Sa 27.07.2019
Dieser Text ist die Übersetzung einer Artwort der Socialist Alternative (Schwesterorganisation der SLP) auf einen Text im Jacobin Magazine vom 02.04.2019.
Link zum Artikel im Jacobin (englisch): https://www.jacobinmag.com/2019/04/karl-kautsky-democratic-socialism-elections-rupture
Link zur Antwort (englisch): https://www.socialistalternative.org/2019/07/18/kautsky-and-the-parliamentary-road-to-socialism-a-reply-to-eric-blanc/
Wir durchleben eine dramatische Phase in der Geschichte der USA. Während die Trump-Präsidentschaft die Rechte ermutigt hat, haben wir auch das Wiederaufleben von Streiks, das Wachstum einer neuen Linken mit der DSA, Alexandria Occasio Cortez' atemberaubenden Aufstieg in das Zentrum der amerikanischen Politik und jetzt die Möglichkeit einer Präsidentschaft von Bernie Sanders erlebt. Eric Blancs jüngster Artikel in Jacobin über "Why Kautsky was Right" [„Warum Kautsky Recht hatt“] zielt eindeutig darauf ab, neueren Aktivist*innen zu helfen, sich damit auseinanderzusetzen, wie die Wahlerfolge der Sozialist*innen zu einem Systemwechsel und der Beendigung des Kapitalismus führen können. Die Argumentation des Artikels geht über Wahlkandidaturen hinaus zur Wichtigkeit des Aufbaus sozialer Bewegungen und die Notwendigkeit, eine marxistische Strömung innerhalb der DSA aufzubauen. All dies ist sehr positiv.
Die jüngsten Erfahrungen der linken Koalition Syriza-Regierung in Griechenland und die mögliche Wahl einer Corbyn-Regierung in Großbritannien führen zu einer Diskussion über den Weg zum Sozialismus und die Rolle einer linken Partei im Parlament, eine entscheidende Diskussion für Aktivist*innen. Deshalb begrüßt Socialist Alternative diese Diskussion.
Für einen Großteil des letzten Jahrhunderts lebte fast die Hälfte der Welt in Gesellschaften, die den Kapitalismus gestürzt hatten. Dieser Prozess begann mit der Machtübernahme der Arbeiterklasse in Russland im Jahr 1917. Trotz der politischen Degeneration der UdSSR führte die Krise des Kapitalismus im 20. Jahrhundert die arbeitenden Menschen kontinuierlich zur Revolution. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass diejenigen, die für eine demokratische, sozialistische Gesellschaft heute kämpfen, mit diesen revolutionären Prozessen vertraut sind, um uns zu verstehen, wie die arbeitende Klasse ihre eigenen Organisationen auf der Grundlage ihrer Siege und Niederlagen prüft und welche Rolle eine marxistische Strömung und Partei spielen kann.
Blanc kritisiert zu Recht jene ultra-linken Gruppen, die sich "aus Prinzip" gegen die Teilnahme an Parlamenten aussprechen und die revolutionäre Strategie auf die Frage der "Machtergreifung" reduzieren. Indem Blanc jedoch Lenin mit Kautsky und die Russische mit der finnischen Revolution vergleicht, bittet er die Leser*innen, zwischen zwei falsch polarisierten Konzepten zu wählen. Da die wichtigsten Lehren aus jeder Revolution fehlen, sind die Schlussfolgerungen des Artikels unausgewogen und werden junge sozialistische Aktivist*innen falsch bilden.
Ist Kautsky jetzt relevant?
Karl Kautsky war ein führender sozialistischer Theoretiker während des Aufstiegs des deutschen Kapitalismus im späten 19. Jahrhundert, als die Idee, dass der Sozialismus den Kapitalismus durch schrittweise Gesetzesreformen ersetzen könnte, unter den Gewerkschaftsführer*innen und in einem Flügel der Deutschen Sozialdemokratischen Partei (SPD) entstand. Kautsky lehnte diesen Reformismus vor allem wegen der Schlussfolgerungen ab, die Marx aus den Erfahrungen der Pariser Kommune von 1871 gezogen hatte, wo die Arbeiter*innenklasse drei Monate lang an der Macht war. Kautsky und Lenin stimmten beide mit Marx überein, dass der alte kapitalistische Staatsapparat nicht einen Stein nach dem anderen übernommen werden konnte, sondern abgebaut und durch einen demokratischen Arbeiter*innenstaat ersetzt werden musste.
