Di 01.03.2022
Eines der Themen, denen sich Kollontai widmete, war Prostitution. Zu ihren Lebzeiten waren viele Frauen gezwungen, ihren Körper zu verkaufen, um ihre Familien zu ernähren. Die sozialistische Revolution hatte die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen verbessert, doch Prostitution war noch nicht verschwunden. Im Kapitalismus ist Prostitution das Ergebnis von Ungleichheit und Armut, die der Klassengesellschaft eigen sind. Die bürgerliche Moral verurteilt die Prostitution nicht, weil sie die Frauen gefährdet oder weil sie den Sexismus verewigt, sondern weil sie augenscheinlich der monogamen Ordnung widerspricht. Wie schon Marx und Engels erklärt auch Kollontai, dass eine Ehe, in der eine Frau finanziell von ihrem Partner abhängig ist, sich nicht wesentlich von der Prostitution unterscheidet, da beide Beziehungen auf materiellem Tausch beruhen.
Die Bolschewiki entkriminalisierten Prostitution nach der Revolution rasch, wobei sie auch versuchten, die Frauen von dem Stigma zu befreien. Kollontai vertrat die Ansicht, dass Prostitution Ungleichheit hervorruft und die Solidarität innerhalb der Arbeiter*innenklasse bedroht: Ein Mann, der den Körper einer Frau kauft, denkt schlechter von allen Frauen. Kollontai und die Bolschewiki arbeiteten daran, im gesamten Arbeiter*innenstaat Programme zur Unterstützung von Frauen einzurichten, die aus der Prostitution aussteigen wollten, einschließlich Wohnungen und Berufsausbildung. Kollontai wies darauf hin, dass zwar einige Faktoren, die zur Prostitution beitragen im Arbeiter*innenstaat abgeschafft wurden, andere jedoch weiterhin bestehen. Sie verwies auf Obdachlosigkeit, Vernachlässigung, schlechte Wohnverhältnisse, Einsamkeit und niedrige Löhne - die Bolschewiki arbeiteten daran, diese Faktoren zu beseitigen, was angesichts der objektiven Lage (Krieg, Bürgerkrieg, Isolation der Revolution) nicht von heute auf morgen möglich war. Kollontai war der Ansicht: Um freie Entfaltung von Liebe und Sexualität zu erreichen, ist die Verbesserung der materiellen Bedingungen unabdingbar, aber sie reicht nicht aus, es muss eine neue Moral gefördert werden. Sie plädierte für Sexualerziehung in den Schulen und für Diskussionen über Ehe, Familie und die Geschichte der Beziehungen zwischen den Geschlechtern. Obwohl Prostitution später unter Stalin kriminalisiert wurde, hatten die Bolschewiki einen nüchternen Klassenansatz gegenüber der Prostitution - sie erkannten ihre materiellen Ursachen und arbeiteten daran, sie zu beseitigen, und wiesen auf die Notwendigkeit hin, sexistische und vorurteilsbehaftete Wahrnehmungen, die aus der bürgerlichen Moral stammen, zu verlernen und eine neue Moral für eine gleichberechtigte, sozialistische Gesellschaft zu schaffen.
Lesetipp: “Prostitution und Wege, sie zu bekämpfen” von Alexandra Kollontai, Rede auf der dritten gesamtrussischen Konferenz der Leiterinnen der regionalen Frauenabteilungen, aus dem Jahr 1921 (https://www.marxists.org/archive/kollonta/1921/prostitution.htm)