Fr 10.11.2006
Mit der Gründung der WASG und dem nun zu erwartenden Zusammengehen von WASG und Linkspartei.PDS stellt sich in aller Schärfe die Frage: Was für eine linke Partei brauchen abhängig Beschäftigte, Erwerbslose und Jugendliche? Welches Programm, welche Politik, welche Strukturen sind nötig?
Diese Fragen stellen sich nicht nur in Deutschland, sondern international. Überall forcieren Unternehmer und Politiker Sozialabbau, Lohnkürzungen, Entlassungen und Aufrüstung. Überall ist die arbeitende Bevölkerung auf eine Partei angewiesen, die für ihre politischen Interessen eintritt, Kämpfe miteinander verbindet und Antworten auf die kapitalistischen „Sachzwänge“ gibt.
In Ländern wie Schottland oder Brasilien sind neue linke Parteien entstanden, die in Protestbewegungen eine Rolle gespielt haben und Abgeordnete stellen. In Großbritannien und Belgien wird die Frage einer Parteigründung derzeit unter gewerkschaftlichen und sozialen AktivistInnen intensiv diskutiert. In Italien und in den Niederlanden haben schon länger existierende Formationen in den letzten Jahren Zulauf gehabt.
Sozialdemokratie
Jahrzehntelang waren sozialdemokratische (in einigen Ländern auch kommunistische) Parteien eine dominierende Kraft in der Arbeiterbewegung. Das ist Geschichte. Die SPD hat seit1990 400.000 (von 950.000) Mitglieder verloren, bei der Bundestagswahl 2005 büßte sie 2,3 Millionen Wählerstimmen ein. Beschäftigte und Erwerbslose wenden sich in Scharen von ihr ab, nachdem sie dem massivsten Umverteilungsprogramm seit 1945 den Weg ebnete. Ähnliche Entwicklungen vollzogen sich in anderen Ländern. So kassierte New Labour in Großbritannien bei den jüngsten Kommunalwahlen ihre größte Wahlniederlage seit 30 Jahren. Seit Tony Blair 1997 Premierminister wurde, traten 200.000 (von 400.000) Mitgliedern aus der Labour Party aus.
Jahrzehntelang hatten diese Parteien in der Arbeiterklasse eine starke Basis, wurden von vielen als „ihre“ Partei gesehen, obwohl die Führung auch damals kapitalistisch war. Im Zuge der Veränderungen vor 15 Jahren – Wiedereinführung der Marktwirtschaft in Osteuropa, Schwächung der Linken und neoliberale Offensive – gingen diese Parteien vollständig in das bürgerliche Lager über.
Seitdem hat sich die kapitalistische Krise verschärft. Der Kampf um Absatzmärkte und Rohstoffe tobt ungehemmter. Die Vorstände in den Konzernen haben eine härtere Gangart eingeschlagen. Dagegen regt sich verstärkt Widerstand.
Neue linke Parteien
Die Herausbildung von politischen Formationen, die für die Arbeiterklasse „Partei“ ergreifen und in Betrieben, Gewerkschaften, Stadtteilen verankert sind, steckt noch in den Kinderschuhen. Der Aufbau von politischen Interessenvertretungen für Lohnabhängige und Erwerbslose wird ein in die Länge gezogener Prozess sein. Aber ein Prozess, der bereits begonnen hat.
In Brasilien wurde vor zwei Jahren die P-SOL (Partei für Sozialismus und Freiheit) ins Leben gerufen. Gegründet wurde sie von verschiedenen revolutionären, sozialistischen Organisationen und von ehemaligen Mitgliedern der Arbeiterpartei (PT), die unter Lula an der Regierung eine neoliberale Politik verfolgt. Bei der Präsidentschaftswahl erreichte P-SOL-Mitglied Heloisa Helena 6,85 Prozent. Um überhaupt bei Wahlen zugelassen zu werden, konnten P-SOL-Anhänger im Jahr 2004 800.000 Unterschriften sammeln.
In Schottland gelang es der vor wenigen Jahren gegründeten Schottischen Sozialistischen Partei (SSP), sechs Parlamentssitze zu erobern. Maßgeblich dafür war die Rolle, die AktivistInnen – nicht zuletzt von Mitgliedern der dortigen SAV-Schwesterorganisation - bei der Boykottkampagne gegen die Einführung einer Kopfsteuer vor gut 15 Jahren spielten. Tommy Sheridan, das prominenteste SSP-Mitglied, war während dieser Kampagne aus dem Gefängnis heraus in den Stadtrat von Glasgow, später ins schottische Parlament gewählt worden.
Diese junge Partei geriet jedoch schnell in eine tiefe Krise. Maßgeblich dafür war ein politischer Rechtsschwenk der Parteispitze, die Illusionen in ein unabhängiges Schottland auf kapitalistischer Basis verbreitet. Damit einher gehend spitzten sich persönliche Konflikte zu. In diesem Sommer kam es zur Spaltung. Unter Federführung der Abgeordneten Tommy Sheridan und Rosemary Byrne, aber auch unter der Beteiligung von CWI-Mitgliedern, wurde die Schottische Sozialistische Bewegung (SSM) aus der Taufe gehoben. Zur Gründungsveranstaltung kamen 600 TeilnehmerInnen.
