Fr 10.11.2006
2002 wurde der ehemalige Metallarbeiter und zweimaliger Gewerkschaftspräsident Luis Inácio Lula da Silva, genannt Lula, mit mehr als 52 Millionen Stimmen zum brasilianischen Präsidenten gewählt. Lula ist der Kopf der Partei der Arbeiter (PT). Mit Lulas Präsidentschaft waren große Hoffnungen verknüpft. Hoffnungen, die bitter enttäuscht wurden. Vor diesem Hintergrund hat die Partei für Sozialismus und Freiheit (P-SOL), die sich von der PT abspaltete, in den letzten zwei Jahren in Brasilien (einem Land mit über 180 Millionen Menschen) rasant Fortschritte erzielt.
Ein Streik von Metallarbeitern in Sao Paulo, der 1978, zu Zeiten der Militärdiktatur (1964 bis 1985) stattfand, war der Ausgangspunkt für die Gründung der PT 1980. Bei der Parlamentswahl 1982 kam die PT aus dem Stand auf 3,5 Prozent.
PT, die Partei Lulas
Bei Präsidentschaftswahlen kandidierte Lula zum ersten Mal 1989, erhielt 31 Millionen Stimmen und kam auf den zweiten Platz. Im Zuge der Wiederherstellung des Kapitalismus in Osteuropa, der Niederlage der Sandinistas in Nicaragua und der globalen bürgerlichen Offensive biederte sich die PT immer mehr an das Establishment an und ging politisch nach rechts.
Unter verschiedenen neoliberalen Präsidenten stiegen Armut, Korruption und Staatsverschuldung dramatisch an. Angesichts dessen gelang es Lula bei seinem vierten Versuch, die Präsidentschaftswahl im Jahr 2002 für sich zu entscheiden.
„Die ehemaligen Bedenkenträger in der Wirtschaft sind heute zumindest beruhigt, wenn nicht gar begeistert über Lulas Wirtschaftskurs. Die Banken fahren Rekordgewinne ein“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4. September).
Neoliberale Politik unter Lula
Die Arbeitslosigkeit stieg an, die Agrarreform blieb aus, der Amazonas wird abgeholzt wie nie. Nur ein kleiner Teil der verarmten Bauern bekam, wie vor der Wahl versprochen, Land zugeteilt. Die Bewegung der Landlosen (MST) wendete sich von Lula ab. Mehr als ein Fünftel der Staatseinnahmen geht weiterhin für den Zinsdienst drauf. Ein Großteil dieser Mittel war im Haushalt ursprünglich für Arbeitsbeschaffungsprogramme, Gesundheit oder Bildung vorgesehen. Auf der anderen Seite erhielten privatisierte Betriebe staatliche Zuschüsse.
Lula hat in seiner ersten Legislaturperiode Glück gehabt. Der internationale Konjunkturaufschwung stärkte die Nachfrage aus China, Indien und anderen Ländern nach brasilianischen Rohstoffen wie Soja und Eisenerz. Die Regierung unternahm bewusste Anstrengungen, sich einen Wählerstamm zu sichern, indem es die Sozialhilfe, vor allem im Wahljahr, ausweitete. Viel ist es allerdings nicht, gerade einmal 25 Euro umgerechnet bekommen sie.
Aufgrund der unsozialen Politik und von zahlreichen Korruptionsskandalen angeschlagen, verlor die PT Unterstützung und aktive Mitglieder. Sichtbar wurde das am Wahltag, dem 1. Oktober. Allgemein war ein klarer Wahlsieg Lulas schon in der ersten Runde erwartet worden. Doch er erhielt nur knapp 49 Prozent der Stimmen.
Die MST rief diesmal nicht zur Wahl der PT auf. Vor allem Beschäftigte, die in der ersten Amtszeit Lulas in Auseinandersetzungen mit der Regierung standen, betrachteten die PT nicht mehr als ihre Partei. Schon im ersten Regierungsjahr hatte es eine größere Protestbewegung der Studierenden und der LehrerInnen gegeben. Jüngst gab es Streiks bei VW, im Banksektor und bei Staatsbeschäftigten – die leider nicht koordiniert wurden.
Gründung der P-SOL
Infolge des pro-kapitalistischen Regierungskurses der PT wurde vor zwei Jahren begonnen, einen neuen Versuch beim Aufbau einer Arbeiterpartei zu unternehmen. Anfang 2004 fand in Rio de Janeiro die Gründung der Linksdemokratisch-sozialistischen Bewegung statt.
Es folgten örtliche und regionale Treffen im ganzen Land, an denen 20.000 Menschen teilnahmen. Die nationale Gründungsversammlung der neuen Partei war im Juni 2004 mit über 1.000 AktivistInnen.
Eine wichtige Basis der P-SOL sind Beschäftigte des öffentlichen Dienstes. Bereits in seinem ersten Amtsjahr hatte Lula und die Führung des Gewerkschaftsdachverbandes CUT einen Angriff auf ihre Renten gestartet. Die Antwort der Beschäftigten war ein Streik mit 600.000 Beteiligten. Ein Teil dieser Beschäftigten kam zu der Schlussfolgerung, dass nicht nur Widerstand, sondern auch eine neue Partei nötig ist. Da Lula unter anderem den Mutterschaftsurlaub verkürzte, brachte er auch Beschäftigte im privaten Sektor gegen sich auf. Die Bewegung für die neue Partei bekam außerdem Zulauf aus der Gewerkschaftsjugend.
