Fr 07.03.2008
Berlin, am 5. März 2008: trotz Schneetreibens sind deutlich mehr Fahrradfahrer unterwegs als sonst. Diese schlängeln sich durch verstopfte Straßen, an deren Rändern PassantInnen mit ausgestrecktem Daumen stehen, in der Hoffnung mitgenommen zu werden. Das sind Folgen des ersten Streiktags der Beschäftigten der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG). Diese kämpfen für deutliche Lohnerhöhungen, nachdem sie in den letzten Jahren zum Verzicht gezwungen wurden. Hier stehen fast alle Räder still, denn nur die S-Bahnen, die zur Deutschen Bahn AG gehören, fahren. Doch damit wird ab Montag auch Schluss sein, wenn die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) ihre Ankündigung umsetzt, in den bundesweiten Vollstreik zu treten.
Am Streikposten der BVG-KollegInnen in Berlin-Neukölln fährt ein hupender Müllwagen vorbei, der Fahrer streckt den hochgereckten Arm mit geballter Faust aus dem Fenster – ein Zeichen der Solidarität. Gestern war dieser Müllwerker selber im Ausstand – als Teil der bundesweiten Warnstreiks der Beschäftigten im öffentlichen Dienst für ihre Forderungen nach acht Prozent, aber mindestens 200 Euro Lohnerhöhung.
Montag und Dienstag haben bisher im ganzen Bundesgebiet über 50.000 Beschäftigte in Krankenhäusern, Kindertagesstätten, Verwaltungen, Sparkassen, des öffentlichen Personennahverkehrs und der Stadtreinigungen die Arbeit niedergelegt.
Mittwoch ging es weiter, unter anderem mit Streiks an Flughäfen. Die Lufthansa strich 300 innerdeutsche Flüge. In Hamburg reichte der Ausstand von zwanzig Feuerwehrmännern, um den gesamten Flughafen für drei Stunden lahm zu legen. Donnerstag, 6. März wird vorerst der letzte Warnstreiktag gewesen sein.
Wut und Widerstand
Diese dritte Warnstreik-Woche im öffentlichen Dienst hat einmal mehr die bestehende große Kampfbereitschaft unter den Kolleginnen und Kollegen demonstriert. Den meisten steht die Wut bis Unterkante Oberlippe. Jahrelanger Reallohnverlust, Arbeitszeitverlängerung und Arbeitsverdichtung macht das (Arbeits-)Leben mehr und mehr zu einer Qual. Der 2005 eingeführte neue Tarifvertrag im öffentlichen Dienst (TvöD) hat zusätzliche Einkommensverluste bedeutet und die Wut in den Belegschaften gesteigert – auf die Arbeitgeber, aber vielfach auch auf die ver.di-Führung, die diesem Tarifwerk ohne Not zugestimmt und es auch noch verteidigt hat. Diese Wut beginnt sich in den Arbeitsniederlegungen in Widerstand zu verwandeln. Das Potenzial für eine große bundesweite Streikbewegung ist da – und das nicht nur im öffentlichen Dienst, denn auch im Einzelhandel und KFZ-Gewerbe befinden sich die Beschäftigten in Tarifauseinandersetzungen und der Bahn-Vorstand treibt die GDL scheinbar in eine Wiederaufnahme von Streiks.
Französische Verhältnisse?
Das sind zwar noch keine französischen Verhältnisse, wo gemeinsame Massenstreikbewegungen verschiedener Belegschaften eine lebendige Tradition haben, aber es ist doch eine neue Situation für Deutschland. Denn immer mehr Arbeiterinnen und Arbeiter sehen den Streik als einziges Mittel ihre berechtigten Forderungen nach mehr Lohn durchzusetzen bzw. die Angriffe der Arbeitgeber abzuwehren. Auch die Gewerkschaftsführungen müssen dem Unmut und Druck aus ihren Belegschaften mehr nachgeben, als dies oftmals in der Vergangenheit der Fall war. Und das obwohl es weiterhin kaum organisierte kämpferische Basis-Zusammenschlüsse gibt, die die Gewerkschaftsspitzen gezielt unter Druck setzen oder selbständige Aktionen durchführen könnten.
Dass aber das Potenzial für solche Zusammenschlüsse wächst zeigen u.a. die Entstehung einer Betriebszeitungen aktiver und kritischer GDL-Mitglieder in Berlin und die Tatsache, dass – nach der Gründung einer kritischen und kämpferischen Betriebszeitung vor einigen Monaten – im Daimler-Werk Berlin-Marienfelde bei den IG Metall-Delegiertenwahlen vier von sieben gewählten Delegierten für einen kämpferischen und der angepassten Betriebsratsführung gegenüber kritischen Kurs stehen. Das beste Ergebnis erzielte der kämpferische und linke Betriebsrat Mustaf Efe, der sich unter anderem im Kampf gegen das zu Lohnverlusten führende Entgeltrahmenabkommen (ERA) profiliert hatte. Dies sind erste Ansätze, bei denen die wachsende Unzufriedenheit von Basis-GewerkschafterInnen mit ihrer Führung zum Ausdruck kommen.
