So 05.07.2015
Otto Bauer wird am 5.9.1881 als Sohn eines aus Nordböhmen stammenden Textilgroßindustriellen geboren. Bauer, das ist für sein späteres Werk wohl nicht irrelevant, verbringt seine ganze Kindheit und Jugend in einem rein großbürgerlichen, überwiegend akademischen Umfeld, und Akademiker zu sein heißt sozial noch einmal etwas anderes in der Welt um 1900, in der etwa 1% eines Jahrgangs studieren. Bauer ist schon als junger Mann finanziell unabhängig, nach heutigem Geldwert beträgt sein Vermögen am Vorabend des ersten Weltkriegs etwa anderthalb Millionen Euro. Das zu konstatieren ist keine Kritik an Bauer - Lenin stammte aus nicht viel ärmlicheren Verhältnissen, aber es prägt Bauers politisches Wirken, dass er mit der sozialen Welt außerhalb des gehobenen gebildeten Bürgertums niemals persönlich kennenlernt. In seinem mit der Promotion 1906 abgeschlossenen Jus-Studium ist Bauer unter anderem Schüler des bürgerlichen Ökonomen Böhm-Bawerk, der sich die ökonomische Widerlegung des Marxismus zum Ziel gesetzt hatte und mit dem der junge Sozialist Bauer sich heftige Kontroversen im Seminarraum liefert. In seine Studienzeit fällt auch der Beginn seines Engagements in der österreichischen Sozialdemokratie, wo er schon 1907 mit seinem Werk über die Nationalitätenfrage auffällt und zusammen mit Max Adler, Rudolf Hilferding und Karl Renner durch Gründung der Zeitschrift "Zukunft" die Grundlagen des Austromarxismus legt. Dieser austromarxistische Zirkel zählt, das muss man gerade in Hinblick auf seine spätere Rolle betonen, unter den Parteitheoretikern anfangs eher zum linken Flügel der Partei, VC wobei es auch innerhalb dieses Kreises große Differenzen gibt, Otto Bauer unter den Austromarxisten tendenziell am weitesten links, Karl Renner am weitesten rechts steht.
Obwohl die österreichische Sozialdemokratie im frühen 20. Jahrhundert einen ähnlichen reformistischen Degenerationsprozess erlebt wie die SPD in Deutschland, gibt es doch einen wichtigen Unterschied: In Österreich gibt es keinen prominenten revolutionär kämpferischen Flügel, es gibt keine österreichische Rosa Luxemburg und keinen österreichischen Karl Liebknecht. Trotzki liefert in seinen Memoiren eine anschauliche, leicht humoristisch gefärbte Schilderung der Atmosphäre im sozialdemokratischen Milieu Vorkriegsösterreichs: "Hilferding brachte mich zuerst mit seinen Wiener Freunden zusammen: Otto Bauer, Max Adler und Karl Renner. Das waren sehr gebildete Menschen, die auf verschiedenen Gebieten mehr wussten als ich. Ich habe mit lebhaftestem, man kann schon sagen mit ehrfurchtsvollem Interesse ihrer ersten Unterhaltung im Café Zentral zugehört. Doch schon sehr bald gesellte sich zu meiner Aufmerksamkeit ein Erstaunen. Diese Menschen waren keine Revolutionäre. Mehr noch: sie stellten einen Menschentypus dar, der dem Typus des Revolutionärs entgegengesetzt war. Das äußerte sich in allem: in der Art, wie sie an Fragen herangingen, in ihren politischen Bemerkungen und psychologischen Wertungen, in ihrer Selbstzufriedenheit – nicht Selbstsicherheit, sondern Selbstzufriedenheit –; mir war mitunter sogar als vernähme ich schon in der Vibration ihrer Stimmen das Philistertum. Besonders verblüffte mich, dass diese gebildeten Marxisten absolut unfähig waren, die Marxsche Methode anzuwenden, sobald es um große politische Probleme, besonders um deren revolutionäre Wendungen ging. Zuallererst überzeugte ich mich davon bei Renner. Wir blieben lange im Café sitzen, es gab keine Tram mehr nach Hütteldorf, wo ich wohnte, und Renner schlug mir deshalb vor, bei ihm zu übernachten. Dieser gebildete und begabte habsburgische Beamte war damals noch weit entfernt von dem Gedanken, dass das unglückliche Schicksal Österreich-Ungarns, dessen historischer Advokat er war, ihn nach einem Jahrzehnt zum Reichskanzler der österreichischen Republik machen würde. Unterwegs aus dem Café nach Hause sprachen wir über die Perspektiven der Entwicklung