Kautsky, wie Blanc selbst betont, fiel schließlich selbst dem Reformismus zum Opfer. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, lehnte Kautsky zusammen mit der SPD-Spitze den sozialistischen Internationalismus ab und unterstützte die Kriegsmobilisierung der herrschenden Klasse Deutschlands. Dieser historische Verrat, der von fast allen Führer*innen der Massenparteien der arbeitenden Klasse in Europa wiederholt wurde, führte 16 Millionen Arbeiter*innen in den Tod. Im Zuge des Krieges breiteten sich Revolutionen in ganz Europa aus.
Finnlands Parlament und Partei
Im Mittelpunkt von Blancs Artikel steht die Vorstellung, dass die russische Revolution für die Werktätigen in fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern nicht relevant ist und dass wir mit der finnischen Revolution von 1917-8 ein neues Modell für einen "parlamentarischen Weg zum Sozialismus" finden werden, den Kautsky konzipiert hatte.
Zum Zeitpunkt dieser Revolutionen wurden Finnland und Russland von den Zaren mit eiserner Faust regiert und hatten nur eingeschränkte Wahlfreiheit. Das politische System Russlands bevorzugte Großgrundbesitzer und die im Entstehen begriffenen Kapitalisten und hinderte Arbeiter und arme Bauern, die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, daran, irgendeine politische Macht zu besitzen. Die vom Zaren geschaffene Duma war in keiner Weise ein wahres bürgerliches Parlament. Sie hatte eine sehr begrenzte Macht und konnte jederzeit vom Zaren aufgelöst werden. Tatsächlich war eine echte parlamentarische Demokratie eine wichtige Forderung der Opposition gegen den Zarismus. Dennoch nahmen die Bolschewiki, der linke Flügel der russischen Sozialdemokratischen Arbeiter*innenpartei, an den meisten Wahlen teil und konnten Vertreter in die Duma wählen lassen. Laut Alexej Badajew (Bolschewiki in der Zaristischen Duma, 1929), erhielten die Bolschewiki die Unterstützung von 88% der eine Million Industriearbeiter*innen, die bei den Wahlen 1912 gewählt hatten.
In Finnland, damals Teil des Russischen Reiches, gewährte der Zar 1907 nach der Revolution von 1905 ein beschränktes Parlament. Zwischen 1908 und 1916 wurde die Macht des finnischen Parlaments durch den russischen Zaren Nikolaus II. mit einer Regierung, die aus Offizieren der kaiserlich-russischen Armee während der zweiten Periode der "Russifizierung" bestand, fast vollständig neutralisiert. Das Parlament wurde aufgelöst und fast jedes Jahr fanden Neuwahlen statt. Als die Finnische Sozialdemokratische Partei (SDP) bei den Wahlen 1916 die Mehrheit gewann, schloss der Zar das Parlament erneut. So erlebte Finnland keine anhaltende politische Stabilität, im Gegensatz zu Kautskys Deutschland oder Finnlands Nachbar Schweden, wo die Ideen des Reformismus stärker waren und die sozialistischen Parteien bürokratischer wurden, da sie zunehmend von Gewerkschaftsfunktionär*innen und Parlamentsvertreter*innen dominiert wurden.
Blanc führt den Wahlsieg der finnischen SDP auf "geduldige klassenbewusste Organisation und Bildung" zurück, was wahr ist, aber den dramatischen Bewusstseinswandel, der durch die Ereignisse, insbesondere den Krieg, hervorgerufen wird, auslässt. Finnland verzeichnete keinen stetigen, allmählichen wirtschaftlichen Fortschritt, sondern aber in diesem Zeitraum sehr wechselhaft, in vielerlei Hinsicht eher der russischen Erfahrung ähnlich. Russische und finnische Sozialisten standen ebenfalls im ständigen Dialog, und der richtige Ansatz der Bolschewiki in Bezug auf nationale Unterdrückung und die Unterstützung des Selbstbestimmungsrechts Finnlands stärkte die Beziehungen. Auf dem finnischen SDP-Kongress im Juni 1917 erhielt die russische bolschewistische Führerin Alexandra Kollontai tosenden Applaus, als sie die sozialistische Revolution und das Recht Finnlands auf Unabhängigkeit forderte. Die Bolschewiki waren zutiefst internationalistisch, was sich in den vielen Juden*Jüdinnen, Georgier*innen, Ukrainer*innen und anderen nationalen Minderheiten in ihrer Führung widerspiegelt.
