Do 01.06.2017
Die britische Premierministerin Theresa May hat Neuwahlen verkündet. Entgegen ihrer eigenen Aussage über die Gründe, die dahinter stehen sollen, geht es in Wirklichkeit nur um eines: die Schwäche der Regierung angesichts einer immer stärker werdenden Wut in der britischen Gesellschaft.
Die Beschäftigten in Großbritannien leiden unter der längsten Lohnflaute seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Sozialkürzungen führen dazu, dass Millionen von Menschen nicht mehr genug Geld haben, um sich und ihre Familien zu ernähren. Im abgelaufenen Jahr ist mit 200.000 Personen eine Rekordzahl an Menschen aufgrund von Mangelernährung ins Krankenhaus eingewiesen worden. Sowohl dem Bildungsbereich wie auch dem Gesundheitssystem NHS drohen lebensbedrohliche Einschnitte. Die Wohnungskrise ist akut. Und die neuen, extrem heftigen, gewerkschaftsfeindlichen Gesetze führen unter GewerkschafterInnen zu Verbitterung und Frustration.
May führt bei weitem keine starke Regierung an. Sie fürchtet sich wegen der lediglich hauchdünnen Parlamentsmehrheit der Tories vor unfreiwilligen 180-Grad-Wendungen. Derer gab es allein im ersten Jahr der Tory-Regierung ganze elf. Um noch weitere zu verhindern, vollzog May jetzt die bisher Bedeutendste. Hatte sie vorher noch versprochen, keine vorgezogenen Neuwahlen durchzuführen, hat sie sie nun doch angekündigt. Das zeigt, dass kapitalistische PolitikerInnen die Regeln nach eigenem Bedarf ändern. Cameron und Clegg haben den Fixed-term Parliaments Act (Gesetz, welches Parlamentswahlen alle fünf Jahre vorsieht; Anm. d. Ü.) eingeführt, um die Koalitionsregierung für fünf Jahre zu stützen. Jetzt bricht May damit, um eine schwache Tory-Regierung zu stärken. Sie pokert auf Basis der derzeitigen Umfragewerte und setzt darauf, die Wahlen mit einer größeren Mehrheit zu gewinnen, um dann ihr wirkliches Programm besser durchsetzen zu können. Bisher scheint es „nur“ um warme Worte und darum zu gehen, „lediglich die Geschäfte zu führen“. Zu erwarten ist hingegen brutale Austeritätspolitik.
Hohes Risiko für die Tories
Dabei geht May ein hohes Risiko ein. Das wirkliche Ergebnis wird erst am 8. Juni, dem Tag der vorgezogenen Neuwahl, klar. Und bis dahin kann noch so einiges passieren. Teilweise versucht sie, die Wahl als ein Referendum zum Brexit darzustellen. Sie hofft, dass jenes Drittel der Tory-WählerInnen, welches das „Remain“-Lager unterstützte, widerwillig erneut ihre Regierung unterstützt. Eine Garantie dafür gibt es freilich nicht. Einige werden sich im Juni sicherlich für die Liberaldemokraten entscheiden, die ebenfalls für den Verbleib in der EU waren.
Darüber hinaus ist es äußerst unwahrscheinlich, dass die verhassten Tories in Schottland bedeutend vordringen können. Die Scottish National Party hat ihr wahres Gesicht noch nicht vollständig enthüllt und wird wahrscheinlich zum großen Teil ihre Wählerbasis halten. Nach dem Sieg in der Nachwahl in Copeland hat May sicherlich neue Hoffnung, dass die Tories im Norden Englands ihre Position ausbauen können. Allerdings nahmen die absoluten Stimmen für die Tories sowohl bei den Nachwahlen in Copeland als auch in Stoke ab. Die Tories gewannen in Copeland nur, weil ihr Stimmergebnis weniger sank als das von Labour.
International betrachtet, scheint die Lehre der letzten Wahlen zu sein, dass die WählerInnen von den USA über Frankreich bis in die Niederlande das kapitalistische Establishment abstrafen wollen. Die Parteien und KandidatInnen, die von sich behaupten, gegen das Establishment anzutreten, finden massenhaft Anklang. In Frankreich kommt der Präsidentschaftskandidat Mélenchon, der mit einem linken Programm antritt, mittlerweile auf 19 Prozent in den Meinungsumfragen (Stand 18.April). Jeremy Corbyn, Vorsitzender der britischen Labour Party, muss jetzt einen Wahlkampf in Gang bringen, der sich auf sozialistische Politik stützt, die für die Arbeiterklasse von Bedeutung ist.
Politik für sozialistischen Wandel
Es ist klar, dass ein großer Teil der pro-kapitalistischen Clique an der Spitze der Labour Party diese Neuwahlen insgeheim gut findet, weil man hofft, dass Corbyn verlieren wird und man ihn dann leichter durch einen rechteren Parteivorsitzenden ersetzen kann, der der Austerität weniger abgeneigt ist. Allerdings könnten sie den Tag noch bereuen, an dem diese Neuwahlen verkündet worden sind. Wenn Corbyn auf der Grundlage eines klar sozialistischen Programms – für einen „Brexit“ im Interesse der Arbeiterklasse und der Mittelschichten – antritt, dann kann er die Wahlen gewinnen.
Die Positionen, die ihn an die Spitze der Labour Party befördert haben, sind dafür ein guter Anfang: Sofortige Einführung eines 10-Pfund-Mindestlohnes, kostenlose Bildung für alle, massives Wohnungsprogramm und Verstaatlichung der Bahn- und Energiekonzerne. Das sollte mit Positionen wie einem sofortigen Ende aller Kürzungen im öffentlichen Dienst und dem Versprechen der sofortigen Wiederverstaatlichung der Post einhergehen.
Jeremy Corbyn sollte klarmachen, dass er die privaten Träger aus dem Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge und der Bildung raushalten wird. Er sollte die Einführung eines wirklich sozialistischen NHS ankündigen, das dann ausreichend finanziert wäre, allen zugute käme, hohe Qualitätsstandards erfüllen und der demokratischen Kontrolle der Bevölkerung unterliegen würde. Dann wäre Pflege von dem Punkt an kostenlos, ab dem man sie benötigt. Diese Forderungen sollten mit der Notwendigkeit eines grundlegenden, sozialistischen Wandels verbunden werden. Wir brauchen eine Gesellschaft, welche sich nach den Interessen der Mehrheit und nicht nach den Profiten der Wenigen richtet.
Solch eine Wahlkampagne sollte sich nicht nur auf Reden und Werbespots beschränken. Die Kampagne zum Erhalt des NHS sollte mit der Massenbewegung verbunden werden, welche am 4. März mit der landesweiten Demonstration begann. Jeremy Corbyn hielt auf dieser Demo eine Rede. Jetzt sollte er zusammen mit den Gewerkschaften und den GesundheitsaktivistInnen zu einer zweiten Demonstration aufrufen – während des Wahlkampfs. Das würde Millionen auf die Straße mobilisieren – gegen die Tories und für den Erhalt des NHS.