Russlands, wo sich zu jener Zeit die Konterrevolution bereits gefestigt hatte. Renner sprach über diese Fragen mit der Höflichkeit und Gleichgültigkeit eines gebildeten Ausländers. Das österreichische Ministerium des Barons Beck beschäftigte ihn viel stärker. Das Wesentliche seiner Ansichten über Russland lief darauf hinaus, dass der Block der Gutsbesitzer mit der Bourgeoisie, der nach der Staatsumwälzung vom 16. Juni 1907 seinen Ausdruck fand in der Stolypinschen Konstitution, der Entwicklung der Produktivkräfte des Landes entspräche und folglich Chancen habe, bestehen zu bleiben. Ich erwiderte ihm, dass nach meiner Ansicht der regierende Block der Gutsbesitzer und der Bourgeoisie eine zweite Revolution vorbereite, die wahrscheinlich das russische Proletariat an die Macht stellen werde. Ich sehe unter der nächtlichen Straßenlaterne noch den flüchtigen, fassungslosen und herablassenden Blick Renners. Er hielt sicherlich meine Prognose für die Phantastereien eines politischen Analphabeten, etwa in der Art der Prophezeiungen jenes australischen Mystikers der einige Monate vorher an dem internationalen Sozialistenkongress zu Stuttgart Tag und Stunde der kommenden Weltrevolution vorausgesagt hatte. „Glauben Sie’s?“ fragte Renner. „Es ist möglich, dass ich die russischen Verhältnisse nicht genügend übersehe“, fügte er mit vernichtender Höflichkeit hinzu. Wir hatten keinen gemeinsamen Boden für die Fortsetzung des Gesprächs. Mir wurde klar, dass dieser Mensch von der revolutionären Dialektik ebenso weit entfernt war wie der konservativste der ägyptischen Pharaonen. Die ersten Eindrücke vertieften sich in der Folge nur. Diese Menschen wussten viel und waren fähig, im Rahmen der politischen Routine – gute marxistische Aufsätze zu schreiben. Aber es waren mir fremde Menschen. Davon überzeugte ich mich um so stärker, je mehr sich der Kreis meiner Verbindungen und Beobachtungen erweiterte. Im ungezwungenen Gespräch untereinander zeigten sie viel offener als in Artikeln und Reden bald einen unverhüllten Chauvinismus, bald die Prahlsucht des gemeinen Besitzers, bald den heiligen Schauer vor der Polizei, bald das vulgäre Benehmen gegen die Frau. Ich konnte nur erstaunt innerlich ausrufen: „Das sind schon Revolutionäre! „ Ich meinte damit nicht die Arbeiter, bei denen man natürlich ebenfalls nicht wenige spießige Eigenschaften, nur einfachere und naivere, finden konnte. Nein, ich begegnete der Blüte des österreichischen Vorkriegsmarxismus, Abgeordneten, Schriftstellern, Journalisten. Bei diesen Begegnungen lernte ich verstehen, welche verschiedenartigen Elemente die Psyche eines einzigen Menschen zu bergen fähig sein kann und wie weit es ist von der passiven Aufnahme bestimmter Teile eines Systems bis zu dem psychischen Erleben und zur Selbsterziehung im Geiste dieses Systems. Der psychologische Typus des Marxisten kann nur in der Epoche der sozialen Erschütterungen, des revolutionären Bruchs mit den Traditionen und Gewohnheiten entstehen. Der Austromarxist aber erwies sich zu oft als ein Philister, der den einen oder den anderen Teil der Marxschen Theorie studierte, wie man Jus studiert, und von den Prozenten vom Kapital lebt. Im alten, kaiserlichen, hierarchischen, betriebsamen und eitlen Wien titulierten die Marxisten einander wonnevoll mit „Herr Doktor“. Die Arbeiter redeten die Akademiker oft mit „Genosse Herr Doktor“ an. Während der ganzen sieben Jahre, die ich in Wien verlebte, war es mir nicht möglich, auch nur mit einer dieser Spitzen mich offen auszusprechen, obwohl ich Mitglied der österreichischen Sozialdemokratie war, ihre Versammlungen besuchte, an ihren Demonstrationen teilnahm, an ihren Organen mitarbeitete und manchmal meine Referate in deutscher Sprache hielt. Ich empfand die sozialdemokratischen Führer als fremde Menschen, während ich gleichzeitig in Versammlungen oder bei Maidemonstrationen mühelos eine gemeinsame Sprache mit den sozialdemokratischen Arbeitern fand."