Die Behauptung, dass finnische Sozialisten "unter die Führung eines Kaders junger Kautskyisten unter der Leitung von Otto Kuussinen" fielen", ist eine sehr einseitige Momentaufnahme des Prozesses. Ende 1918 war Kuussinen, der mit dem Sieg der Weißen im Mai 1918 aus Finnland geflohen war, den Bolschewiki beigetreten und gründete die finnische Kommunistische Partei im Exil. Leider hat er sich später mit Stalin gegen Trotzki gestellt. Kautskys Schriften wurden von finnischen Sozialisten weitgehend gelesen, aber nur so lange, bis aufgrund der reichen Erfahrungen der Russischen Revolution von 1917 nützlichere theoretische Ideen auftauchten.
Wie sich die finnische Revolution entfaltete
Die finnische Revolution brach Ende 1917 nach der Wahlniederlage der SDP in diesem Jahr aus. Die Spannungen stiegen mit zunehmenden Streiks und Demonstrationen. Die finnische Kapitalist*innenklasse organisierte antisozialistische bewaffnete Milizen, um sich darauf vorzubereiten, die sozialistische Bewegung und die Bedrohung durch ein bolschewistisches Finnland zu enthaupten.
Die Führer der SDP, des LO (Gewerkschaftsbund) und der Roten Garde (bewaffnete Selbstverteidigungsmilizen der Arbeiter*innen) organisierten sich in einer neuen Formation, dem Revolutionären Zentralrat. Der Rat leitete einen Generalstreik als Zeichen der Stärke gegen die kapitalistische Klasse ein. Der Streik lähmte ganz Finnland, und die Arbeiter*innen waren bereit, die Macht zu übernehmen. Allerdings war die Arbeiter*innenführung über die Frage nach dem Weg nach vorne gespalten und der Generalstreik wurde abgebrochen. Dies war ein entscheidender Fehler, der es der herrschenden Klasse ermöglichte, sich zu remobilisieren.
Die finnischen Kapitalist*innen, unterstützt von Deutschland, führten dann einen Bürgerkrieg, bei dem 20.000 Menschen starben. Blanc nimmt darauf keinen Bezug. Nach dem Sieg der Bosse wurden weitere 10.000 Aktivist*innen hingerichtet, und etwa 5% der gesamten finnischen Bevölkerung befanden sich in politischen Internierungslagern. Dies ist kein zweitrangiges Detail, das man übersehen kann, wenn man die finnische Revolution als sein*ihr Modell für den "demokratischen Weg zum Sozialismus" vorschlägt. Diese schreckliche Niederlage ermöglichte es Finnland, eine Startrampe für die Invasion der imperialistischen Nationen in die junge UdSSR durch 21 Armeen, darunter die USA, zu werden, die auf die Wiederherstellung des Kapitalismus in Russland abzielte. Bis 1921 hatten die Bolschewiki diese Invasion abgewehrt, aber unter enormen Kosten für die sozialistische Demokratie, die sie aufzubauen versuchten.
Warum die russische Revolution immer noch wichtig ist
Der Kapitalismus hat durch eine Armee von angeheuerten Akademiker*innen eine Vielzahl von Büchern produziert, die darauf abzielen, die bolschewistische Revolution zu verzerren und zu verunglimpfen. Den Schüler*innen wird beigebracht, dass 1917 eine echte Volksrevolution florierte, die von einem Aufstand entführt wurde, der von einer konspirativen Gruppierung, den Bolschewiki, angeführt wurde, die eine Diktatur gründeten. Alle bürgerlichen Geschichten von 1917 sind Variationen dieses grundlegenden Themas. Sie können nicht akzeptieren, dass arbeitende Menschen eine demokratische Arbeiter*innenregierung wählen und erfolgreich aufbauen können. Leider tanzt Blanc um diese unzutreffende, aber allgemein verbreitete Ansicht herum.
Als die Revolution im Februar 1917 in Russland ausbrach, wurde der Zar inhaftiert, aber eine provisorische Koalitionsregierung kam an die Macht, die sich weigerte, die Macht der Kapitalisten und Großgrundbesitzer*innen anzufechten und den imperialistischen Krieg fortsetzte. In den folgenden acht Monaten gewannen die Bolschewiki (russisch für "Mehrheit"), deren Dumaabgeordnete aufgrund ihrer Opposition zum Krieg ins Exil geschickt worden waren, zunehmend an Popularität, fast eine Viertelmillion Menschen schlossen sich der Partei an.
