Marx aktuell: Was ist eigentlich Sozialismus?

Nicolas Prettner

Eine Frage, die schwerer zu beantworten ist, als es auf den ersten Blick scheint. Utopische SozialistInnen wie Fourier oder Saint-Simon hatten ein idealistisches Bild einer sozialistischen Gesellschaft. Angeekelt vom Elend der Menschen im Kapitalismus setzten sie sich Gerechtigkeit und Gleichheit zum Ziel, ohne die Gesetze des Kapitalismus ausreichend zu untersuchen. Die Ursachen der Missstände suchten sie eher im Individuum als im Wirtschaftssystem. Fourier z.B. verband seine Kritik an Finanzspekulation mit Antisemitismus. Bei anderen beinhaltete Sozialismus eine bestimmte Menge Zucker pro Person oder Tanzunterricht – weil man selbst das gerne wollte.

Marx und Engels stellten den Kampf um Sozialismus auf eine wissenschaftliche Grundlage. Sie setzten sich mit den notwendigen wirtschaftlichen und politischen Grundlagen für eine sozialistische Gesellschaft auseinander. Im „Manifest der kommunistischen Partei“ formulierten sie 1848: “Wenn das Proletariat ... die alten Produktionsverhältnisse aufhebt, so hebt sie mit diesen Produktionsverhältnissen die Existenzbedingungen des Klassengegensatzes, die Klassen überhaupt, und damit seine eigene Herrschaft als Klasse auf. An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ Die demokratischen Räte-Strukturen der Pariser Commune 1871 sahen sie als Vorbild für die Demokratie im Sozialismus. Nach einem detaillierten Bild von Sozialismus wird man bei ihnen aber vergeblich suchen: sie wollten und konnten kommenden Entwicklungen nicht vorausgreifen, die durch eine Entfesselung der technischen und menschlichen Möglichkeiten erst möglich sein werden.

Im Gegensatz zum grundlegenden, aber undogmatischen Umgang von Marx und Engels hat der Stalinismus ein sehr starres Bild vom Sozialismus. Der von ihnen so genannte „real existierende Sozialismus“ wurde unterschieden von einer künftigen sozialistischen Gesellschaft. Und Kernstück der stalinistischen Ideologie war die Idee, dass Sozialismus in einem Land möglich wäre. So wurde Nationalismus, Mangel und Diktatur gerechtfertigt und auf eine ferne Zukunft verwiesen, in der ein „neuer Mensch“ entstanden sein sollte. Man war wieder beim Idealismus gelandet und schuf ein pseudoreligiöses Bild, um die Leiden und Schrecken der stalinistischen Diktatur als zeitbedingt und begrenzt erträglich zu machen.

Heute müssen wir betonen, was Sozialismus alles NICHT ist: Weder ein schaumgebremster Kapitalismus sozialdemokratischer Prägung noch die Diktaturen des Stalinismus. Sozialismus setzt der Unterdrückung des Menschen durch den Menschen ein Ende und ersetzt sie durch eine klassenlose Gesellschaft. Diese neue Gesellschaft schafft keinen einheitlichen Menschen, sondern gerechte und gleiche Ausgangsbedingungen zur vielfältigen Entwicklung aller Menschen. Bis wir dort ankommen, ist noch viel zu tun. Es gilt eine revolutionäre Bewegung zur Überwindung des kapitalistischen Systems aufzubauen. Denn wie es Rosa Luxemburg vor 100 Jahren schon richtig sagte, stehen wir vor der Wahl: „Sozialismus oder Barbarei“.

 

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