Unter diesen Bedingungen kann sich Bauer, der sich in der Theorie gegen den von Bernstein begründeten Revisionismus wehrt und auf der proletarischen Revolution als Endziel beharrt, als linker Kopf der Partei profilieren, ja, er wird oft als dogmatischer orthodoxer Marxist kritisiert. Trotzdem zeigt Bauer schon vor dem ersten Weltkrieg Züge, die zu einem reformistischen Weg einladen. So ist er zwar von der Notwendigkeit der Revolution überzeugt, aber diese soll erst erfolgen, wenn die Sozialdemokratie die parlamentarische absolute Mehrheit für sich gewonnen hat - ein Ziel, das weder die deutsche Sozialdemokratie noch die österreichische in Monarchie und erster Republik jemals erreichen wird. Auch strebte Bauer in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg nicht etwa die Zerschlagung des Habsburgerreiches an, sondern dessen Reform mit innerer Demokratisierung und größerer Autonomie für die einzelnen Nationalitäten - dass er dabei nicht explizit die Abschaffung der Monarchie forderte, mag man mit Zensurrücksichten erklären, aber auch die Tatsache, dass die große Mehrheit der TschechInnen, SlowakInnen, KroatInnen usw. schon damals unleugbar keine weitere staatliche Union mehr wünschten, wird von Bauer nicht thematisiert, ein Selbstbestimmungsrecht der Nationen bis hin zur Abspaltung gesteht er ihnen nicht zu. Dabei gelingt es Bauer, sein Eintreten für den Fortbestand des Reiches mit einem ausgeprägten Deutschnationalismus zu verbinden, Österreich als deutschen Staat zu bezeichnen und schon in seinem Buch zur Nationalitätenfrage von 1907 die Überlegenheit der deutschen Kultur über die aller anderen Nationalitäten im Habsburgerreich zu betonen. Bei seiner Analyse der Nationalitätenfrage vertritt Bauer eine völlig ahistorische, metaphysische Auffassung von Nationalität, Nationen scheinen für ihn nicht Produkte der modernen bürgerlichen Entwicklung zu sein, sondern etwas Ewiges, von der Wirtschafts- und Gesellschaftsform Unabhängiges, so spricht er von „Nationen“ bzgl. der antiken Germanen. Diese eigenartige Verbindung von Deutschnationalismus und grundsätzlicher Loyalität gegenüber der Habsburgermonarchie war die Brücke, die es Bauer ermöglichte, die auf dem Papier weiterhin anerkannte marxistische Orthodoxie in der Praxis mit revisionistischen, staatsloyalen Positionen zu verbinden. Trotz seiner ständigen Reibereien mit Victor Adler war es darum nicht sehr verwunderlich, als Bauer sich bei Kriegsausbruch 1914 auf dessen kaisertreuen Kurs begab, begeistert als Offizier an die Front zog und vorher noch die ArbeiterInnen folgendermaßen ermahnte: "Zeigt, dass es auch in unseren Reihen keine Fahnenflucht gibt! Dass auch die Männer des Klassenkampfes bis zum letzten Atemzug zu ihrer Fahne stehen!" Anders als viele anfangs kriegsbejahende SozialdemokratInnen, die im späteren Kriegsverlauf unter dem Eindruck der Massenschlächterei umschwenkten (Siehe dazu die USPD in Deutschland), blieb Bauer jahrelang von der Notwendigkeit des Kampfes überzeugter Patriot, der noch 1917 schrieb: "Als im Jahre 1914 der Krieg ausbrach, eilten die Arbeiter aller Länder an die Front, ihr Vaterland zu verteidigen. Mit der Waffe in der Hand schützten sie ihr Vaterland gegen die Gefahr, die die Niederlage im Krieg über sie verhängen konnte. Das war, da der Krieg nun einmal ausgebrochen war, auch nach unserer Meinung das Recht und die Pflicht der Arbeiter aller Länder." Wohlegemerkt: Bauer schreibt nicht einmal, dass es nur für die österreichischen und deutschen Arbeiter eine Pflicht gewesen sei, für Kaiser und Vaterland zu den Waffen zu greifen, weil ihre Seite im Recht sei, sondern: Die Arbeiter ALLER Länder waren laut Bauer verpflichtet, sich als gute patriotische Soldaten verheizen zu lassen, auch wenn, wie auch immer man diesen Begriff definiert, ja kaum beide Kriegsblöcke „im Recht“ gewesen sein können, d.h.: Die Verpflichtung für österreichische Arbeiter, möglichst viele russische Arbeiter zu töten, für deutsche Arbeiter, möglichst viele russische und französische Arbeiter zu töten, für französische Arbeiter, möglichst viele deutsche Arbeiter zu töten usw., ist für Bauer eine ABSOLUTE Verpflichtung, wenn der Staat es befiehlt, ganz gleichgültig, ob er dafür irgendwelche legitimen Gründe vorweisen kann. Erst kommt der bedingungslose Gehorsam gegenüber dem Staat – und sei es auch eine neoabsolutistisch gefärbte Halbautokratie – und dann irgendwann der Klassenstandpunkt. An der Front wird Bauer im Herbst 1914 von russischen Soldaten gefangengenommen und geht nach Sibirien in Kriegsgefangenschaft, die ihm als Offizier allerdings relativ komfortabel gestaltet wird. 1917 ändert sich die politische Lage dramatisch und ermöglicht Bauers vorzeitige Rückkehr nach Österreich. In Russland fegt in der Februarrevolution ein ArbeiterInnenaufstand den Zarismus hinweg und bringt eine instabile republikanische Regierung aus Liberalen und Sozialdemokraten an die Macht. Und auch in Österreich kam die politische Lage in Bewegung: Im bereits vor Kriegsausbruch äußerst fragilen Habsburgerreich lodern mit zunehmender Kriegsdauer und schwindenden Siegesaussichten die politischen und sozialen Konflikte der Vorkriegszeit mit verstärkter Intensität wieder auf. Um die inneren Krisen zu entschärfen, entschließt sich der Habsburgerstaat zu einer mäßigen Liberalisierung, das Parlament wird reaktiviert und insbesondere die Kooperation mit der Sozialdemokratie gesucht, die man trotz aller offiziell revolutionären Rhetorik als eine eher staatstragende, konservative Kraft erkennt, die bei Heraufziehen einer echten Revolution dieser den Wind aus den Segeln nehmen könnte.