Arbeiter*innenräte
In dem rasanten Tempo einer revolutionären Situation wird die arbeitende Klasse alle Strukturen nutzen, die sie für sinnvoll hält, um den Fortschritt voranzutreiben. Bei Streiks beispielsweise werden die Arbeiter*innen alle Arten von Strukturen schaffen, die es ihnen ermöglichen, über die langsamen, manchmal überzentralisierten formalen Gewerkschaftsorgane hinauszugehen. Dies geschah zum Beispiel im vergangenen Jahr in West Virginia im Vorfeld des historischen Lehrer*innenstreiks. Diese Organe können die bestehenden Gewerkschaftsstrukturen ergänzen oder mit ihnen zusammenstoßen. In der Russischen Revolution von 1905 versammelte sich eine Gruppe von 30-40 Arbeiter*innen aus einer Reihe von Betrieben in der damaligen Hauptstadt Sankt Petersburg, um einen politischen Generalstreik zu organisieren. Dieses Streikkomitee wurde mit Delegierten beschickt, die direkt am Arbeitsplatz gewählt wurden und sofort zurückgerufen werden können. Dies wurde der erste Sowjet (russisch für Rat). Diese Organisationsmethode ermöglichte es den Arbeiter*innen, voll in die Bestimmung der Richtung der Revolution einbezogen zu werden. Das Beispiel wurde landesweit übernommen, weil es den Bedürfnissen der Bewegung entsprach.
Nach der Februarrevolution 1917, als die meisten bolschewistischen Führer noch im Exil waren, baute die arbeitende Klasse die Sowjets wieder auf. Soldat*innen und Matros*innen, die hauptsächlich aus der Bäuer*innennschaft stammten, bauten auch diese revolutionären Delegiertenorganisationen auf, die häufige Wahlen abhielten und die Stimmungen und Meinungen der einfachen Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt vertraten. Sie schlossen sich zu stadtweiten Räten der Delegierten der Arbeiter*innen, Soldat*innen und Seeleuten zusammen und waren die fluidesten, demokratischsten und transparentesten Formen der Demokratie, die je entwickelt wurden.
Obwohl die Bolschewiki noch keine Mehrheit in den Sowjets hatten, forderten sie "Alle Macht den Sowjets" als den klarsten Weg zur Arbeiter*innenmacht. Sie setzten sich für eine vollständigere Demokratie ohne Vertretung der Bosse ein. Mit der Gefahr einer bolschewistischen Mehrheit in den Sowjets organisierte die kapitalistische Klasse unter General Kornilow im September 1917 einen versuchten Militärputsch, der von den Arbeitern und Soldaten Petrograds besiegt wurde. Als der Zweite Allrussische Sowjetkongress im Oktober mit einer Mehrheit aus Bolschewki und Linken Sozialrevolutionären (einer wichtigen Bauernpartei) zusammentrat, ersetzten sie die gescheiterte Provisorische Regierung und unternahmen konkrete Schritte, den Großgrundbesitzer*innen und Kapitalist*innen die Macht zu entreißen. Sie entsandten Soldat*innen und Arbeiter*innen, um alle Regierungsfunktionen zu übernehmen, und verhafteten die Spitzen der Armee und des alten kapitalistischen Staates. Diese "harten" Maßnahmen waren ein kritischer Teil des Sturzes des Kapitalismus, wurden aber in Russland mit einer riesigen Zustimmung durchgeführt. Dieses aufständische Element der Revolution führte zu einer relativ unblutigen Revolution.
Innerhalb weniger Tage nach der Machtübernahme der Sowjets in Russland erklärten sie den Krieg für beendet; das gesamte Land wurde den Bauern übergeben; alle Mieten wurden abgeschafft; die ehemaligen Kolonien Russlands konnten die Unabhängigkeit erklären; Diskriminierung und Ungleichheit für Frauen wurde verboten; das Recht auf schnelle Scheidung wurde eingeführt; Banken wurden verstaatlicht und Homosexualität wurde entkriminalisiert. Zum ersten Mal war der Aufbau einer Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung zu einer realistischen Perspektive geworden, wenn die Revolution vor allem auf die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder ausgedehnt werden könnte, wie es die Strategie der Bolschewiki war. Die Nachricht vom Oktober verbreitete sich weltweit, und jeder Chef fragte sich, wann die Mistgabeln sie holen würden.