Die Streiks bringen machen auch klar, dass die Trennlinie in der kapitalistischen Gesellschaft zwischen Kapital und Arbeit verläuft. Schon der GDL-Streik vermittelte vielen ArbeiterInnen, nicht nur den LokführerInnen, dass eine einige und kämpfende Belegschaft erfolgreich kämpfen kann. Nun wird durch die Streiks in verschiedenen Bereichen der Klassencharakter der Gesellschaft deutlich und vor allem erscheint die Arbeiterklasse mehr und mehr als sichtbare Kraft im Land. Sie drückt den gesellschaftlichen Ereignissen den Stempel auf. Das ist umso bedeutsamer, da die Streiks vor dem Hintergrund einer allgemeinen Linksverschiebung in der arbeitenden Bevölkerung stattfinden und Forderungen nach Mindestlohn, einem Ende von Privatisierungen, Ablehnung der Rente ab 67, Studiengebühren etc. in einer Meinungsumfrage nach der anderen eine Mehrheit finden. Die Streiks weisen darauf hin, dass die Arbeiterklasse, weil sie das Mittel der kollektiven Arbeitsverweigerung einsetzen kann, die einzige Kraft in der Gesellschaft ist, die solche Forderungen durch entschlossene Aktionen durchsetzen kann. Die aktuellen Streiks werden einen Beitrag dazu leisten, dass diese Schlussfolgerung von mehr und mehr ArbeiterInnen und Jugendlichen gezogen werden kann.
Dass eine solche Streikbewegung vor dem Einsetzen der nahenden Wirtschaftskrise stattfindet ist von großer Bedeutung. Die Reallohnverluste in Aufschwungzeiten haben in den Belegschaften die Forderung nach höheren Löhnen angeheizt. Wenn nun durch Streiks Selbstbewusstsein gesteigert und Kampferfahrungen gesammelt werden, wird dies in den vor uns liegenden Kämpfen gegen krisenbedingte Arbeitsplatzvernichtung und andere Angriffe ein großer Vorteil sein.
Was tut DIE LINKE?
Per Pressemitteilung hat sich der gewerkschaftspolitische Sprecher der Bundestagsfraktion der Partei DIE LINKE, Werner Dreibus, mit den Streikenden im öffentlichen Dienst solidarisiert. Die in Berlin streikenden ArbeiterInnen machen mit der Partei vor Ort eine andere Erfahrung, denn sie agiert als Teil der Arbeitgeberseite als Lohndrücker. Doch nicht nur dieser Mangel an Glaubwürdigkeit ist ein Problem, das Streikende davon abhält die Partei zu unterstützen oder sich sogar aktiv in sie einzubringen. Pressemitteilungen und verbale Solidarität reichen nicht aus, um das Vertrauen von KollegInnen zu gewinnen. Nötig wäre eine massenhafte Kampagne der LINKEN zur Unterstützung der streikenden Belegschaften und für die an die Gewerkschaftsführungen gerichtete Forderung nach einer allgemeinen Streik- und Protestbewegung für einen angemessenen Mindestlohn und für Lohnerhöhungen auf breiter Front. Beides sind angesichts von Hungerlöhnen in vielen Bereichen, Reallohnverlust fast überall und den steigenden Lebenshaltungskosten Forderungen für die Millionen mobilisierbar sind. Warum bringt nicht jeder Stadtrat der LINKEN einen Antrag ins Kommunalparlament ein, die ver.di-Forderungen zu akzeptieren und vor Ort einseitig umzusetzen, wie die SAV-Bürgerschaftsabgeordnete Christine Lehnert in Rostock getan hat? Warum klebt DIE LINKE nicht zehntausende Plakate im ganzen Land auf denen sie die Forderungen der streikenden Belegschaften unterstützt, warum gibt es nicht überall Flugblattverteilaktionen, Info-Stände und Solidaritätsveranstaltungen?
Wie weiter in den Tarifauseinandersetzungen?
Dieselbe Frage könnte man aber auch an die Gewerkschaftsführungen richten, die das riesige Potenzial für ein Zusammenführen verschiedener sich in Tarifauseinandersetzungen befindlicher Bereiche nicht nutzt. Statt verzettelter Streiks, bei denen an verschiedenen Tagen die unterschiedlichen Bereiche raus geholt werden und dadurch die Streikenden ihre tatsächliche Kraft gar nicht spüren können, wäre die Durchführung eines bundesweiten Streiktags im gesamten öffentlichen Dienst und allen anderen von Tarifauseinandersetzung betroffenen Bereichen der nächste notwendige Schritt auf dem Weg zu einer massenhaften und mächtigen Streikbewegung im ganzen Land. Dass so etwas möglich ist und auf große Resonanz stoßen würde, hat der Stuttgarter ver.di-Bezirk am 15. Februar gezeigt als 15.000 Beschäftigte des öffentlichen Dienstes, aber auch aus dem Einzelhandel und anderen Bereichen an einer Streikdemonstration teilnahmen.