Der liberale Intellektuelle Josef Redlich schreibt im April 1917: "Ich glaube noch immer nicht an ein gutes Ende der russischen Revolution. Aber oben bei uns wird man vor lauter Angst ganz sozialdemokratisch." Aus den 20er Jahren gibt es ein nettes Wahlplakat der KPD, die eine wild und furchtbar dreinblickende, mit „SPD“ beschriftete Vogelscheuche zeigt, hinter der sich Kapitalisten, Junker, Generale und Pfarrer verbergen – diese Rolle des Abbremsens der spontanen proletarischen Revolution mit ihrer potentiell kommunistischen Stoßrichtung zur Wahrung des grundlegenden bürgerlich-kapitalistischen Rahmens spielt die Sozialdemokratie 1918 in Wien wie in Berlin und wie sie es 1917 in Petrograd versucht hatte. Das kaiserliche Außenministerium sowie die sozialdemokratische Parteiführung intervenieren bei den in Russland mitregierenden Menschewiki für Bauer, und tatsächlich kommt er frei und kehrt nach Österreich zurück, nach einem einmonatigen Zwischenaufenthalt in Petrograd im Juli/August 1917, wo er regelmäßige Kontakte mit den Menschewiki Julius Martow und Theodor Dan pflegt und von deren Politik offensichtlich schwer beeindruckt ist - nach seiner Rückkehr nach Wien schreibt Bauer eine Broschüre, in der er das alte Dogma wiederholt, eine proletarische Revolution sei im Agrarland Russland noch nicht möglich, nur eine bürgerlich-demokratische Entwicklung sei möglich und der Einsatz für diese mache die provisorische Regierung Kerenskis nun zum glorreichsten Vorkämpfer für die Demokratie in Europa. Die Bolschewiki sind für ihn, unter dem Eindruck der Juliunruhen in Petrograd, realitätsferne Abenteurer. Bauer führt nun einige Monate lang ein kurioses Doppelleben, ist gleichzeitig Repräsentant der Linken innerhalb der immer noch offiziell revolutionären SDAP UND als hoher Beamter im kaiserlichen Kriegsministerium angestellt. Von einem reaktionären Offizier wurde zwar bei der Staatspolizei eine Untersuchung gegen Bauer angestrengt, die Staatspolizei allerdings kam zum Schluss, dass Bauer zwar zu den Parteilinken gehöre, allerdings: "In taktischen Beziehungen ist das Verbleiben der Linken im Parteiverband von mäßigendem Einfluss auf ihre Haltung." Bauer bleibt im Kriegsministerium und die linken SozialdemokratInnen werden weiterhin wohlwollend geduldet. Und tatsächlich plädiert Bauer innerhalb der Parteilinken erfolgreich gegen eine Linksabspaltung nach dem Vorbild der USPD in Deutschland. Aber den Zerfall des Habsburgerreiches im Herbst 1918 kann auch die geeinte Sozialdemokratie nicht verhindern - die nationalistischen Bewegungen in den einzelnen Reichsteilen vollziehen den Bruch mit Wien, als die Kriegslage endgültig hoffnungslos wird, in Wien kommt es zu Massendemonstrationen von ArbeiterInnen und schließlich gibt die kaiserliche Regierung auf und übernehmen die Sozialdemokraten die vakant gewordene Macht. Ganz ähnlich wie die SPD steht auch die österreichische Sozialdemokratie, die ebenfalls die Revolution hatte vermeiden wollen, nach deren Ausbruch vor einer doppelten Aufgabe: Einerseits die einmal geschaffene Situation nutzen, um ihre Vorstellungen einer demokratisch-parlamentarischen Umgestaltung des Staates durchzusetzen, andererseits sich nach links gegen den drohenden Kommunismus zu wehren, die Revolution einzudämmen und zu verhindern, dass aus der politischen auch eine fundamentale soziale Revolution wird, die das ganze Wirtschafts- und Gesellschaftssystem umwirft. Bauer wird nach dem Tod Victor Adlers Außenminister und verfolgt in seiner Amtszeit drei hauptsächliche Ziele:
