Mi 07.02.2007
Johan Rivas ist Sprecher der Gewerkschaft SIRTRASALUD im El Agodonal. Diese Gewerkschaft wurde 2004 gegründet. Er ist Mitglied der SAV-Schwesterorganisation in Venezuela, 29 Jahre alt und arbeitet im El Algodonal, dem zweitgrößten Krankenhaus von Caracas, mit über 2.000 Beschäftigten.
Im Dezember 2006 wurde Hugo Chávez in Venezuela erneut zum Präsidenten gewählt. Nachdem er 1998 zum ersten Mal die Wahl gewonnen hatte, hat er Position gegen Neoliberalismus und US-Imperialismus bezogen. Gestützt auf die Erdöleinnahmen des Landes führte er umfangreiche Sozialprogramme durch. Rasch geriet er mit der herrschenden Klasse Venezuelas in Konflikt. Nach seiner jüngsten Wiederwahl lösten Chávez’ neueste Ankündigungen ein gewaltiges internationales Echo aus. Laut Chávez sollen die Verstaatlichungen des Telekomriesen CANTV und des größten privaten Stromunternehmens eine neue Etappe beim Aufbau einer „sozialistischen Republik“ einläuten.
SIRTRASALUD hat eine „Bolivarische ArbeiterInnen-Front“ ins Leben gerufen, die AnwohnerInnen und die Beschäftigten des Krankenhauses zusammen bringt und einige der von Regierungsseite finanzierten Sozialprogramme durchführt.
Pablo Alderete sprach mit Johan Alexander Rivas Vasquez.
Wie steht es heute um ArbeiterInnenrechte?
Ich arbeite im Krankenhaus El Agodonal in Caracas. Wir bauen die SIRTRASALUD auf, die sich als Gewerkschaft dem neuen Gewerkschaftsdachverband UNT angeschlossen hat. In vielen Bereichen werden Leute aktiv, gründen gewerkschaftliche Gliederungen, fordern ihre Rechte ein, und müssen auch oft gegen die Mühlen der Bürokratie ankämpfen. Ein Beispiel: Bei Russel, einem Pharmakonzern, haben einige Beschäftigte eine Gewerkschaft gegründet und wurden deshalb entlassen. Obwohl es ein Gesetz gibt, welches sie davor schützt, mussten sie zwei Jahre lang kämpfen, um wieder eingestellt zu werden und ihre gewerkschaftlichen Rechte zugestanden zu bekommen. Kurz danach hat Russel dann dicht gemacht. Viele junge KollegInnen werden derzeit aktiv. In den meisten neuen gewerkschaftlichen Gliederungen sind die Vorstände mit AktivistInnen im Alter von 20 bis 40 Jahren besetzt.
Wie bekämpft Chávez die Armut?
Die Projekte der Regierung, die „Missiones“, haben sehr vielen Menschen aus armen und einfachen Verhältnissen den Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung ermöglicht. Bevor Chávez 1998 gewählt wurde, war die soziale Ausgrenzung enorm. Geschätzte eine Million Menschen waren AnalphabetInnen, Krankheiten wie Typhus und Tuberkulose, die eigentlich ausgestorben waren, traten wieder auf. In den Slums herrschten unmenschliche Lebensbedingungen. Im Zuge eines Bildungsprogramms wurde einer Million Menschen Lesen und Schreiben beigebracht. Das sind Zahlen, die von UNICEF genannt werden.
Welche Rolle spielen die Abkommen mit Kuba?
Die Regierung hat Kuba billiges Öl geliefert und dafür kamen Tausende kubanische Ärztinnen und Ärzte – im Rahmen der „Mission Barrios Adentro“. Einem Projekt, um mit den Mediziner-Innen zu den Menschen in den Stadtvierteln zu gehen. Davor war die medizinische Versorgung der armen Bevölkerung sehr schlecht. Wie beschrieben traten Krankheiten auf, die vor 50 Jahren verschwunden waren!
Früher mussten zum Beispiel Röntgenaufnahmen selber bezahlt werden, und die einfachen Menschen konnten sich das oft nicht leisten. Das hat sich geändert, die Tuberkulose wird bekämpft. Man kann sich vorstellen, welches Ansehen diese ÄrztInnen aus Kuba haben. Natürlich nicht bei den rechten Kräften und bei der Oberschicht. Die sehen darin eine kommunistische Unterwanderung.
