Mi 15.05.2013
Bollywood-Filme erobern auch das österreichische Fernsehen: Glückliche, bunt gekleidete Menschen tanzen und singen, erleben Liebesdrama und Happy-End. Doch es ist nur eine verschwindend kleine Minderheit, die in solchen Wohnungen lebt, solche Autos fährt, solche Jobs hat, solche Kleidung trägt und die Zeit hat, fröhlich durch die Gegend zu tanzen. Denn die Armut ist allgegenwärtig und erdrückend.
Doch Bangalore scheint einen Ausweg gefunden zu haben. Die drittgrößte Stadt des Landes ist ein international bekannter und boomender IT-Cluster. Eine wachsende Mittelschicht deutet darauf hin, dass ein Aufstieg möglich ist: mit Bildung, Einsatz und harter Arbeit.
Kurz nach der indischen Unabhängigkeit 1947 erfolgte die Ansiedlung großer Staatsunternehmen aus Maschinenbau, Luft-, Raumfahrt- und Rüstungstechnik. War das Ziel ursprünglich die Herausbildung einer eigenen Industrie gewesen, setzte die Regierung später darauf, Industrie aus dem Ausland anzuziehen. So konnte Bangalore in den 1980er und 90er Jahren von der internationalen Verlagerung der Industrie profitieren. Jemand wird „bangalored“ wenn er/sie den Job verliert weil dieser outgesourced, also verlagert wird. Ein Schicksal, das vielen IT-Beschäftigten in den USA wiederfuhr. Denn Bangalore bot gute Ausgangsbedingungen, um die Produktion hierher zu verlagern: eine relevante Anzahl von gut ausgebildeten Arbeitskräften die nicht nur fließend Englisch sprechen, sondern außerdem wesentlich billiger sind als jene in den entwickelten kapitalistischen Ländern. Unterstützt wurde die Entwicklung durch Vergünstigungen, die ausländischen Unternehmen gewährt wurden. Steuererleichterungen oder z.B. die Ausnahme des IT-Sektors vom Industrial Employment Act bei dem es um den Schutz der Beschäftigten bezüglich Arbeitszeiten und Bezahlung geht.
Heute gilt das „IT Cluster Bangalore“ als eines der dynamischsten, sowie als viertgrößter IT-Standort der Welt bzw. der Größte in Indien. Es gibt über 1.900 IT-Unternehmen, darunter sowohl die Filialen von Multis wie Samsung, Nokia, Skype, Dell, Texas Instruments oder McAfee wie auch die Zentren von indischen Computerunternehmen. Rund ein Drittel aller indischen IT-Unternehmen bzw. der IT-Beschäftigten (250.000-300.000) sind in der Hauptstadt des Bundesstaates Karnataka angesiedelt, jede Woche kommen vier neue Unternehmen in der Branche dazu.
Der IT-Bereich erwirtschaftet einen wachsenden Anteil am indischen BIP, der überwiegende Teil wird exportiert und zwar nach Nordamerika und Westeuropa. Wobei seit Neuestem nicht mehr nur outgesourced wird nach Bangalore, sondern Firmen wie Bosch, Siemens, SAP, Intel und IBM auch Teile der Forschung und Entwicklung hierher verlagern, wo die Arbeitskosten um rund 70 Prozent billiger sind – das ermöglicht fette Extraprofite. Eine Führungskraft gibt es schon um 1.-1.400 Euro monatlich, einfache IT-Kräfte um rund 500,-/Monat. Auch indische Unternehmen sind bei den F&E-intensiven Produkten im Vormarsch. Doch das ist nach wie vor nur ein Randbereich, der Großteil bleibt im Bereich der arbeitsintensiveren Software-Dienstleistungen und reagiert sensibel auf die Entwicklungen der Weltwirtschaft.
Die Beschäftigten sind v.a. junge und gut gebildete Menschen die aus ganz Indien nach Bangalore strömen in der Hoffnung auf sozialen Aufstieg. Doch so rosig ist die Lage nicht. Die Ausbeutung im IT-Bereich ist enorm. Arbeitszeiten von 14-18 Stunden pro Tag bzw. 60 Stunden pro Woche sind üblich. Ein Privat- und Familienleben ist kaum möglich, die Scheidungsrate hoch. Das Misstrauen gegen die Beschäftigten muss hoch sein, denn Ende 2012 schlug die staatsnahe Karnataka Information Communication Technology Group (KIG) vor, alle IT-Fachkräfte biometrisch zu erfassen, um den Firmen größere Sicherheit gewährleisten zu können. Eine Studie zeigte jüngst die Verfassung der IT-Beschäftigten auf: 36 Prozent haben psychische Probleme, jedeR zwanzigste denkt an Selbstmord. Mehr als ein Viertel der Fachkräfte nimmt Drogen um mit dem Druck fertig zu werden. Die Selbstmordrate in Bangalore ist drei Mal höher als im Rest von Indien was nicht nur, aber zweifellos sehr stark mit den Arbeitsbedingungen in der IT-Branche zusammenhängt.
