Mi 08.02.2006
„Somos un rio crecido“ – „Wir sind wie ein reißender Fluss“, stand auf einem Transparent, das auf der Großdemo zur Unterstützung der Regierung Chávez am Samstag, dem 4. Februar 2006 getragen wurde. Anderthalb Millionen Menschen brachten den Verkehr der venezolanischen Hauptstadt Caracas zum Erliegen und gaben das Bild eines Stroms ab, der in einem Meer roter Fahnen und Transparente mündete.
In den U-Bahnen der Stadt quetschten sich die Chávez-AnhängerInnen wir Ölsardinen zusammen, um zur Kundgebung zu gelangen. Ein Gutteil von ihnen hatte eine kilometerweite Anreise mit dem Motorrad, Bus, Auto und sogar auf Krücken hinter sich! Stoßweise kamen die DemonstrantInnen in Caracas an. Über 100 Busse waren aus der Region Vargas gekommen, obwohl eine Brücke der Hauptverkehrsstraße in diese Richtung vor kurzem erst eingestürzt war.
Im Gegensatz zu den Demonstrationszügen, die in den vergangenen Tagen anlässlich des Weltsozialforums stattfanden, setzte sich die Demo von vergangenem Samstag in erster Linie aus der Arbeiterklasse und anderen ausgebeuteten Schichten Venezuelas zusammen. ArbeiterInnen marschierten hinter dem Banner ihrer jeweiligen Gewerkschaft oder des Barrios (Stadtteil-Organisation), in dem sie aktiv sind. LandarbeiterInnen nahmen auf den Ladeflächen ihrer LKWs an der Demo teil.
Die rechts-konservative Opposition setzt sich aus den kapitalistischen Konzernchefs, den Großgrundbesitzern und den Repräsentanten der Kirche zusammen, die allesamt vom US-Imperialismus unterstützt werden. Sie gingen nach der erklecklichen Wahlbeteiligung bei den vor kurzem abgehaltenen Parlamentswahlen davon aus, dass sich die Lage nun wieder zu ihren Gunsten entwickeln würde. Doch der Massenandrang an der pro-Chávez-Demo im Vergleich zu den paar tausend TeilnehmerInnen der von der Opposition organisierten Gegenkundgebung schaffte noch einmal Klarheit über die tatsächlichen Kräfteverhältnisse im Land.
Der radikal-populistische Hugo Chávez nutzte die offiziell anlässlich des 14. Jahrestags seines gescheiterten Militärputsches im Jahr 1992 veranstaltete Demo, um den Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen zu eröffnen. Diese werden Ende 2006 stattfinden und die Wahlkampagne hat zum Ziel 10 Millionen WählerInnen zu mobilisieren, um Chávez´ Wiederwahl zu sichern.
Tags zuvor war Chávez bereits auf anderer Ebene in die Offensive gegangen, als er einen US-Marineoffizier der Spionage bezichtigte und des Landes verwies. Gleichzeitig kündigte er weitere Sozialreformen an, unter anderen die Anhebung des Mindesteinkommens um 15%, was Tausenden aus der Arbeiterklasse zu Gute kommen wird.
Dennoch wird die abermalige Wiederwahl Chávez´ zum Präsidenten nicht ausreichen, um all die Probleme zu lösen, denen sich die Arbeiterklasse, die LandarbeiterInnen und Armen Venezuelas gegenüber sehen. Trotz der einschneidenden Reformen, die in erster Linie aus den hohen Öleinnahmen Venezuelas finanziert sind, leben 70% der Bevölkerung immer noch in Armut – bei gleichzeitiger Profitsteigerung der Großkonzerne. Die Reformen der Chávez-Regierung, die vereinzelten Verstaatlichungsmaßnahmen und die teilweise Beteiligung der ArbeiterInnen haben die Opposition in Rage gebracht. Die Eigentumsverhältnisse in der Schlüsselindustrie, bei den Banken und Finanzinstituten sowie die Landfrage bleiben weiterhin unberührt.
Die weitere Entwicklung von Revolution und Gegen-Revolution in Venezuela wird zweifellos fortschreiten. Hat dieses Gegenspiel jedoch in absehbarer Zeit ein bestimmtes Level erreicht, so wird mensch nicht umhin kommen, entscheidende Schlussfolgerungen zu ziehen. Entweder wird die Konterrevolution die Macht durch einen blutigen Militärputsch wie 1973 in Chile zurück erobern oder in „demokratischerer“ Form wie im Nicaragua der 1980er und -90er Jahre. Ein anderes Szenario gibt die Arbeiterklasse, die mit Unterstützung der anderen ausgebeuteten Schichten Venezuelas Kräfte aufbauen muss, um radikal mit dem Kapitalismus zu brechen. Es wird entscheidend sein, die Schlüsselindustrien, die Banken und Finanzinstitute und den Boden unter die demokratische Kontrolle der ArbeiterInnen zu stellen. Das würde dann endlich eine demokratisch geplante Produktion ermöglichen, die den Bedürfnissen der Massen und nicht mehr denen einer privilegierten Minderheit entspricht. Eine erfolgreiche Schlussfolgerung nach diesem Muster wird aber nicht automatisch erfolgen. Es bedarf dazu dringendst einer unabhängigen Organisation der Arbeiterklasse und Ausgebeuteten, die mit einem sozialistischen Programm ausgestattet ist.