch auf dem Erbe der Franco-Diktatur ruht, wird von rechtsextremen PolitikerInnen ins Treffen geführt. Nun, tatsächlich erlitt auch und gerade Südtirol unter den faschistischen Regimes bittere Stunden, sowohl durch die Mussolini-Diktatur (erzwungene „Italianisierung“) als auch Hitler-Deutschland (Anerkennung der Brennergrenze). Doch im Falle Kataloniens ist die historische Unterdrückung noch brutal und aktuell. In Südtirol hingegen gibt es heute nicht den Hauch einer Einschränkung von Sprache oder sonstiger kultureller Identität. Vor allem finanziell und steuertechnisch trennen Südtirol und andere Regionen Welten: 85% der Steuereinnahmen verbleiben unter direkter Kontrolle des Landes, genauso wie die Verwaltung aller Schulen, Straßen, der Wasserwirtschaft und des Grundbesitzes. Andererseits haben Neoliberalismus und „Sparzwang“ in den letzten eineinhalb Jahrzehnten dazu geführt, dass Südtirol nicht mehr Netto-Empfänger, sondern -Zahler an Rom ist. Zur Wirtschaftsstruktur: 75% der Wertschöpfung erfolgt durch Dienstleistungen. Mit wenigen Ausnahmen umfasst das produzierende Gewerbe Kleinindustrie und Handwerk. Noch ist die Region durch extrem hohe Einnahmen aus dem Fremdenverkehr gesegnet. Zwei Gründe werden Einbrüche erwirken: 1. Klimawandel (v.a. Wasserknappheit) und 2. Wirtschaftskrisen und sinkende Einkommen in anderen Ländern, die ArbeitnehmerInnen und Mittelklasse zwingen, Kosten für höherpreisigen Urlaub zu reduzieren. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es für Südtirols Volkswirtschaft in keiner anderen Verfasstheit dauerhaft bessere Voraussetzungen geben wird. Dies vor allem, weil der allgemeine Trend in ganz Europa in die Krise weist und soziale Konflikte und Verteilungskämpfe drastisch zunehmen werden.
Den strukturellen Problemen des Kapitalismus entkommt man nicht durch bloße Abspaltung. Die Skepsis gegenüber dem durch wirtschaftliche und politische Krisensymptome beladenen Italien wächst. Doch kann z.B. eine Eskalation der Bankenkrise Italiens schlagartig auch in Österreich zu massiven Problemen führen (Bsp. UniCredit-Bank Austria). Auf genau darauf hat der Loslösungs-Fetischismus von „Süd-Tiroler Freiheit“, „Freiheitlichen“, „BürgerUnion“, SVP keine Antworten.
Es sei betont: Sollte es zu einem Referendum kommen, haben auch die deutschsprachigen SüdtirolerInnen als vergleichsweise bessergestellte Minderheit das Recht auf Selbstbestimmung. SozialistInnen müssen in jedem Fall versuchen, den Widerstand von ArbeitnehmerInnen gegen soziale Verschlechterungen zu einem verbindenden Element zwischen Sprach-Gruppen, Ethnien und über Staatsgrenzen hinweg zu machen. Auch die Verteidigung der Selbstbestimmungsrechte der sodann vorhandenen Minderheiten (italienisch und ladinisch Sprechende, zusammen ca. 27%) wäre wichtig. Eine offene Debatte mit AktivistInnen in und aus Südtirol, aber auch Italien, mit Beteiligung kämpferischer Gewerkschaften, wäre dazu ein sinnvoller nächster Schritt.