Kampagnen für Arbeiterparteien
Im Januar lud Bob Crow, Generalsekretär der Eisenbahngewerkschaft RMT, in Großbritannien zu einer Konferenz ein, auf der Alternativen zu New Labour diskutiert wurden. Über 300 TeilnehmerInnen zählte die Veranstaltung. Ein Vierteljahr später beteiligten sich ebenfalls Hunderte daran, eine Kampagne für eine neue Arbeiterpartei zu starten. Darunter einige Vorstandsmitglieder nationaler Gewerkschaften, Stadtrat und CWI-Mitglied Dave Nellist, der in den achtziger Jahren im Unterhaus saß, und eine wichtige Zahl gewerkschaftlicher und sozialer AktivistInnen. Die Kampagne hat sich die Aufgabe gestellt, in der nächsten Zeit die Idee einer neuen Arbeiterpartei zu verbreiten, Argumente dafür zu liefern, Veranstaltungen (zum Beispiel am Rande von Gewerkschaftskongressen) zu organisieren und Unterstützungsunterschriften zu sammeln.
Angeführt vom Parlamentsabgeordneten George Galloway gibt es in Großbritannien auch die Initiative Respect. Diese gewann bei den Kommunalwahlen im Mai 16 Stadtratsposten. Respect orientiert schwerpunktmäßig auf MuslimInnen; die 16 Stadträte, davon zwölf im Londoner Tower Hamlets, haben alle einen muslimischen Hintergrund.
In Belgien gab es vor dem Hintergrund von zwei Generalstreiks in den letzten zwölf Monaten, 18 Jahren sozialdemokratischer Regierungsbeteiligung und Zuwachs für die rechtsextreme Vlaams Belang (nicht zuletzt mangels einer starken linken Alternative) einen Appell unter dem Motto „Eine andere Politik ist nötig, eine andere Politik ist möglich“. Angestoßen wurde diese Initiative von Jef Sleechx (21 Jahre für die sozialdemokratische SP Parlamentsabgeordneter), Lode Vanoutrive (fünf Jahre SP-Europaabgeordneter) und Georges Debunne, langjähriger führender Kopf des sozialdemokratischen Gewerkschaftsverbandes ABVV/FGTB. In dieser Gewerkschaft soll es noch vor Jahresende eine Abstimmung über ihre politischen Verbindungen geben. Nach einer Serie von Diskussionen unter Betriebsräten und diversen Versammlungen wurde für den 28. Oktober zu einer Großveranstaltung aufgerufen, auf der eine neue politische Bewegung gegen Neoliberalismus gestartet werden soll.
In Frankreich ist eine Initiative zur Gründung einer neuen Arbeiterpartei längst überfällig. Der Widerstand gegen die Änderungen beim Kündigungsschutz, die Massenproteste gegen Le Pen und die Faschisten sowie die zehn Prozent für die beiden trotzkistischen Kandidaturen von LO und LCR bei der Präsidentschaftswahl 2002 zeigen das Potenzial. Leider haben bislang weder LO noch LCR einen konkreten Schritt in diese Richtung unternommen.
Perspektiven
Neben diesen Neugründungen und Kampagnen gibt es in Einzelfällen auch Parteien mit einer längeren Geschichte, die einen Bezugspunkt für ArbeiterInnen und Jugendliche darstellen. In Italien trifft das auf die RC zu, die aus der alten KP hervor ging. In den Niederlanden schlugen sich Kämpfe und Debatten in der dortigen Sozialistischen Partei nieder, einer früher von MaoistInnen aufgebauten Partei.
Von entscheidender Bedeutung werden in der nächsten Zeit die Teile in der Arbeiterklasse sein, die heute (oft zum ersten Mal) aktiv werden, sich politisieren, radikalisieren und Schlussfolgerungen ziehen. In einzelnen Fällen können aus Kämpfen heraus, zunächst auf lokaler oder regionaler Ebene, Bündnisse entstehen oder Kandidaturen stattfinden. In anderen Fällen können bekannte Streik- oder Gewerkschaftsführer parteipolitische Vorstöße unternehmen, die Resonanz finden. Seltener ist von relevanten Abspaltungen sozialdemokratischer Parteien auszugehen, da diese schon weitgehend „entleert“ sind. Unter bestimmten Umständen kann auch der Zusammenschluss bestehender sozialistischer Organisationen, wenn sie eine gewisse Basis haben, eine Rolle spielen. Sicherlich wird es kein geradliniger, sondern ein längerer, komplizierter Prozess sein.
Da sich der Kapitalismus im Niedergang befindet, und es wenig Spielräume für Reformen gibt, stehen neue linke Parteien heute schnell vor der Alternative, entweder entschlossenen Widerstand zu organisieren oder dem Druck von oben nachzugeben.
Die SAV und ihre Schwesterorganisationen machen sich dafür stark, die Konsequenzen aus dem Scheitern der früheren sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien zu ziehen. Das Scheitern begann mit der Akzeptanz des Kapitalismus und der Abkehr vom Sozialismus. Erst in der „Realpolitik“, dann in der Programmatik. Daraus müssen die Lehren gezogen werden. Nötig sind Parteien, die bereit sind, sich mit den Herrschenden anzulegen. Nötig ist ein sozialistisches Programm für diese Parteien.