1.) Der Anschluss Deutschösterreichs an Deutschland. Bauer ist, wie schon erwähnt, glühender deutscher Nationalist, der schon in seinem Buch zur Nationalitätenfrage von 1907 geschrieben hatte "Die Sache der Arbeiterklasse ist die Sache der deutschen Nation". Die Vorstellung, Österreicher seien eine eigene Nation und keine Deutschen, war von Bauer und den meisten anderen SozialdemokratInnen energisch bekämpft worden, und ein selbstständiger österreichischer Staat nach dem Zerfall des Habsburgerreiches schien ihm völlig absurd. Zwar bemüht sich Bauer, marxistisch klingende Argumente für den Anschluss anzuführen - im konservativen Agrarland Österreich mit nur einer einzigen Großstaat sei keine progressive politische Entwicklung möglich, darum müsse man sich ans viel stärker urbanisierte und industrialisierte Deutschland anschließen - aber der emotionale Deutschnationalismus Bauers und der meisten anderen SozialdemokratInnen dürfte entscheidender für ihre Haltung gewesen sein. Immer wieder klagt Bauer darüber, dass ein als bäurischer Zwergstaat dahinvegetierendes selbstständiges Österreich zu einem vom Strom der Weltgeschichte abgeschnittenen engen, provinziellen, tristen Leben verurteilt sei. Im Mai 1919 schreibt Bauer an Kautsky: "Kommt der Anschluss nicht zustande, so wird Österreich ein armseliger Bauernstaat, in dem Politik zu machen nicht der Mühe wert sein wird." Außerdem brauche das Volk, das noch nicht an den Sozialismus glaube, eine andere große Idee, um seinen Lebenswillen zu stärken, also: Deutschnationalismus als ideeller Ersatz für Sozialismus.
2.) Aus der Konkursmasse des Habsburgerreiches sollen alle mehrheitlich deutschsprachigen Gebiete an die neue Republik Deutschösterreich kommen und dann mit dieser zusammen an Deutschland angeschlossen werden. Insbesondere die deutschsprachigen Gebiete Böhmens sowie Südtirol waren ihm dabei wichtig - über Südtirol erklärt Bauer im Dezember 1918: "Es gibt vielleicht nirgendwo einen Fleck deutscher Erde, der jedem Deutschen so teuer ist, wie gerade dieses deutsche Südtirol. So ist dieses Stück Erde jedem Deutschen heilig geworden und es wäre das ganze deutsche Volk in seinen tiefsten Gefühlen auf das Schmerzlichste verletzt, wenn es dieses Stück Erde verlöre." 3.) Eindämmung der kommunistischen Revolutionswelle, die um Österreich herum tobt. In Deutschland folgen nach dem November 1918 noch drei weitere große, nun kommunistische und gegen die Sozialdemokratie gerichtete revolutionäre Ausbrüche, und direkt an der österreichischen Grenze entsteht in Bayern eine Räterepublik, in der die KPD die Macht übernimmt. Im Osten entsteht gleichzeitig die ungarische Räterepublik unter Bela Kun. Mit seinen beiden ersten Zielen scheitert Bauer vollständig. Die alliierten Siegermächte sind nicht bereit, einen Anschluss Österreichs an Deutschland zu dulden - man hat nicht vier Jahre lang den blutigsten Krieg der bisherigen Geschichte gegen Deutschland geführt, damit es territorial vergrößert aus der Niederlage hervorgehe. Und auch die regierende deutsche Sozialdemokratie reagiert zurückhaltend auf Bauers Anschlussinitiative, um die Alliierten nicht zu provozieren. Die erste Republik, deren erste politische Handlung darin bestand, Österreich zu einem Gliedstaat Deutschlands zu erklären, muss nun kurioserweise gegen den Willen ihrer politischen Führung weiterexistieren. Auch bezüglich Südtirols und des Sudetenlandes ist nichts zu machen: Italien sieht gar keinen Grund, dem besiegten, ruinierten Österreich irgendwelche Zugeständnisse zu machen, und die Tschechoslowakei hat die Rückendeckung Frankreichs, das aus dem Land ein Bollwerk einerseits gegen den Bolschewismus, andererseits gegen ein Wiedererstarken Deutschlands machen will und darum die Tschechoslowakei mit möglichst viel Territorium und Ressourcen ausstatten möchte. Mehr Erfolg hat Bauer bei seinem dritten Anliegen, der Eindämmung der kommunistischen Revolutionswelle.
