Di 08.05.2018
1968, das war eine „revolutionäre Welle“! Wie schon nach der französischen Revolution 1789, dem Jahr 1848, der Russischen Revolution 1917 oder zuletzt dem „arabischen Frühling“ 2011 erfasste sie nicht nur einzelne Länder, sondern breitete sich international aus. Die Proteste nahmen aufeinander Bezug und heizten sich gegenseitig an. Es entstand ein Bewusstsein für Internationalismus abseits der oft hohlen Phrasen von Stalinismus und Sozialdemokratie. Es entstand, trotz erheblicher politischer und wirtschaftlicher Unterschiede in verschiedenen Ländern, aus einer gemeinsamen Erfahrung: Die Versprechen der Herrschenden für eine bessere Zukunft, die Behauptung beider Seiten im Kalten Krieg, das bessere, menschenfreundlichere System zu sein, wurden immer unglaubwürdiger.
Der industrialisierte „Westen“ erlebte nach 1945 einen gigantischen wirtschaftlichen Boom. Auch wenn die KapitalistInnen nicht freiwillig teilten: starke Gewerkschaften hatten (auch vor dem Hintergrund der Systemkonkurrenz zu den stalinistischen Staaten) auch für die ArbeiterInnen den höchsten Lebensstandard der Geschichte erkämpft. Dieser Boom geriet Ende der 60er Jahre ins Stocken. Zwar war das noch nicht die internationale Wirtschaftskrise, die mit Anfang der 1970er Jahre einsetzte, aber erstmals seit Jahren nahmen wieder Massenentlassungen, Fabriksschließungen und Lohnverluste zu. Es wurde deutlich, dass der Kapitalismus nicht automatisch zu einer ständigen Verbesserung des Lebens führen würde.
Verbunden mit dem bis dahin gewachsenen Wohlstand gab es erheblichen technischen und für viele leistbaren Fortschritt. Fernseher, Waschmaschinen und die Verbreitung von Kommunikationsmitteln wie dem Telefon fanden sich in vielen Haushalten. Aber der Fortschritt stieß auf oft völlig verkrustete Strukturen. Die herangewachsene Nachkriegsgeneration, die mit eigenem (Taschen)Geld, mit dem ersten Moped usw. eine kleine, neue Freiheit kennenlernte und eine neue Jugendkultur unabhängig von den Erwachsenen hervorbrachte (zuerst die Beatles, dann die Rolling Stones...) hatte es in Familie, Ausbildung und Beruf oft mit absurd reaktionären Zuständen zu tun. Der Konservatismus passte so überhaupt nicht mehr zu ihrem Lebensstil und dem Bild vom modernen Kapitalismus.
Der Faschismus war besiegt, aber alte FaschistInnen beherrschten das Establishment. Der Krieg war gewonnen, aber alte Generäle wie De Gaulle oder Eisenhower regierten immer noch. Frauen drängten ins Berufsleben und erlangten langsam finanzielle Unabhängigkeit, aber um zu arbeiten brauchten sie die Erlaubnis ihres Vaters oder Ehemannes. Stalin war tot, aber die Sowjetunion und ihre Satelliten-Staaten liberalisierten sich kaum. Die Pille war verfügbar, aber Sex ein riesiges Tabu. Die Sklaverei war längst abgeschafft, aber AfroamerikanerInnen wurden im Süden der USA gelyncht...
Widersprüche wie diese blieben ungelöst und die Herrschenden machten keine Anstalten, das zu ändern. Und ausgehend von diesen, ständig erlebten Widersprüchen gingen Jugendliche und in manchen Ländern auch ArbeiterInnen weiter und stießen auf den Grundwiderspruch: Den zwischen Kapital und Arbeit, den zwischen ArbeiterInnenklasse und Bourgeoisie oder im Osten zwischen verkündetem Sozialismus und Realität.
Der Kalte Krieg trieb die Widersprüche auf die Spitze. Beide Seiten behaupteten, das nicht nur wirtschaftlich überlegene System zu sein, sondern auch das moralisch bessere. Dabei stand die Praxis in Ost und West im Widerspruch zur Propaganda: Die Tet-Offensive in Vietnam machte nicht nur die sich anbahnende Niederlage des US-Imperialismus deutlich, sondern lenkte die Aufmerksamkeit auf US-Kriegsverbrechen und die Lügen der Regierung über den Konflikt. Die harte Reaktion der Sowjetunion auf die zarten Demokratisierungen durch die Führung der CSSR, die später den Prager Frühling auslöste, machte Hoffnungen auf die Reformierbarkeit der stalinistischen Systeme kaputt. Die brutale Repression gegen Studierende in Frankreich, den USA oder Deutschland zeigte die engen Grenzen der westlichen „Demokratien“.