Während die anfängliche Revolution relativ unblutig war, kam es zu schwerer Gewalt nach Russland, als sich die Großgundbesitzer*innen und Kapitalist*innen mit ausländischen imperialistischen Mächten verbanden und einen Bürgerkrieg auslösten, der auch Finnland heimsuchte. Viele der linken Arbeiter*innenführer*innen in der Finnischen Sozialdemokratischen Partei, die an der Finnischen Revolution teilnahmen, glaubten, dass ein Generalstreik die Bosse zwingen würde, einen parlamentarischen Übergang zum Sozialismus zu akzeptieren. Engels hatte schon lange zuvor vor den Gefahren einer halben Revolution gewarnt. Sowohl die Bolschewiki als auch die finnische SDP waren in der Arbeiterklasse verwurzelt, aber der entscheidende Unterschied war, dass die Bolschewiki eine klare Perspektive auf die Klassenkräfte bei der Arbeit im revolutionären Prozess hatten und ein Organisationsmodell, das geeignet war, einen entscheidenden Kampf zu seinem Abschluss führen zu können.
Parlament, Staat und Aufstand
Marx kämpfte gegen "Insurrektionismus", gegen von kleinen konspirativen Gruppen angeführten Aufstände, und plädierte für Massenaktionen. Lenin und der frühe Kautsky stimmten überein. Der Oktober war eine demokratische Massenaktion. Die Übernahme der politischen Macht von den Kapitalist*innen erfolgte als Abwehrmaßnahme gegen die unmittelbare Gefahr eines Militärputsches durch General Kornilow. Aber die Bolschewiki hatten keine Angst davor, am kritischen Punkt "illegal" entschlossene Maßnahmen zu ergreifen, weil sie verstanden, dass alles andere den Weg zur Konterrevolution und zur Zerschlagung der Errungenschaften der Arbeiter*innen öffnen würde. Die parlamentarische Gesetzgebung hätte den Großgrundbesitz und Kapitalismus weder in Russland noch sonstwo beendet. In den USA reagierten die Sklavenhalter*innen, als sie ihre Eigentumsrechte durch die Gesetzgebung bedroht sahen, mit der Auslösung des Bürgerkriegs, des blutigsten Krieges, der auf amerikanischem Boden geführt wurde.
Der kapitalistische Staat umfasst alle Institutionen, die das Wirtschaftssystem schützen: die Polizei, die Gerichte, das Gefängnissystem. Marx' Mitarbeiter Friedrich Engels studierte die Geschichte des Staates in Klassengesellschaften und stellte fest, dass der Staat ein Instrument der Klassenherrschaft ist. Dieser Apparat ermöglicht es dem Kapitalismus, ohne ständigen Klassenkonflikt zu funktionieren. Er fügte hinzu, dass der Staat im Kapitalismus letztlich auf besondere Formationen bewaffneter Menschen zurückgeführt werden kann, deren Aufgabe es ist, den Status quo zu schützen. In diesem Zusammenhang sehen wir das Parlament als Teil der Aufrechterhaltung der Macht der kapitalistischen Klasse. Aber Blanc argumentiert im Gegenteil, dass wir uns "auf den Kampf für die Demokratisierung des politischen Regimes konzentrieren sollten", was bedeutet, dass gesetzliche Reformen die Natur des Staates verändern können.
Wir denken, dass Sozialist*innen den Staat herausfordern sollten, indem sie seine kapitalistische Voreingenommenheit aufdecken. Wir kämpfen auch für jede mögliche demokratische Reform, einschließlich der Reformen der staatlichen Kräfte, wie der Polizei. Aber wir tun dies, um die Grenzen der Reformierbarkeit des Staates und die Notwendigkeit einer Systemveränderung aufzuzeigen. So kann beispielsweise durch den Aufbau starker Massenbewegungen gegen Polizeigewalt die Polizei weniger brutal gemacht werden, und es können wichtige Reformen gewonnen werden, die sich positiv auf die von Polizeigewalt betroffenen Gemeinschaften auswirken. Aber am Ende des Tages wird die Polizei die Interessen der Kapitalisten verteidigen, indem sie Arbeiter und Unterdrückte "an ihrem Platz" hält. Der einzige Weg, wie dies enden kann, ist durch revolutionäre Veränderungen.
Während viele Arbeiter*innen in den USA den kapitalistischen Staat als unparteiisch ansehen, sehen andere die Rolle des Staates aufgrund ihrer Erfahrung oft klarer. Afroamerikaner*innen sehen den kapitalistischen Staat der USA oft nicht als demokratisch oder neutral, sondern als Teil eines Systems der Unterdrückung. Für Marxisten besteht die Rolle selbst des "demokratischsten" Parlaments im Kapitalismus darin, die Klassenherrschaft aufrechtzuerhalten. Wenn es aufhört, für sie zu arbeiten, werden sie versuchen, es zu untergraben. Lenin argumentierte in Staat und Revolution, dass eine "demokratische Republik ist die denkbar beste politische Hülle des Kapitalismus“ ist und dass sie die Macht es Kapitals „derart zuverlässig, derart sicher, daß kein Wechsel, weder der Personen noch der Institutionen noch der Parteien der bürgerlich-demokratischen Republik, diese Macht erschüttern kann“. Aus diesem Grund fühlen sich so viele arbeitende Menschen, während sie die Demokratie verteidigen, davon überzeugt, dass die Regierung auch eine Marionette der Milliardäre ist.