Die Fluktuation der Beschäftigten ist hoch, erhoffen sie doch bei anderen Betrieben bessere Bedingungen. Diese werden auch häufig versprochen – aber nicht gehalten. Viele müssen feststellen, dass Jobbeschreibung (und wohl auch Einkommen) nicht mit jenen bei der Anstellung übereinstimmen.
Dennoch verdienen die IT-Beschäftigten besser als die Millionen StrassenhändlerInnen, BauarbeiterInnen oder im Öffentlichen Dienst. Doch das ist eine kleine Minderheit: in Bangalore leben 8,5 Mio. Menschen, nur knapp drei Prozent arbeiten im IT-Bereich. Da sie jung, häufig single sind bzw. PartnerInnen in derselben Branche haben sind wohl auch bei großzügiger Einbeziehung maximal fünf Prozent davon betroffen. Für die restlichen Menschen in Bangalore hat sich wenig geändert. Im Gegenteil platzt Bangalore, dessen Bevölkerung sich in den letzten 20 Jahren verdoppelt hat, aus allen Nähten. Geld für Infrastruktur wird in jene Bereiche gesteckt, die für den IT-Sektor und die Multis wichtig sind, der Großteil der normalen Bevölkerung hat wenig davon, im öffentlichen Gesundheits- und Bildungswesen fehlen die Gelder.
Die Beschäftigten der indischen IT-Branche saßen lange der selben Illusion auf, wie IT-Beschäftigte weltweit – dass sie nicht Teil der „ArbeiterInnenklasse“ seien, dass sie aufgrund ihrer Qualifikation vor sozialem Abstieg geschützt wären, dass Gewerkschaften für sie nicht nötig wären. So gibt es in Indien kaum eine gewerkschaftliche Vertretung im IT-Bereich. Ein Vertreter des indischen Gewerkschaftsdachverbandes berichtet, dass sie seit Jahren erfolglos versuchen, die Branche zu organisieren. Von staatlicher Seite und von Seite der Unternehmen ist die Individualisierung der Beschäftigten – statt mit Kollektivverträgen werden die Gehälter individuell verhandelt – erwünscht, sichert es doch die hohen Profite in der Branche.
Doch diese Stimmung unter den Beschäftigten scheint sich langsam zu ändern. Denn auch die indische IT-Branche blieb von der internationalen Wirtschaftskrise nicht verschont, auch in Bangalore kommt es zum Beschäftigungsrückgang. Zukunftsangst macht sich breit. IT-Firmen werben Arbeitskräfte direkt an den Unis an. Doch viele der Angeworbenen warten monatelang auf die Einstellung – müssen in dieser Zeit aber bereits die Kredite, die sie fürs Studium aufnehmen mussten, zurückzahlen. Familien müssen viel in eine gute Ausbildung der Kinder investieren, um sie auf die teuren privaten Schulen und Universitäten zu schicken. Und dann sitzen sie in der Warteschleife. Dagegen gab es jüngst in einer Reihe von Städten Proteste der „RekrutInnen“ von HCL Tech, die seit einem Jahr auf die Anstellung warten. Diese Proteste waren über Facebook organisiert. Gleichzeitig bilden sich aber auch gewerkschaftsähnliche Strukturen wie die All India Employee Association die klar stellt: „Glaubst du, dass Gewerkschaften und Vereinigungen nur für Industrie-ArbeiterInnen sind? Denk nochmal nach! IT- und ITES-Beschäftigte brauchen eine gemeinsame Stimme!“ In der Krise bröckelt das Bild des gemeinsamen Bootes in dem IT-Beschäftigte und UnternehmerInnen sitzen ebenso wie jenes der cleveren EinzelkämpferInnen die keine Organisation brauchen. Diese gut ausgebildeten v.a. jungen Beschäftigten, die erleben müssen, wie sie ausgepresst werden können ein wichtiger Partner in den kommenden Bewegungen sein, die sich gegen Armut, Umweltzerstörung, neoliberale Angriffe und für die Rechte von Beschäftigten in allen Sektoren in Indien entwickeln. 2012 gab es einen 24-stündigen, 2013 einen 48-stündigen Generalstreik in Indien – wie mächtig kann ein solcher Kampf z.B. 2014 sein, wenn sich die IT-Beschäftigten daran beteiligen!
Dieser Artikel ist zuerst in der Maiausgabe der Zeitschrift von ÖGB und AK, "Arbeit & Wirtschaft", erschienen.