Am 11. April 1919 erklärt Bauer, dass Österreich sich zu den Räterepubliken in Bayern und Ungarn neutral verhalte, und in der Tat sieht die österreichische Regierung taten- und kommentarlos zu, als die von Noske und Ebert losgeschickten rechtsextremen Freikorps auf der anderen Seite der Grenze die Räterepublik zerschlagen und in München ein Blutbad unter KommunistInnen mit rund 2000 standrechtlichen Erschießungen veranstalten. Und als kurz darauf Frankreich seine neuen Satellitenstaaten Tschechoslowakei und Rumänien auf das kommunistische Ungarn loslässt, da unternimmt die österreichische Regierung nichts dagegen, dass französische Offiziere österreichische Armeebestände beschlagnahmen, um damit in der Tschechoslowakei die antikommunistische Invasionsarmee auszurüsten. Bauers letzte bedeutende Handlung als Außenminister ist die Unterzeichnung des Friedensvertrages von St. Germain, wobei er bezeichnenderweise besonders heftig gegen die Enteignung deutschösterreichischer Banken und Fabrikanten in der Tschechoslowakei protestiert, weil das den Tod des Finanzplatzes Wien bedeute. Im Sommer 1919 gab Bauer, entmutigt von den vielen Fehlschlägen, das Außenministerium ab, wobei der Revolutionär Bauer auch zunehmend von der ganzen anstrengenden Aktivität in Revolutionszeiten ermüdet ist und an Kautsky schreibt: "Ich wollte, man könnte wieder einmal ruhig wissenschaftlich arbeiten. Eigentlich ist es in der Kriegsgefangenschaft doch ganz schön gewesen!" Bis Ende 1919 bleibt Bauer allerdings in der Sozialisierungskommission aktiv, wo er die Rolle zu spielen hat, einerseits die ArbeiterInnen durch gewisse Schritte in Richtung Sozialismus abzubremsen, andererseits nicht das kapitalistische Wirtschaftssystem grundsätzlich zu gefährden und eine kommunistische Entwicklung zu riskieren. Auf dem Parteitag im Oktober 1919 legt Bauer zuerst theoretisch die Notwendigkeit der Sozialisierung für MarxistInnen dar, um dann aber zu konstatieren, JETZT sei dafür leider nicht der richtige Zeitpunkt, denn die Wirtschaft liege so darnieder, dass sie überhaupt erst einmal wieder in Gang gebracht werden müsse, was ihm nur auf kapitalistischer Basis möglich schien, und außerdem brauche Österreich mit seinen ruinierten Staatsfinanzen ausländische Kredite und dürfe deswegen die Westmächte nicht durch maßlose Angriffe auf das Kapital provozieren. Und überhaupt könne ein kleines Land wie Österreich nicht selbstständig zum Sozialismus voranschreiten, bevor nicht, überspitzt gesagt, erst der ganze Rest der Welt vor ihm sozialistisch geworden ist. Mitten in einer Revolution, mit der unbestrittenen Macht in den Händen und ohne eine organisierte, bewaffnete Konterrevolution wie in Deutschland gegen sich ist alles, in dem Moment also, in dem nichts sie daran hindern würde, ihr seit Jahrzehnten theoretisch proklamiertes Programm umzusetzen - in diesem Moment ist alles, was die SDAP durchsetzt eine maßvolle Vermögenssteuer und der Aufbau von ein paar wenigen Staatsbetrieben. Nachdem die Sozialdemokratie, und Bauer an vorderster Front, alle revolutionär linken Strömungen unter den ArbeiterInnen kanalisiert und abgewürgt haben, ist Österreich um 1920 wieder als kapitalistischer Staat stabilisiert, in dem das Bürgertum wieder fest im Sattel saß und sich wieder offen zu bürgerlichen Parteien bekennen konnte: Bei den Wahlen vom Oktober 1920 triumphieren die Christlichsozialen, die Sozialdemokraten scheiden aus der Regierung aus und bleiben bis zum Ende der 1. Republik in der Opposition, verlieren somit auch die Kontrolle über Armee und Polizei, was sich 1934 als fatal erweisen sollte. Die revolutionäre Chance ist vertan und die Sozialdemokratie darauf beschränkt, in Wien reformistische Kommunalpolitik zu betreiben Bauer, der nun de facto Obmann der sozialdemokratischen Parlamentsfraktion wurde, schwankt die ganzen 20er Jahre hindurch weiter unentschlossen zwischen Revolution und Reformismus hin und her: Einerseits bekennt er sich nach wie vor zum Ziel der Diktatur des Proletariats, andererseits stellt er in jeder praktischen politischen Situation fest, dass nun aber wirklich nicht der richtige Zeitpunkt dafür sei, dafür etwas zu unternehmen. Sozialismus ja, aber in irgendeiner noch nicht absehbaren ferneren Zukunft, heute gehe es erst einmal nur um den Aufbau von Demokratie und Sozialstaat.Dieser unentschlossenen Mittelposition entspricht auch die von Bauer initiierte Gründung der "Internationalen Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Parteien" Ende 1921, in der sich zentristische Parteien links der alten Sozialdemokratien und rechts der Kommunisten sammeln und die darum von den KommunistInnen als "Internationale Zweieinhalb" verspottet wird. Während Bauer sich immerhin theoretisch weiterhin auf die revolutionär sozialistischen Endziele beruft und die marxistische Orthodoxie verteidigt, wie er sie versteht, gehen viele Austromarxisten in den 20er Jahren sehr viel weiter nach rechts, insbesondere Karl Renner, der sich endgültig vom Marxismus auch in der Theorie verabschiedet und 1938 den Anschluss Österreichs ans dritte Reich bejubeln wird. Bemerkenswert ist auch, dass Bauer, der der leninistischen frühen Sowjetunion entschieden feindlich gegenüberstand und den Bolschewismus als Untergang der europäischen Kultur sah, ab den späten 20er Jahren der stalinistischen Sowjetunion zunehmend positiv gegenübersteht, ihre politische Mäßigung lobt und in den 30er Jahren zwar die stalinistischen Massenmorde persönlich erschütternd findet, gleichzeitig aber konstatiert, in einem primitiven Land wie Russland gebe es wahrscheinlich für den historischen Fortschritt keine Alternative zum Terror.