1968 brachte die Explosion dieser Entwicklungen mindestens der vorhergegangenen zehn Jahre. Schon lange gab es in den USA eine Bürgerrechtsbewegung, die kommunistischen Parteien Frankreichs und Italiens waren schon lange stark und die anti-kolonialen Befreiungsbewegungen hatten schon so manchen Aufstand gewagt. Aber die Gleichzeitigkeit dieser Prozesse in so vielen Ländern brachte 1968 eine völlig neue Dynamik.
Internationalismus war dabei vor Allem ein Gefühl, viel zu oft blieb er leider abstrakt: Wenn Studierende im Westen mit der Mao-Bibel winkten, hatten sie wohl kaum eine Vorstellung von den brutalen Auswirkungen der Kulturrevolution. Zwar kämpften die Linken gegen Unterdrückung, verhielten sich aber eher zurückhaltend, als sowjetische Panzer den Prager Frühling niederwalzten. In den USA prägten nordvietnamesische Fahnen die Friedensdemonstrationen, aber die Niederschlagung der Aufstände im Nachbarland Mexiko blieben fast unbeachtet. Am stärksten war die tatsächliche Solidarität innerhalb der Länder, die eine vergleichbare Lebenssituation aufwiesen. (Neo-) Koloniale Aufstände, Bewegungen gegen Stalinismus und westliche „Generationenkonflikte“ tauschten sich vor Allem untereinander aus.
Die Herrschenden weltweit waren in Todesangst um ihr System und versuchten, den Protesten mit einer Mischung aus Repression und Zugeständnissen Herr zu werden. In Deutschland z.B. haben sowohl Notstandsgesetze und Rasterfahndung als auch die Sozialreformen der Brandt-Ära ihren Ursprung 1968. In den USA wurden Hoffnungsträger wie Martin Luther King Jr. oder auch Robert Kennedy und zahlreiche DemonstrantInnen ermordet, aber auch der „Civil Rights Act“ verabschiedet und einige Rechte der Schwarzen mit Hilfe der Armee im Süden durchgesetzt. Und selbst in der Tschechoslowakei folgte auf die sowjetischen Panzer eine gewisse Liberalisierung. Dass sie mit ihren repressiven Maßnahmen überhaupt durchkamen, liegt in den Fehlern der Linken, wie z.B. der RAF oder der Brigate Rosse, die die Abkürzung des individuellen Terrors gingen und glaubten, stellvertretend für die ArbeiterInnenklasse den Kampf führen zu können.
Die organisierte Linke war in den meisten Ländern zu schwach oder zu eng mit dem Stalinismus verbandelt, um die Bewegungen mit effektivem Programm und Methoden zu rüsten. Es fehlte eine internationale Organisation, die die Kämpfe wirklich miteinander hätte verbinden können. Der Kapitalismus überlebte, weil die ArbeiterInnenbewegung keine starke Führung hatte. Doch ein Teil der revolutionären Studierenden zog auch die Schlüsse und versuchte in den kommenden Jahrzehnten den Kampf um die ArbeiterInnenschaft gegen die Führung von Sozialdemokratie und Stalinismus zu führen.
1968 endete nicht mit dem 31.12.. Die angestoßenen Kämpfe hielten an. Wer die Erfahrung des massenhaften, oft revolutionären Widerstands gemacht hatte war nicht mehr bereit, sich mit alten Autoritäten abzufinden, auch wenn die großen Proteste irgendwann abflauten und es immer mehr um „individuelle Befreiung“ ging, wie es die Hippie-Bewegung versuchte. Viele gesellschaftliche Veränderungen, wie die sexuelle Befreiung oder Bildungsreformen setzten sich in den 1970er Jahren durch und halten bis heute an. Was heute aber auch noch bleibt, ist der Mythos '68, die Idee von Rebellion und zivilem Ungehorsam. '68 ist für viele gleichbedeutend mit sozialem und gesellschaftlichem Fortschritt.