Di 28.02.2017
Auch „seriöse“ Medien geben eine einseitige Wahrheit wieder: die „Wahrheit“, die den Herrschenden nützt.
„Postfaktisch“ ist das Modewort dieser Tage. Das Oxford Dictionary wählte es zum internationalen Wort des Jahres 2016, und auch die Gesellschaft für deutsche Sprache verlieh ihm diesen Titel. Die „seriösen“ Medien sind voller Empörung über postfaktische Fake News: Nicht mehr Fakten, sondern Emotionen oder gar politische Motive bestimmen die gesellschaftliche und politische Debatte, so der Vorwurf.
Natürlich wird im Internet allerlei Unsinn verbreitet. Natürlich greifen Boulevardblätter jedes Gerücht auf, um eine Sensation zu verkaufen. Aber ist die „seriöse“ Presse deswegen neutral? Josef Urschitz schreibt in der Presse vom 30.12.2016 ganz nüchtern: „Stärkere Besteuerung der Erträge aus Besitz und „intellectual property“ sind schwer ideologisch belastet und greifen in bestehende Besitzstände ein“, und bezeichnet das Sozialsystem als „nicht mehr zeitgemäß“ – Niemand von den HüterInnen journalistischer Professionalität würde ihm hier vorwerfen, er verbreite Fake News. Eine neutrale „Wahrheit“ ist das jedoch auch nicht - Er drückt hier nur die Interessen der Klasse aus, für die er schreibt: die KapitalistInnen, die ihre Profite verteidigen wollen. In ihre Besitzstände (die aus unserer Arbeit kommen) einzugreifen, ist für ihn tabu. Die kapitalistische Ausbeutung ist auch für die „seriöse“ Presse ein Naturgesetz, das zu kritisieren oder gar zu bekämpfen unvernünftig oder „ideologisch vorbelastet“ ist.
Die herrschenden Medien drücken immer die allgemeinen Interessen der Klasse aus, die von den grundlegenden Mechanismen dieses Systems profitiert – und stellt sie als tatsächliche Interessen der ganzen Gesellschaft, als „Wahrheit“ dar. Vom Standpunkt all jener, die tagtäglich unter diesem System leiden, ist jedoch an dieser „Wahrheit“ nicht mehr dran als an einer wissentlich verbreiteten Lüge. Das Problem ist also nicht, dass die herrschende Presse lügt, wie die rechtsextremen „Lügenpresse“-Schreier behaupten, sondern dass sie die Wahrheit sagt: die Wahrheit ihrer Klasse. Was den Interessen der Herrschenden widersprach, war hingegen immer schon „unvernünftig“: Im 19. Jahrhundert die Idee der Gleichstellung von Frauen, im 20. Jahrhundert die Gegnerschaft zu imperialistischen Weltkriegen usw.
Im Zuge der wirtschaftlichen Krise wird immer klarer, dass es keine gemeinsamen Interessen verschiedener Klassen gibt. Der wehmütige Blick in vergangene, „sachlichere“ Zeiten ist die Sehnsucht nach einer Ära, in der die Herrschaft der KapitalistInnen noch stabiler war. Der „Brexit“ war für die Presse unvernünftig und postfaktisch – weil ihre Klasseninteressen, die Stabilität der EU, nicht mehr als oberstes Kriterium galten. Auch untereinander kriegen sie sich immer mehr in die Haare: Dieselben Medien, die gegen „Fake News“ ankämpfen, finden nun russische Verschwörungen hinter jeder Ecke, z.B. bei der US-Präsidentschaftswahl – Währenddessen schreiben putintreue Medien seit Jahren die NATO-Invasion Russlands herbei. Die zunehmende Rivalität zwischen westlichen Medien und z.B. dem russischen Sender RT ist Ausdruck der steigenden zwischen-imperialistischen Spannungen.
Aber (Falsch-)Informationen, ja sogar plumpe Lügen können sich nur in dem Maße verbreiten, in dem sie an ein bestehendes Bewusstsein anknüpfen. In dem Sinne sind sie nie Ursache, wohl aber Auslöser von Aktivitäten. Über die Zeit der bürgerlichen Revolutionen schreibt Marx: „So reif war Spanien für eine Revolution, dass selbst falsche Nachrichten genügten, sie hervorzurufen. Auch 1848 waren es falsche Nachrichten, die den revolutionären Orkan entfesselten.“ (Das revolutionäre Spanien, MEW 10, 481)
„Postfaktische“ Phänomene wie der Brexit, die Wahl Trumps oder der Aufstieg des europäischen Rechtspopulismus haben einen gemeinsamen Kern: In ihnen drückt sich Angst vor den Folgen der zerstörerischen kapitalistischen Krise und der Wunsch nach Veränderung aus. Gerade deswegen darf die Linke heute nicht „realistisch“ oder „vernünftig“ im Sinne der Herrschenden sein. „Verantwortungsvolle“, „sachorientierte“, „pragmatische“ Politik zu machen, bedeutet, sich mit den Herrschenden ins gleiche, sinkende Boot zu setzen. Das gibt wiederum der rechtsextremen Hetze Munition, die sich dann als einzige Alternative darstellen kann. Den Sachzwängen der Herrschenden müssen die Bedürfnisse von ArbeiterInnen und Arbeitslosen jeglicher Herkunft und aller Geschlechter kompromisslos entgegengestellt werden. Es braucht mehr linke Medien und Kräfte, die die existierende Wut auf das bestehende System aufgreifen und organisieren, auch wenn das als „unseriös“ diffamiert wird. Für die herrschende Klasse ist der Bruch mit der kapitalistischen Logik unvernünftig und den Fakten widersprechend. Für uns ist er notwendig.