Unter den PT-Mitgliedern hatten nur drei Abgeordnete (João Batista, genannt Babá, Luciana Genro und João Fontes) und eine Senatorin (Heloísa Helena) gegen die geplante Rentenreform gestimmt. Sie wurden aus der PT ausgeschlossen. Diese Abgeordneten, weitere frühere PT-Mitglieder und Akteure verschiedener sozialistischer Organisationen gehörten zu den Initiatoren der neuen Partei.
Programm und Politik
Das Gründungsprogramm fordert Lohnerhöhungen, Arbeitszeitverkürzung und öffentliche Investitionen, sowie die Streichung der Schulden und eine Agrarreform. Es wird Stellung gegen Sexismus und Rassismus bezogen. Die Arbeiterklasse und die Jugend werden als die Kräfte genannt, die die Gesellschaft verändern können. Die P-SOL fordert nicht nur die Rückverstaatlichung privatisierter Betriebe, sondern auch die Vergesellschaftung der großen Konzerne. Außerdem heißt es im Programm, dass der Kapitalismus überwunden werden muss und eine sozialistische Gesellschaft nötig ist. Die neue Partei lehnt den Stalinismus ab und betont die Notwendigkeit der Verbindung von Sozialismus und Demokratie.
Die Satzung ist sehr demokratisch, es ist anderen linken Organisationen ausdrücklich erlaubt, sich als Tendenzen in der P-SOL zu engagieren und sowohl innerhalb der P-SOL als auch öffentlich eigenes Material zu verbreiten. Minderheitenpositionen werden respektiert.
Auf dieser Basis müsste es ein Leichtes sein, Zulauf zu gewinnen. Allerdings zeichnen sich zwei Gefahren ab. Erstens gibt es eine Tendenz, gerade von einem Teil der prominenten P-SOL-Mitglieder, Theorie und konkrete Politik von einander zu trennen und im Zuge dessen politische Positionen zu verwässern. Zweitens wird bislang die Aufbauarbeit über reale Kämpfe und Kampagnen vernachlässigt.
P-SOL und die Wahl
In den letzten zwölf Monaten sind weitere PT-Funktionäre in die P-SOL eingetreten. Darunter auch ein Abgeordneter, der für Lulas Kandidaten zum Parlamentspräsidenten votierte. Einige argumentieren: „Die PT ist doch nicht unser Hauptgegner, das sind doch die Rechten.“ Aber die PT ist verantwortlich für eine Politik, die sich nahtlos am neoliberalen Kurs der rechten Vorgänger anschließt.
Heloísa Helena, die wohl populärste Vertreterin der P-SOL, trat als Präsidentschaftskandidatin für ein linkes Bündnis an, das auch die Kommunistische Partei mit einschloss. Sie erreichte 6,85 Prozent der gültigen Stimmen. Das sind mehr als 6,5 Millionen WählerInnen. Von sieben Parlamentsabgeordneten wurden drei wiedergewählt; außerdem zogen drei Abgeordnete in Parlamente der Bundesstaaten ein, vier verloren ihre Sitze.
Es wäre jedoch noch mehr drin gewesen. An einem bestimmten Punkt lag Helena bei zwölf Prozent und es war sogar möglich, den konservativen Geraldo Alckmin vom zweiten Platz zu verdrängen, und gegen Lula in die Stichwahl zu gelangen. In dieser Phase nahm der Druck des Establishments auf Helena enorm zu, weniger radikal aufzutreten. Dem gab sie ein Stück weit nach, und redete vor allem von Mut, Glaubwürdigkeit und Ehrlichkeit, statt ihre Kritik am Profitsystem vorzubringen.
Nach dem Wahltag stellte sich die Frage, wie sich die P-SOL in der Stichwahl positioniert. Helena erklärte richtigerweise, dass weder Lula noch Alckmin unterstützt werden können. Leider entschied sich die Partei als Ganzes nicht für diese Haltung, sondern ließ es den AnhängerInnen offen, wie sie sich bei dem zweiten Wahlgang verhalten.
Der Praxistest
Socialismo Revolucionario (SR), die brasilianische Schwesterorganisation der SAV, hat sich von Anfang an beim Aufbau der P-SOL engagiert. Andre Ferrari ist Mitglied des nationalen Vorstands der P-SOL. SR setzt sich in der P-SOL dafür ein, dass die Partei in jeder Auseinandersetzung den Kampf um Verbesserungen, ausgehend von den konkreten Fragen, mit dem Kampf für eine sozialistische Veränderung verbindet.
Die Organisation des CWI in Brasilien betont darüber stark, dass P-SOL auch konsequent Teil von Arbeitskämpfen und sozialen Protesten sein muss. Nach Ansicht von SR sollten Wahlkämpfe und die Positionen in Parlamenten genutzt werden, um Gegenwehr zu unterstützen.
Schon bald nach der Wahl könnte Lula den Druck auf die Arbeiterklasse und auf die unterdrückten Massen enorm erhöhen. Innerhalb eines Jahres werden fast 40 Prozent der Inlandsschulden fällig. Lula wird nicht für Schuldenstreichung eintreten, sondern die arbeitende Bevölkerung zur Kasse bitten. Sollte das mit einem ökonomischen Abschwung einher gehen, sind Massenproteste gegen einen forcierten „Sparkurs“ möglich. Hier muss sich die P-SOL beweisen, in dem sie aktiv eingreift, Kampfvorschläge macht und in Programm und Politik die Bereitschaft mit bringt, sich mit den Herrschenden anzulegen.