Sozialist*innen in Parlamenten
In einer Zeit des sozialen Umbruchs können Sozialist*innen im Parlament den Massenbewegungen kritisches Gewicht verleihen. In den 1980er Jahren initiierte und leitete die Militant-Strömung der Labour Party, der Schwesterorganisation der Socialist Alternative, in Großbritannien die Anti-Poll-Tax-Kampagne, die zu einer Massenbewegung von Millionen wurde, die sich weigerte, die neue Steuer der britischen Regierung zu zahlen. Über zehn Millionen Menschen schlossen sich der Nichtzahlungsbewegung an, die Margaret Thatcher, damals Premierministerin, zum Rücktritt zwang. Allen Stadträten und Abgeordneten von Militant wurde mit dem Gefängnis wegen Nichtzahlung gedroht. Diese Bewegung zur Gesetzesbrechung fand wenig Unterstützung in der Mehrheit der Labour-Fraktion, wobei der Abgeordnete Jeremy Corbyn eine der wenigen Ausnahmen war.
Stadträte, Legislative und Parlamente sind von Natur aus konservative und feindliche Umgebungen für die Arbeiter*innenklasse. Sobald ein Arbeiter*innenvertreter diese Institutionen betritt, nutzt die herrschende Klasse ihr volles historisches, kulturelles und wirtschaftliches Gewicht, um sie davon zu überzeugen, dass große Reformen einfach unrealistisch sind. Es ist kein Zufall, dass seit der Wahl von Jeremy Corbyn zum Führer der britischen Labour Party die größte Unterstützung für seine linke Politik von der Basis der Partei und der größte Widerstand von der Mehrheit der gewählten Abgeordneten der Partei kommt.
Trotz der Hindernisse ist die Kandidatur um und der Gewinn von Sitzen in bürgerlichen Institutionen ein notwendiger und wichtiger Teil des Aufbaus einer Massenunterstützung für einen sozialistischen Wandel. Die Socialist Alternative sieht die Wahl von Sozialist*innen als Möglichkeit, Massenbewegungen zu verstärken und aufzubauen und Siege zu erringen, die die Arbeiterklasse zur Selbstorganisation ermutigen. Unser Mitglied und Stadtrat von Seattle, Kshama Sawant, nutzt ihren Sitz, um für Reformen zu kämpfen, wie den Sieg für einen Mindestlohn von 15 $, nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel, um das Vertrauen und die Bereitschaft der Arbeiterklasse zum Kampf zu stärken.
Wenn Sozialist*innen in diese Organe des kapitalistischen Staates eintreten, brauchen wir eine gesunde, funktionierende, starke und unabhängige politische Partei der Arbeiter*innenklasse, um sicherzustellen, dass sie der Bewegung treu bleiben. Durch seine demokratischen Mechanismen kann es die Rechenschaftspflicht sicherstellen. Diese Vertreter müssen sich nicht nur weigern, Firmengelder in ihrem Wahlkampf zu akzeptieren, sondern auch einen Arbeiter*innenlohn akzeptieren und den Rest an die Bewegung zurückgeben.
Marxist*innen haben einen noch höheren Standard. Die Politik der Bolschewiki und der 1919 gegründeten Kommunistischen Internationale war sehr konkret. Die tägliche Arbeit unserer Vertreter in den bürgerlichen Parlamenten muss direkt der Partei gegenüber rechenschaftspflichtig sein, wobei ihre Arbeit in die breitere politische Arbeit der Partei integriert werden muss. Ein Großteil der Überlegungen zu diesem Ansatz resultierte aus der verheerenden Verletzung des Marxismus der SPD-Abgeordneten, die mit überwältigender Mehrheit für den Ersten Weltkrieg gestimmt haben.
Werden revolutionäre Bewegungen das Parlament nutzen?
In den späten 1960er und frühen 1970er Jahren, während der umfangreichsten revolutionären Welle seit 1917-23, nahmen die meisten Unruhen der Arbeiter*innenklasse nicht "den parlamentarischen Weg". Der französische Generalstreik von 1968 nahm revolutionäre Dimensionen an. In der Portugiesischen Revolution von 1975 enteigneten die Arbeiter*innen ihre Betriebe von unten durch Besetzungen und direkte Aktion. In der iranischen Revolution 1979 organisierten die Arbeiter ihre eigenen Shoras (Räte), die sich im ganzen Land ausbreiteten, bevor die Konterrevolution der Mullahs unter der Führung der schiitischen klerikalen Kaste gelang.
