Fr 09.11.2007
Seit dem Mord an der Berliner Kurdin Hatun Sürücü im Februar 2005 wird über die sogenannten „Ehrenmorde“ berichtet. Sie scheinen die Rückständigkeit und Unterdrückung der Frau im Islam zu symbolisieren. Doch während jeder „Ehrenmord“ von allen Seiten beleuchtet wird, wird es kurz und knapp als „Familientragödie“ abgehandelt, wenn ein deutscher Mann Frau und Kinder umbringt.
Die Ermordung von Frauen, weil sie die „Familienehre“ verletzt haben, zum Beispiel durch außereheliche sexuelle Beziehungen, gibt es, seitdem es patriarchalisch strukturierte Klassengesellschaften gibt (Patriarchat = Männerherrschaft). „Ehrenmorde“ waren laut babylonischem Gesetzbuch erlaubt und wurden unter anderem bei germanischen Stämmen sowie in der peruanischen Inka-Kultur praktiziert.
Laut einem Bericht der UN aus dem Jahr 2000 kommt es jährlich zu mindestens 5.000 „Ehrenmorden“, sowohl in islamischen Ländern wie Afghanistan, Türkei und Pakistan als auch in Brasilien, Italien und Indien.
Der Islam
In Deutschland werden „Ehrenmorde“ in erster Linie von Männern aus den ländlich geprägten Gebieten der Türkei und Arabiens verübt. Manche der Täter mögen sich dabei auf den Islam berufen. Doch der Islam hat weder diese Art von Morden erfunden, noch heißt er sie gut. Die islamische Gesetzgebung, die Scharia, kennt den Begriff nicht, ein solcher „Ehrenmord“ fällt schlicht in die Kategorie des Mordes. Laut den Buchstaben der Scharia darf nur ein hohes Gericht die Todesstrafe verhängen, nicht aber ein beleidigter Mann oder Vater oder ein Dorfmullah.
Tatsächlich war die Einführung des Islams im 7. Jahrhundert unserer Zeitrechnung ein Fortschritt für die Rechte der Frauen in der arabischen Gesellschaft. Doch die Anwendung der aus der Epoche der Sklavenhalter oder Feudalgesellschaft stammenden Lehrsätze aus Altem und Neuem Testament oder Koran auf die heutige Situation ist komplett reaktionär und frauenfeindlich.
Nicht der Islam ist der gemeinsame Nenner der „Ehrenmorde“, sondern die Herkunft von Opfer und Täter aus feudal-patriarchalen Gesellschaften, in denen die Rechte der Frau und andere demokratische Rechte wenig gelten.
In der christlich geprägten Bundesrepublik gibt es keine ausgesprochene Tradition von Morden wegen „Ehebruch“ und ähnlichen „Vergehen“, aber Gewalt und gesellschaftliche Ächtung von Frauen, die sich auflehnen und Regeln verletzen, kennen alle christlichen Länder. Gewalt von Vätern beziehungsweise Eltern gegen Töchter, die uneheliche Beziehungen hatten, waren in vergangenen Jahrzehnten keine Seltenheit. Die Vormundschaft des Mannes über die Frau war bis in die sechziger Jahre festgeschrieben: Verheiratete Frauen brauchten die schriftliche Zustimmung ihres Mannes, um eine Arbeit aufnehmen zu können. (in Österreich bis 1975, Anm.)
Deutsche „Familientragödien“
Gewaltverbrechen werden in Deutschland in erster Linie von Männern begangen. Sie sind für 84,6 Prozent aller Morde und 98,8 Prozent aller Vergewaltigungen und sexuellen Nötigungen verantwortlich (Polizeiliche Kriminalstatistik 2006). Bei vollendetem Mord und Totschlag an Frauen sind die Tatverdächtigen zu über 50 Prozent Verwandte, bei männlichen Opfern sind es 23,6 Prozent. Der gefährlichste Ort für eine Frau ist die eigene Wohnung. Es gibt zwar wesentlich mehr Mordversuche an Männern, aber bei den vollendeten Morden stellen Frauen 2006 mehr als die Hälfte der Opfer.
Als „Familientragödien“ finden einige dieser häuslichen Verbrechen den Weg in die Schlagzeilen. Anlass ist oft die Trennung. Die „Familientragödie“ folgt einem brutalen Muster: Der Mann fühlt sich verlassen, erniedrigt, „dreht durch“, tötet die Frau, oftmals auch die Kinder und bringt sich danach selbst um. Der Selbstmord des Mörders führt zur neutralen, verharmlosenden Benennung der „Tragödie“, als ob es keine Täter sondern nur Opfer gäbe.