Ein solcher bundesweiter Streiktag würde den Beschäftigten ihre Macht vor Augen führen, wenn er mit Massendemonstrationen, zum Beispiel in allen Landeshauptstädten, verbunden wäre. Hunderttausende würden Deutschland lahm legen und zeigen, dass ohne die Lohnabhängigen hier gar nichts läuft. Der Druck auf die Arbeitgeber würde durch einen solchen Tag um ein Vielfaches gesteigert.
Gleichzeitig ist es ein Unding, dass ver.di das bestehende Schlichtungsabkommen mit den Arbeitgebern nicht gekündigt hat. Dies gibt diesen in den nächsten Tagen und Wochen die Möglichkeit durch ein Anrufen eines Schlichtungsverfahren zehn Tage Friedenspflicht zu erwirken und so zu versuchen, etwas Dampf aus dem Kessel zu nehmen. Das mag der ver.di-Führung ganz recht sein, denn sie fürchtet eine Dynamik von unten, weil eine aktive und selbstbewusste Basis die Privilegien und bürokratische Dominanz der Führung in Frage stellen könnte. Deshalb muss in ver.di die Forderung nach sofortiger Einleitung der Urabstimmung und Vorbereitung eines Vollstreiks nach Ablauf der zu erwartenden Friedenspflicht erhoben werden, statt der derzeitigen Planungen, erst im April die Urabstimmung einzuleiten und ab Mitte April streikfähig zu sein.
Wofür kämpfen?
Denn nur durch die Mobilisierung der maximalen Kampfkraft der Beschäftigten werden die Forderungen schnell und vollständig durchzusetzen sein. Die Arbeitgeber werden versuchen der ver.di-Führung eine Verlängerung der Arbeitszeit gegen einen halben oder ganzen Prozentpunkt Lohnerhöhung abzuringen. Auf solche oder andere Kompensationsgeschäfte darf sich die ver.di-Führung nicht einlassen. Einer Forderung nach Verlängerung der Arbeitszeit muss offensiv mit einer Gegenforderung nach Arbeitszeitverkürzung begegnet werden -38,5 Stunden für alle Beschäftigten des öffentlichen Dienstes wäre eine solche Antwort. Dies müsste von ver.di auch dazu genutzt werden in der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung um die Frage der Arbeitszeit wieder in die Offensive zu kommen und in kommenden Tarifrunden die 35-Stunden-Woche als ersten Schritt zu weiterer radikaler Arbeitszeitverkürzung durchzusetzen. Ebenso sollte ver.di durch Vollstreik versuchen weitere Forderungen, die den KollegInnen auf den Nägeln brennen, durchzusetzen, wie die Ablehnung des Leistungslohns und stattdessen die gleichmäßige Ausschüttung des dafür vorgesehenen Betrags auf alle und die unbefristete Fortführung der bisherigen Eingruppierungs-Übergangsregelungen, bis eine bessere Regelung gefunden wird, die keine Verschlechterungen beinhaltet. Nicht zu vergessen ist natürlich die Forderung nach 120 Euro Erhöhung der Azubivergütung und die verbindliche und unbefristete Übernahme aller Auszubildenden, sowie die Begrenzung der Laufzeit des Tarifvertrages auf ein Jahr. Diese Forderungen sind durchsetzbar, wenn ver.di Kompensationsgeschäften eine Absage erteilt und die volle Kampfkraft der Belegschaften im öffentlichen Dienst in die Waagschale wirft.
Schulterschluss mit GDL und anderen nötig
Gleichzeitig ist es nötig, dass ver.di und GDL einen Schulterschluss hinkriegen. Der Kampf für höhere Löhne in verschiedenen Unternehmen und Bereichen des öffentlichen Dienstes muss ein gemeinsamer sein, denn er richtet sich gegen eine gemeinsame Front von Politikern und Kapitalisten, die die öffentlichen Haushalte auf dem Rücken der Beschäftigten sanieren wollen bzw. die Lohnabhängigen für Steuererleichterungen für die Konzerne zahlen lassen wollen.
Wenn die GDL aufgrund der Blockadehaltung des Bahn-Managements wieder in den Streik ziehen muss, sollte sie erstens erklären, dass sie alle anderen für Lohnerhöhungen kämpfenden Belegschaften unterstützt und zweitens ver.di gemeinsame Aktionen und Demonstrationen vorschlagen. Das würde auch den LokführerInnen noch mehr Sympathien und Durchschlagkraft geben. Außerdem sollte die GDL zu ihren ursprünglichen Forderungen nach einem Grundlohn von 2.500 Euro brutto und einem entsprechenden Tarifvertrag für das gesamte Fahrpersonal zurück kehren, wenn Mehdorn und Co. bis Sonntag nicht bereit sind, die vorliegende Einigung zu unterschreiben. Wenn Mehdorn meint, er kann die GDL an der Nase herum führen, muss ihm deutlich gemacht werden, dass solche Spielchen für die Bahn noch teurer werden!