Nach der Revolution ist vor der Revolution

„Brot, Freiheit, Soziale Gerechtigkeit!“ „Das Volk will den Sturz des Regimes!“ (Demoslogans, Kairo)
Janos Rohn

Mohamed Bouazizi war einer von vielen. Ohne Perspektive auf ein besseres Leben, von den Behörden misshandelt. Der tägliche Kampf ums Überleben wurde für den 26 jährigen tunesischen Gemüsehändler unerträglich. Als er sich im Dezember 2010 selbst verbrannte wurde sein verzweifelter Protest Auftakt einer internationalen revolutionären Welle. Millionen Menschen in Nordafrika, dem Nahen Osten und weit darüber hinaus sahen sich und ihre Situation in den Bildern aus Tunesien.

Alle Versuche des seit 23 Jahren herrschenden Regimes von Ben Ali, Berichte zu unterdrücken und Proteste zu verunmöglichen, waren zum Scheitern verurteilt. Die Gewalt gegen Demonstrant*innen brachte nur noch mehr Menschen auf die Straße. Jugendliche, Studierende, Arbeitslose, Bergarbeiter*innen, Anwält*innen… immer mehr demonstrierten und stellten sich gegen das Regime. Unter massivem Druck der Basis reihte sich die Einheitsgewerkschaft UGTT in die Proteste ein. Die organisierte Macht der tunesischen Arbeiter*innenklasse brach dem Regime das Genick. Der Generalstreik legte Wirtschaft und Gesellschaft lahm, hunderttausende waren auf den Straßen – die Diktatur fiel.

Der Sieg der Massenbewegung in Tunesien zeigte, dass jedes Regime, so fest es auch im Sattel zu sitzen schien, gestürzt werden konnte. Wenige Tage nach Ben Alis Abgang strömten in Ägypten die Massen auf die Straßen. Arbeiter*innen in den Textil- und Zementfabriken legten die Arbeit nieder, von den Elendsvierteln am Rande Kairos kamen die Menschen auf den zentralen Tahrir-Platz. Zum Höhepunkt der Revolution Anfang 2011 übernahmen bis zu zwei Millionen Menschen das Stadtzentrum Kairos. Hunderttausende demonstrierten in anderen Teilen des Landes. Der Tahrir-Platz war nicht nur symbolisches Zentrum der Bewegung, sondern auch ein Forum, in dem Arbeiter*innen, Jugendliche, Frauenrechtsaktivist*innen und viele mehr zusammenkamen, Aktionen planten, die Versorgung von Verwundeten organisierten, Selbstschutz gegen Übergriffe der Polizei von außen und sexistische Übergriffe von „innen“ sicherstellten – kurz, es war ein Ort, an dem Demokratie von unten und die Selbstorganisation der Massen in der Praxis gelebt wurde. Alle Gewalt der Polizei – in den ersten zwei Wochen wurden 846 Menschen getötet – und der Einsatz von Schlägertrupps konnten die Bewegung nicht aufhalten. Unter Jubel und Feuerwerken wurde Langzeitdiktator Hosni Mubarak am 25. Jänner 2011 abgesetzt.

Vom Atlantik bis Iran schien kein Stein mehr auf dem anderen zu bleiben. In Marokko forderten Studierende und Gewerkschafter*innen soziale und demokratische Rechte, in Algerien forderten sie billigere Lebensmittel und ein Ende der Diktatur, in Libyen erhoben sich ganze Städte gegen die Gewalt des Gaddafi-Regimes. In Jemen und Bahrain forderten die Massen das Ende der Diktatur und in Syrien und dem Irak formierten sich Massenbewegungen gegen Armut, Ausbeutung und Unterdrückung, die alle ethnischen und religiösen Gruppen einschlossen. Selbst auf den Plätzen Spaniens, Italiens, Griechenlands, und Israels hallten die Forderungen der tunesischen und ägyptischen Revolution wider. Die Revolution war international, kein Regime schien stabil und nichts schien sie aufhalten zu können.

Die ursprüngliche Kraft der revolutionären Bewegungen lag im Zusammenwirken zwischen der (zumindest in Teilen) organisierten Arbeiter*innenbewegung mit den verarmten städtischen Massen und großen Teilen einer Jugend, die nichts mehr zu verlieren hatte und der Weigerung, Spaltung entlang ethnischer und religiöser Linien zuzulassen. Diese Bewegung traf auf Regimes, die der Bevölkerung außer Repression nichts anzubieten hatten und deren überalterte Diktatoren über kaum gesellschaftlichen Rückhalt verfügten. Dies ermöglichte den relativ schnellen Sturz von Ben Ali und Mubarak, sowie (tlw. unter anderen Vorzeichen) Ali Abdullah Salihs im Jemen.