Tatsächlich gibt es Ähnlichkeiten zwischen dem „Ehrenmord“ an Hatun Sürücü und der „Tragödie“ von Rheinfelden, bei der im April 2005 ein Mann seine Frau, die beiden Kinder und seine Eltern umbrachte, weil die Frau sich scheiden lassen wollte. In beiden Fällen wurde die Herrschaft des Mannes in Frage gestellt, weil die Frau eigene Wege ging. In beiden Fällen wurde dies mit der Vernichtung der Frau beantwortet. In beiden Fällen gibt es klare Täter und Opfer. Dass im Fall einer „Familientragödie“ der Täter oft sich und sein chauvinistisches Elend selbst ein Ende setzt, macht den Mord nicht weniger entsetzlich.
Es gibt allerdings auch klare Unterschiede. Oft sind „Ehrenmorde“ kühl geplante Morde, die von Teilen oder der gesamten Familie unterstützt werden. In einigen Fällen wurden jugendliche Täter vorgeschickt, den Auftrag auszuführen, weil sie eine geringere Strafe zu erwarten haben. Mörder können sich auch auf Sympathien bei rückständigen Teilen einiger Migranten-Gemeinden stützen. Die Ideologie, Frauen zu unterwerfen und zu disziplinieren, wird zum Teil offen unterstützt.
Die Täter bei „Familientragödien“ sind Außenseiter. Sie rennen in eine Sackgasse, vernichten die Schwächeren und stellen fest, dass es für sie keinen Weg mehr zurück in die Gesellschaft gibt und töten sich selbst. Die Basis beider Arten von Verbrechen ist die gleiche, die konkrete Form eine andere. Wer von „Ehrenmorden“ redet, sollte zu „Familientragödien“ nicht schweigen.
Eine heuchlerische Debatte
Die grausigen Morde an Frauen durch ihre Familien werden aber vor allem politisch genutzt, um eine Frontstellung gegen „den Islam“ aufzubauen. Oft erregen sich diejenigen am Lautesten über die „islamische Frauenfeindlichkeit“, die selber besonders konservativ sind. Fundamentalistische Katholiken in Deutschland rufen nicht zum Mord an „Ehebrecherinnen“ auf, aber sie propagieren die Herrschaft des Mannes und des Staates über die Frauen. Der Kölner Kardinal Meisner bezichtigt immer wieder abtreibende Frauen des Mordes und fordert, dass die Abtreibung verboten wird.
Für Frauen aus der Türkei, Kurdistan oder arabischen Ländern ist der Kampf gegen die Unterdrückung und für Gleichberechtigung zentral. Sie müssen dabei unterstützt werden. Es darf keine Verharmlosung patriarchalischer Gewalt in Migranten-Familien geben.
Doch die aktuelle Debatte wird genutzt, um die Realität auf den Kopf zu stellen. Frauenfeindliche Einstellungen und Gewalt gegen Frauen wird als etwas von außen, aus dem „islamischen Kulturkreis“ Kommendes dargestellt – ausgerechnet von politischen Kräften, die selber ein reaktionäres Frauenbild vertreten.
Die offene Unterdrückung der Frau ist geschichtlich mit der Sklavenhaltergesellschaft entstanden und im Feudalismus verfestigt worden. Die Durchsetzung des Kapitalismus seit dem 19. Jahrhundert hat die Lage der Frauen nicht verbessert. Erst die massiven Bewegungen der Arbeiter und der Frauen haben demokratische Rechte erkämpfen können, auch wenn von Gleichberechtigung nie die Rede sein konnte.
Heute werden auf der Grundlage der kapitalistischen Krise die Rechte der Frauen erneut beschnitten. Frauen werden oftmals zu Opfern der sozialen Krise und der Verwahrlosung der Gesellschaft. Mittelalterliche Reaktionäre wie Kardinal Meisner sind die Vorreiter der modernen, kapitalistischen Offensive gegen die Rechte der Frauen.
Durch Verschärfungen im Ausländerrecht und das harte Vorgehen der Ausländerbehörden wird die Lage von Migrantinnen, die unter häuslicher Gewalt leiden, zusätzlich erschwert. SPIEGEL Online berichtete am 19. Oktober: „In Sonntagsreden fordern Politiker besseren Schutz von Ausländerinnen vor Gewalt in der Ehe. Doch die Behörden drohen den geschundenen Frauen nach Angaben von Hilfsorganisationen immer öfter mit Abschiebung. Die Folge: Migrantinnen bleiben bei ihren prügelnden Ehemännern.“ Das deutsche Ausländerrecht ist keine Hilfe für die Frauen, sondern kann zu einer Gefahr für sie werden. Wer gegen Männergewalt in Migranten-Familien etwas tun will, muss dafür sorgen, dass alle Frauen ein eigenständiges Aufenthaltsrecht bekommen.
Die Linke und die Arbeiterbewegung müssen ohne Wenn und Aber für die Gleichberechtigung, gegen häusliche Gewalt und Unterdrückung eintreten, ob es um Frauen aus muslimischen oder nicht-muslimischen Familien geht. Gleichzeitig muss die Linke der Demagogie gegen den Islam entgegentreten.