Die chilenische Revolution 1970-73 hingegen schien den parlamentarischen Weg zu gehen, da die Ereignisse durch die Wahl einer sozialistischen Regierung beschleunigt wurden. Auch hier begannen die Arbeiter*innen, alternative Strukturen zur Verteidigung gegen den kapitalistischen Staat aufzubauen. Die Cordones (Revolutionsräte) halfen bei der Koordination der Übernahme der Fabriken und der Lebensmittelverteilung. Aber als die Arbeiter*innenklasse ihre Regierung aufforderte, sie gegen einen möglichen von den USA unterstützten Militärputsch zu bewaffnen, zögerten die sozialistischen Anführer*innen im Parlament und hofften auf einen Kompromiss mit der chilenischen herrschenden Klasse. Die Möglichkeit war verloren und General Pinochet, mit Unterstützung der CIA, ertränkte die Revolution im Blut und exekutierte mehr als 4.000 sozialistische und gewerkschaftliche Aktivist*innen.
All diese Revolutionen entfalteten sich in einer Zeit, in der stalinistische Parteien eine große und sehr negative Rolle in der Arbeiter*innenbewegung spielten und ständig nach einer Lösung innerhalb des Kapitalismus suchten, wie es die Sozialdemokraten in der Zeit nach 1917 taten. In all diesen revolutionären Perioden fehlte eine Führung der Arbeiter*innenbewegung mit einem klaren Verständnis des kapitalistischen Staates, der die Strategie entwickeln konnte, die notwendig war, um die Bewegung zum Sieg zu führen und eine Arbeiter*innendemokratie zu schaffen.
Perspektiven für eine linke Regierung
Eine Militärdiktatur zu nutzen, um radikale Veränderungen zu verhindern, ist ein Ansatz, der mit den herrschenden Klassen der Länder der "Dritten Welt" und nicht mit den "fortgeschrittenen" kapitalistischen Ländern assoziiert wird. Aber in Wirklichkeit sind alle herrschenden Klassen bereit, extreme Anstrengungen zu unternehmen, um ihre Herrschaft zu verteidigen. Die deutsche, italienische und spanische herrschende Klasse wandte sich dem Faschismus zu. In Spanien, Griechenland und Portugal herrschten bis in die 70er Jahre hinein rechte Diktaturen.
1975 wurde eine linke Labour-Regierung in Australien durch einen konstitutionellen Staatsstreich des britischen Monarchen entlassen. Der Bestseller des britischen Politikers Chris Mullin, A Very British Coup, von 1982, untersuchte die Aussicht auf ähnliche Entwicklungen, wenn eine linke Labour-Regierung in Großbritannien gewählt würde. Alle legalen und illegalen Mechanismen des Staates werden genutzt, um jeden ernsthaften Versuch der Arbeiter*innenklasse zu untergraben, das Parlament zur Umsetzung sozialistischer Politik zu nutzen. Die Arbeiter*innenbewegung muss so vorbereitet sein, wie es die herrschende Klasse ist. Um eine allgemeine Gesundheitsversorgung und anderen wichtige Verbesserungen erfolgreich sicherzustellen müsste eine Regierung Bernie Sanders von einer Massenbewegung auf den Straßen und Arbeitsplätzen unterstützt werden. Sie bräuchte auch die Unterstützung einer unabhängigen linken Partei, die auf den Interessen der Werktätigen und der Unterdrückten mit einem Kampfprogramm basiert. Eine solche Partei sollte volle Mehrheiten im Kongress, in den Parlamenten der Bundesstaaten und in den Stadträten anstreben. Bei der Übernahme der mächtigsten herrschenden Klasse in der Weltgeschichte wird jedoch eine Führung mit einem klaren Verständnis der Rolle des kapitalistischen Staates entscheidend sein.
In den USA beschuldigte die herrschende Klasse in der Vergangenheit revolutionäre Sozialist*innen, sich an einer Verschwörung zum "Sturz der Regierung" zu beteiligen. Leider greift Blanc dieses Argument auf. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Marxist*innen versuchen, die Mehrheit der Arbeiter*innenklasse und auch die Bevölkerung als Ganzes für die Notwendigkeit eines sozialistischen Wandels zu gewinnen.