Welche Fortschritte gibt es außerdem?
Seit dem „Unternehmerstreik“ gegen Chávez 2002, der zu einem Anstieg der Lebensmittelpreise und zu einer Lebensmittelknappheit führte, subventioniert der Staat alternative, kostengünstige Supermärkte.
Die Armut ist insofern gesunken, als dass die Menschen jetzt kostenlosen Zugang zu vielen Dingen haben. Der Anteil der Armen an der Gesamtbevölkerung ist von 50 auf etwa 20 Prozent gesunken. Trotzdem müssen weiterhin Hunderttausende von einem Dollar am Tag leben, wie zum Beispiel im „Petare“ in Caracas, der zweitgrößten Slumsiedlung Lateinamerikas.
Chávez hat bei seiner Vereidigung davon gesprochen, dass jetzt der „Weg zu einer sozialistischen Republik Venezuela“ eingeschlagen wird und weitere Verstaatlichungen angekündigt. Wie beurteilst du das?
Was die Verstaatlichungen angeht, muss man abwarten ob Chávez seine Ankündigungen wahr macht. Unter anderem handelt es sich hier um die Telekommunikationsfirma CANTV, die früher staatlich war und in den neunziger Jahren privatisiert wurde. Chávez hat schon oft angekündigt, dass er sie verstaatlicht; noch ist das nicht passiert.
Ebenso wurden in der Vergangenheit große Programme zur Überführung Hunderter bankrotter oder stillgelegter Betriebe in neue Eigentumsformen angekündigt. Das wurde in dieser Form auch nicht umgesetzt.
Man spricht in Venezuela von einem „revolutionären Entwicklungsprozess“. Es bewegt sich etwas in der Gesellschaft. Allerdings hat eine Revolution hin zu einem anderen Gesellschaftssystem bisher noch nicht stattgefunden.
Der „Unternehmerstreik“, den du erwähnt hast – man könnte auch sagen, die versuchte Sabotage des Wirtschaftslebens – war nach dem Putsch vom April 2002 der zweite Versuch der KapitalistInnen, Chávez zu stürzen. Das erinnert an die Sabotage der Lkw- und Transportunternehmer gegen die Regierung der Unidad Popular unter dem Sozialisten Salvador Allende in Chile von 1970 bis zum Militärputsch durch Pinochet im September 1973.
Chávez befindet sich natürlich in einem brutalen Konflikt mit den Reichen, mit den KapitalistInnen. Die angesprochenen alternativen Supermärkte sind auch eine Reaktion darauf, dass sich der Lebensmittelmarkt in der Hand von drei mächtigen Familien befindet. Die Mendozas, Cisneros und Capriles haben großen Einfluss. Diese Oligarchie sitzt weiterhin im Sattel und tut alles, um Chávez loszuwerden.
In der Tat gibt es einige Parallelen zu der Situation in Chile in den siebziger Jahren. Dass versucht wird, ein Klima der Instabilität zu schaffen, dass Lebensmittel knapp gehalten werden, dass ein Putschversuch unternommen wurde. Pinochet hatte in Chile übrigens die Unterstützung der CIA. Die rechte Opposition ist im Moment geschwächt, aber es kann neue Versuche geben, Chávez zu stürzen. Bedrohlich ist auch die Aktivität von rechten paramilitärischen Gruppen, die von Kolumbien aus operieren. Aber Chávez läuft auch Gefahr, unter den Armen Unterstützung zu verlieren. Ihnen gehen die Fortschritte nicht weit genug, häufig blockiert der Regierungsapparat, es gibt Korruption, viel Bürokratie. Nachdem Chávez den Putsch 2002 überstanden hatte, sendete er versöhnliche Signale an die rechten Kräfte und an die KapitalistInnen.
Welche Aufgaben stellen sich deiner Ansicht nach nun?
Wir müssen aus der Geschichte lernen. In Chile waren die Entwicklungen viel weiter gegangen als heute in Venezuela. Unter Allende waren sogar 40 Prozent der Wirtschaft verstaatlicht. Das hat aber nicht ausgereicht, um eine sozialistische Wirtschaft und Gesellschaft zu erreichen. Wie in Chile droht bei uns die Gefahr eines Rückschlags.