Trotz aller Energie und Opferbereitschaft der Massen, ein Großteil ihrer Forderungen blieb unerfüllt. In Ägypten und Tunesien schritt das Militär ein und garantierte die Stabilität von Staat und Kapital. Syrien, Jemen und Libyen versanken im Bürger*innenkrieg. Vor allem die soziale Lage großer Teile der Bevölkerung hat sich nicht verbessert. Während für die Masse der an der Revolution Beteiligten soziale Forderungen ebenso zentral waren, wie jene nach demokratischen Rechten, wurden die Bewegungen auf den anti-diktatorischen Teil eingeengt. Die Militärs in Ägypten und Tunesien waren zwar bereit, den alten Diktator abzusetzen, Zugeständnisse, welche die Profite der Herrschenden angegriffen hätten, waren so nicht zu holen. Dabei sicherten die Militärs bürgerliche Herrschaft und den eigenen Einfluss.

Die Revolutionen zeigen die Notwendigkeit, soziale und demokratische Forderungen miteinander zu verbinden. Der politischen Linken in der Region, historisch in der Etappentheorie verhaftet (zuerst bürgerliche Demokratie – sozialistische Forderungen später), gelang es nicht, den Kampf gegen die Diktatur mit einem Kampf für soziale Rechte und eine fundamental neue Gesellschaft zu verbinden. So wurden dann auch die Hoffnungen in die demokratischen Zugeständnisse durch Eliten und das Militär bitter enttäuscht.

In Libyen und Syrien, wo Staatsapparat und Staatsspitze enger verbunden waren (sind) als in Tunesien oder Ägypten, versuchte das Militär die Proteste mit Gewalt niederzuschlagen. Anstatt die Spitze des Regimes zu opfern und etwas Macht abzutreten, um sie zu behalten, wurde der Bürger*innenkrieg geschürt. Dazu kamen ethnische und religiöse Spaltungen, welche Gaddafi und Assad nutzten, um ihre eigene soziale Basis zu sichern und die Bewegungen mit Gewalt zu unterdrücken. Die katastrophalen Kriege in Syrien, Libyen und Jemen wurden dabei durch ausländische Interventionen verschärft.

Trotz liberal-moralischer oder pseudo-antiimperialistischer Rhetorik: Keine der beteiligten Seiten interessiert sich tatsächlich für die demokratischen und sozialen Forderungen der Menschen. Den EU-Staaten, welche bis 2011 beste Beziehungen zu den Diktaturen pflegten, geht es um regionale Stabilität, das Abweisen von Flüchtlingen, und den Zugang zu Ressourcen. Russland und die USA unterstützen ihre jeweiligen Verbündeten, um strategische Positionen zu erhalten. Das iranische Regime und die Golfmonarchien liefern sich einen Kampf um Macht und Einfluss in der Region und unterstützen dabei die verschiedensten djihadistischen Milizen.

Die Enttäuschung über die neuen Diktaturen und die Schrecken der Bürger*innen- und Stellvertreter*innenkriege in der Region veranlassen heute all jene bürgerlichen Kommentator*innen, denen ohnehin vor jeder Massenbewegung graut, den „arabischen Frühling“ als Fehlschlag zu bilanzieren. Die Menschen in der Region und darüber hinaus ziehen aber ihre eigenen Schlussfolgerungen. In den neuen Massenprotesten der letzten Jahre in Tunesien, Algerien, Ägypten und Irak spielt die Arbeiter*innenklasse eine immer zentralere, organisierte Rolle. 2019 stürzten Arbeiter*innen und Jugendliche den langjährigen sudanesischen Diktator Omar Al-Bashir. Sofort stellten die Revolutionär*innen klar: Kein Vertrauen in die Armee, Solidarität aller ethnischen und religiösen Gruppen, Kampf für soziale Gerechtigkeit und Demokratie! Für eine neue Generation von Arbeiter*innen und Jugendlichen sind die Lehren des „arabischen Frühlings“ zentral für die nächste Revolution.

 

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