Beispielhaft für Bauers verbalen Radikalismus bei gleichzeitiger praktischer Zahnlosigkeit ist das maßgeblich von ihm gestaltete neue Linzer Parteiprogramm von 1926, in dem das Bekenntnis zur Diktatur des Proletariats bekräftigt wird, man somit die Christlichsozialen aufschreckt, aber anschließend in der praktischen Politik nichts tut, was die dafür nötige Revolution befördern oder zumindest die drohende Konterrevolution aufhalten könnte, wie sich ein Jahr später beispielhaft zeigt. 1927 werden im burgenländischen Schattendorf zwei SozialdemokratInnen auf einer Demonstration von Rechtsextremen erschossen - die Täter werden freigesprochen. Als daraufhin in Wien hunderttausende ArbeiterInnen, denen klar wird, dass sie nach der Revolution von 1918 immer noch in einem bürgerlichen Klassenstaat leben, auf die Straße gehen und den Justizpalast in Brand setzen, stellt sich die Sozialdemokratie nicht etwa an die Seite dieser Bewegung, um sie in eine politisch wirksame Richtung zu lenken, sondern bemüht sich gemeinsam mit der christlichsozialen Regierung um Eindämmung und empört sich Bauer zunächst über die disziplinlose Roheit der Massen. Die Eindämmung funktioniert nicht, die Polizei schlägt die Revolte gewaltsam nieder, 84 DemonstrantInnen werden erschossen, hunderte verwundet, und alles geht weiter wie zuvor, ohne dass die Sozialdemokratie mit dieser revolutionären Stimmung irgendetwas anzufangen gewusst hätte.
Auch in der Wirtschaftspolitik treiben die Sozialdemokratie im Allgemeinen und Bauer im Besonderen auch in der Opposition eine in den Kernfragen regierungs- und kapitalfreundliche Politik. Schon 1928 hatte Bauer auf einem Gewerkschaftskongress für zurückhaltende Lohnforderungen der ArbeiterInnen plädiert, um die Exportchancen der Industrie nicht zu gefährden, von denen doch das Wohlergehen aller abhänge, und als die christlichsoziale Regierung im Zuge der Weltwirtschaftskrise Anfang der 30er Jahre harte Austeritätsmaßnahmen beschließt, da stimmt die Sozialdemokratie 1931 dem Budgetsanierungsgesetz zu und hält Bauer eine große Rede, in der er zuerst die Verbrechen des Kapitals und die unsoziale Politik der Regierung geißelt, um dann festzustellen, dass man aber leider trotzdem nichts machen könne und den Kürzungen zustimmen müsse, weil das Wohl des ganzen Staates davon abhänge. Als schließlich im Laufe des Jahres 1933 unter der Kanzlerschaft von Dollfuß Österreichs schrittweise Umformung in einen klerikalfaschistischen Ständestaat beginnt, um die für das Kapital nötig gewordenen immer härteren Austeritätsmaßnahmen mit den Mitteln der Diktatur durchsetzen zu können, hat die demoralisierte, immer unglaubwürdiger werdende Sozialdemokratie dem außer Phrasen nicht viel entgegenzusetzen. Ihre Basis bröckelt weg - allein in Wien tritt in den letzten Monaten der ersten Republik ein Drittel der Parteimitglieder aus - und einen ernsthaften Plan, dem Machtausbau von Dollfuß Widerstand zu leisten gibt es nicht. Im Gegenteil, Bauer versucht örtliche Leiter von sozialdemokratischen Organisationen ausdrücklich davon abzuhalten, den Behörden bei Übergriffen Widerstand zu leisten. Als die Polizei am 12. Februar 1934 das Linzer Parteiheim der Sozialdemokraten durchsuchen will, eröffnen dortige Schutzbündler trotzdem das Feuer und geben damit das Signal zum Februaraufstand, in dem die einzelnen proletarischen Widerstandszentren ohne jede koordinierte Führung durch die Partei auf eigene Faust handeln und leicht besiegt werden, nachdem es auf Seite der Schutzbündler ca. 200 und auf Seite der Exekutive 128 Tote gegeben hatte. Der Weg zur Vollendung der austrofaschistischen Diktatur ist nun frei. Otto Bauer gelingt rechtzeitig die Flucht in die Tschechoslowakei, wo er in Brünn ein Auslandsbüro der österreichischen Sozialdemokratie leitet, sich einerseits, nun an der Spitze einer Phantompartei, zunehmend radikalisiert und sich den KommunistInnen annähert, andererseits mehr und mehr den Bezug zur politischen Realität