Aber wir glauben auch, dass die herrschende Klasse den demokratischen Willen der Gesellschaft nicht akzeptieren wird, wenn dies darauf hindeutet, dass sie ihre Macht und ihr Privileg verlieren. Wenn die Demokratie für sie nicht funktioniert, werden sie versuchen, sie abzuschaffen. In den 1930er Jahren untersuchte der Kongress einen versuchten Militärputsch gegen Präsident Franklin Roosevelt, die von einem Flügel der herrschenden Klasse der USA organisiert wurde, weil sie selbst die begrenzten Reformen des "New Deal" nicht einhalten konnten.
Revolutionäre Organisation
Blancs Artikel ignoriert, indem er den Charakter des Staates nicht vollständig erkennt, die Grenzen der kapitalistischen Demokratie und argumentiert dann, dass der Sozialismus in einem bürgerlichen parlamentarischen Rahmen gewonnen werden kann. Sein Ziel ist es, die russische Revolution als Modell für heute zu widerlegen. Zusammen mit seiner Strohmann-Kritik des Insurrektionismus argumentiert er im Wesentlichen gegen die Idee, dass die Arbeiter*innenklasse ihre eigene revolutionäre Organisation braucht, die in ihr selbst verwurzelt ist. Eine revolutionäre Massenpartei, die die Grenzen der bürgerlichen Demokratie versteht, ist jedoch entscheidend für den Erfolg des Übergangs der Menschheit zum Sozialismus. Eine solche Partei müsste auf einem klaren Verständnis der Perspektiven und der anstehenden Aufgaben für die Arbeiter*innenklasse beruhen. Sie würde versuchen, eine gemeinsame Organisation auf nationaler und internationaler Ebene aufzubauen. Sie müsste die Lehren aus der Vergangenheit genau kennen, um in den Gewerkschaften, in den breiteren politischen Formationen und in allen Kämpfen der arbeitenden und unterdrückten Völker für ihre Ideen zu kämpfen.
Wir treten nun in eine neue, politisch konvulsivere Zeit in den USA ein. Vorbei ist die Zeit, in der der Kapitalismus die "Bedrohung durch den Kommunismus" nutzte, um Angst zu erzeugen. Vorbei ist die Markteuphorie, die mit dem Zusammenbruch des Stalinismus einherging. Kshama Sawants Überraschungsergebnis von 96.000 Stimmen als Kandidatin der Socialist Alternative bei der Stadtratratswahl von Seattle im Jahr 2013 signalisierte das Wiederaufleben des Sozialismus für eine neue Generation. Dieser Sieg war Teil der Entwicklung, die den Weg für Bernie Sanders im Jahr 2016 ebnete, was wiederum die Explosion der Mitgliedschaft in der DSA auslöste.
Wenn wir mit offenen Augen für den Sozialismus kämpfen, müssen unsere Bewegungen auch die Fallstricke und Möglichkeiten, die den Weg nach vorne bestimmen, fließend beherrschen. Eric Blancs Artikel zeichnet nicht den wirtschaftlichen Hintergrund seines linearen, geordneten Weges zum Sozialismus. Wir stehen nicht kurz davor, in eine ähnliche Wirtschaftsperiode einzutreten wie die, die den Aufstieg der sozialdemokratischen Parteien in den 1890er oder 1950er Jahren begleitete, als der "Sozialstaat" im Westen auf seinem Höhepunkt war. Wir befinden uns in einer Zeit, in der das Kapital keine Möglichkeit hat, die Wirtschaft zu entwickeln, in der Krise und Instabilität ständige Merkmale sind. Dies wird zu großen sozialen Umwälzungen führen und das Bewusstsein der Arbeiter*innenklasse radikal verändern. Es wird eine Zeit sein, in der Sozialist*innen mit der Komplexität des wachsenden rechten und linken Populismus sowie neuer Versionen des Reformismus konfrontiert werden.
Die Parlamente müssen von Sozialist*innen genutzt werden, aber wir müssen verstehen, was diese Institutionen darstellen und welche Gefahren sie für die Sozialist*innen mit sich bringen.
Die Kapitalist*innen haben mehrmals versucht, Karl Marx zu begraben, aber seine Ideen kommen immer wieder zurück. Mit einem marxistischen Verständnis der kommenden Veränderungen in unserer Welt und unserer Geschichte als Klasse werden die arbeitenden Menschen den Weg nach vorne finden, um alle faulen und korrupten Institutionen des Kapitalismus zu ersetzen und eine globale sozialistische Demokratie für die gesamte Menschheit aufzubauen.