Hinzu kommt die Abhängigkeit von den Öleinnahmen. Mehr als die Hälfte des venezolanischen Erdöls wird in die USA exportiert. Venezuela ist der drittgrößte Öllieferant der Vereinigten Staaten. Diese Einnahmequelle kann – zum Beispiel in einer internationalen Rezession – versiegen.
Es ist folglich eine dringende Notwendigkeit, große Teile der Wirtschaft zu verstaatlichen. Zudem gilt es, den Großgrundbesitz zu enteignen und das Land an die verarmte Bauernschaft aufzuteilen.
Darüber hinaus hat Chávez den alten Staatsapparat, den er übernahm, bisher nicht angetastet. Das venezolanische System – mit den ersten kleinen Schritten Richtung Verstaatlichung der Wirtschaft, Sozialprogrammen und einer enormen Erwartungshaltung unter ArbeiterInnen und verarmten Bauern – ist mit vielen Widersprüchen behaftet. Das drückt sich nicht zuletzt in der nach wie vor grassierenden Korruption aus.
Der alte Staatsapparat darf nicht fortbestehen. Die Macht der Unternehmer und Großgrundbesitzer muss gebrochen werden. Die Verstaatlichung der Schlüsselindustrie, ArbeiterInnenkontrolle in den Betrieben sind nötig. Es ist erforderlich, das ganze kapitalistische System zu überwinden und die Grundlagen für eine ArbeiterInnendemokratie zu legen.
Chávez beruft sich auf den russischen Revolutionär Leo Trotzki und verweist auf Trotzkis Theorie der Permanenten Revolution.
Es bleibt abzuwarten, wie ernst er es mit den Ideen von Trotzki meint. Trotzki erklärte schon vor Jahrzehnten, dass der Kapitalismus heute in den unterentwickelten Ländern unfähig ist, den ArbeiterInnen und verarmten Bauern eine Perspektive zu geben. Wir müssen das kapitalistische System abschaffen. Die ArbeiterInnenklasse ist die entscheidende Kraft. Wie Trotzki sagte, kann es keinen Sozialismus in einem Land geben, sondern nur international.
Chávez wird bisher im Parlament von mehreren Parteien gestützt. Jetzt hat er die Gründung einer neuen Vereinigten Sozialistischen Partei angekündigt.
In der Tat haben sich die Parteien, die bisher im Parlament Chávez unterstützen und die Regierung mittragen, sofort bereit erklärt, der neuen Partei beitreten zu wollen. Es wird abzuwarten sein, ob sich diese Parteien lediglich zu einem übersichtlicheren und homogeneren Block zusammenschließen, oder ob in die neue Partei auch AktivistInnen aus der Bewegung ihren Weg finden, die neue Partei also größeren Zustrom bekommt.
Es ist absolut notwendig, dass diese Partei in den Betrieben, in den Stadtteilen, an den Universitäten aufgebaut wird. Nötig ist eine Partei mit einem sozialistischen und revolutionären Programm. Eine Partei, die sich das Ziel der ArbeiterInnendemokratie auf die Fahnen schreibt.
Welcher Bedeutung kommt deiner Ansicht nach dem Internationalismus zu?
Wenn es gelingen sollte, in Venezuela die kapitalistische Herrschaft zu stürzen, könnte und müsste von Venezuela aus die sozialistische Bewegung ihren Siegeszug weltweit antreten. Das Schicksal Venezuelas geht allen ArbeiterInnen und Jugendlichen auf dem Globus etwas an. Darum ist internationale Solidaritätsarbeit und politische Diskussion über die Ereignisse in Venezuela so wichtig. Nicht nur in Venezuela, auch in anderen Teilen Lateinamerikas tut sich was, wird rebelliert, über Sozialismus diskutiert. Lateinamerika straft das Gerede vom“Ende der Geschichte“ Lügen.
Rosa Luxemburg hat Recht, die Alternative lautet: „Sozialismus oder Barbarei“. Wir werden siegen!
Hintergrundinfos:
Die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung om Venezuela verfügen über 50 Prozent des nationalen Einkommens, die ärmsten zehn Prozent verfügen nur über zwei Prozent. Hugo Chávez kam bei der Präsidentschaftswahl im Dezember auf 63 Prozent, sein konservativer Gegenkandidat erhielt 37 Prozent. Damit wurde Chávez zum dritten Mal in Folge gewählt. Bei einer Wahlbeteiligung von 70 Prozent schnitt Chávez um sechs Prozent besser ab als 1998.