verliert, bspw. von einer gemeinsamen Front der sozialdemokratischen ArbeiterInnen und der "deutschnationalen kleinbürgerlichen Massen" gegen Dollfuß phantasiert. Ja, den Anschluss Österreichs an Nazideutschland 1938 beurteilt Bauer nicht gänzlich negativ, sondern freut sich darüber, dass nun wenigstens die unnatürliche Eigenexistenz Österreichs beendet ist. Mit dem Anschluss und der drohenden Zerschlagung der Tschechoslowakei wird die Lage in Brünn für Bauer zu heikel, er flieht weiter nach Paris, kann dort aber keine bedeutende politische Aktivität mehr entfalten: Am 5. Juli 1938 stirbt Otto Bauer dort an einem Herzinfarkt. Politisch aufmerksame BetrachterInnen, die heute das Leben Otto Bauers Revue passieren lassen, müssen überrascht sein von der Aktualität der Probleme des Austromarxismus, die sich bei zahlreichen modernen linken Formationen wie Syriza gerade in frappierender Ähnlichkeit wiederholen: Varoufakis‘ „erratic marxist“-Rede und seine den in dieser Rede skizzierten Prämissen völlig entsprechende praktische Politik in den vergangenen Monaten klingen wie eine Neuinszenierung von Bauers theoretischem Ziel, den kapitalistischen Rahmen zu überwinden und zum Sozialismus voranzuschreiten bei gleichzeitigem praktischem Defätismus und dem achselzuckenden Eingeständnis, dass da momentan leider nichts zu machen und der Zeitpunkt für sozialistische Maßnahmen leider gerade ungünstig sei – und zwar gerade in einer brodelnden revolutionären Situation wie der im heutigen Griechenland oder in Österreich 1918-20! Wenn man nun aber fünfzig oder hundert Jahre däumchendrehend abwarte, werden sich die Kräfteverhältnisse schon irgendwie völlig verändern, und außerdem platze der Sozialismus keineswegs in Krisenzeiten, sondern nur in besonders stabilen kapitalistischen Boomphasen auf mystische Weise plötzlich aus dem Boden – so im Grunde das gemeinsame Credo von Varoufakis, wenn er meint, die griechische Krise sei der denkbar schlechteste Moment für einen Bruch mit dem Kapitalismus und von Otto Bauer, wenn er nach dem ersten Weltkrieg eine ernsthafte Sozialisierung der Wirtschaft mit dem skurrilen Argument ablehnt, nun gehe es erst einmal darum, die Wirtschaft überhaupt wieder in Gang zu bringen, wobei diesem gebildeten Marxisten verborgen zu bleiben schien, dass er mit dieser Begründung der marxistischen Theorie ein Todesurteil ausstellte, impliziert das doch, dass kapitalistische Wirtschaften grundsätzlich leistungsfähiger und effizienter als planwirtschaftliche seien – wenn dem aber so ist, dann ist der Sozialismus kein Fortschritt, sondern ein unterlegenes Wirtschaftssystem, das sich niemals global gegen den Kapitalismus wird durchsetzen können. In diesem Fall gibt es keinen intellektuell überzeugenden Grund, nicht einfach Liberaler zu werden und das implizit als beste Wirtschaftsordnung anerkannte System offen zu affirmieren.
Der Austromarxismus wie heute Varoufakis und Co stehen vor dem Dilemma, den Sieg des Sozialismus im Grunde für eine Unmöglichkeit zu halten, sich aber trotzdem nicht von ihm als theoretisches Ziel trennen zu können, was zu immer schreienderen Gegensätzen zwischen Theorie und Praxis führt, zur praktischen Übernahme und Durchsetzung einer bürgerlich-kapitalistischen Logik, gegen die man theoretisch polemisiert. So bestand für Bauer kein Widerspruch darin, gleichzeitig harte Austeritätsmaßnahmen für die Sanierung des angeschlagenen österreichischen Kapitals durchzuführen und dabei Essays über marxistische Theorie zu schreiben, wie heute für Varoufakis kein Widerspruch darin besteht, vom Sozialismus zu träumen und gleichzeitig dem Austeritätsdiktat der Troika ein Zugeständnis nach dem anderen zu machen, in der Überzeugung, dass Widerstand sowieso sinnlos ist und die Welt nun einmal bleiben wird wie sie ist. Wenn Syriza die schwelende griechische Revolution noch zu einem glücklichen Ende führen soll, dann wird sie keinen griechischen Otto Bauer brauchen – sondern einen griechischen Lenin.