Mo 13.04.2020
Die „Spanische Grippe“ von 1918-1919 tötete zwischen 50-100 Millionen Menschen, mehr als die Zahl der Todesopfer im Ersten und Zweiten Weltkrieg zusammen. Laut der Expertin Laura Spinney hat die „Spanische Grippe“ „die menschliche Bevölkerung radikaler als alles andere seit dem Schwarzen Tod umgestaltet“.
Die Plage des Krieges
Die Grippeepidemie begann im Frühjahr 1918 und breitete sich aufgrund der Truppenbewegungen des Ersten Weltkriegs schnell in ganz Europa aus. Bis zur Hälfte der britischen und drei Viertel der französischen Soldaten infizierten sich, als die Epidemie unter den unterernährten Soldaten, die in verrotteten Schützengräben und Armeelagern zusammengepfercht waren, wütete.
Als das Virus mutierte, entwickelten sich schockierende neue Symptome, darunter bei Menschen, die durch Sauerstoffmangel und vermehrte Blutungen blau anliefen. Die Sterblichkeitsrate schnellte in die Höhe, insbesondere unter jungen Erwachsenen in der Blüte ihres Lebens, wie bei Soldaten. Man geht inzwischen davon aus, dass dies durch eine Überstimulation des Immunsystems, einen Zytokinsturm sowie durch Sekundärinfektionen wie Lungenentzündungen verursacht wurde. Doch die damaligen Ärzte waren davon überrascht. Während der Ursprung des Virus noch immer umstritten ist, gilt als sicher, dass die Pandemie ohne die Truppenbewegungen, die Umleitung von Ressourcen und die Gesundheitsschäden für Soldaten und Zivilisten infolge des Ersten Weltkriegs nicht aufgetreten wäre.
„Ruhe bewahren und weitermachen“
Während sich die verheerendste Pandemie der Geschichte entfaltete, waren die Propagandamaschinen der imperialistischen Länder vor allem damit beschäftigt, die Krise zu leugnen und herunterzuspielen, um die Moral und die patriotische Kriegsbegeisterung aufrechtzuerhalten und „dem Feind“ nicht zu helfen. Nur die Presse im neutralen Spanien berichtete über den Ausbruch der Epidemie und gab der Grippe ihren Namen.
Tatsächlich wurde die Unterdrückung der Wahrheit über das Ausmaß der gegenwärtigen Pandemie auch in den letzten Wochen versucht, insbesondere von Trump in den USA und von den Tories in Großbritannien, auch wenn dies aufgrund der Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten der modernen Zeit viel weniger erfolgreich war.
1918 genehmigten Gesundheitsbeamte in Philadelphia eine Freiheitsparade, an der 200.000 Menschen teilnahmen und die eine Woche später 759 Todesopfer forderte. Als Massengräber ausgehoben, Schulen geschlossen und öffentliche Versammlungen verboten wurden, verkündete eine Zeitung: „Dies ist keine Maßnahme des öffentlichen Gesundheitswesens. Es besteht kein Grund zur Beunruhigung“. US-Präsident Woodrow Wilson hat nie eine öffentliche Erklärung über die Epidemie abgegeben.
Arthur Newsholme, Großbritanniens leitender medizinischer Offizier, entschied, dass „die unerbittlichen Bedürfnisse der Kriegsführung das Eingehen [des] Risikos der Verbreitung einer Infektion rechtfertigen“, und forderte die Menschen auf, in Ruhe „weiterzumachen“. Diese Slogan wurde später durch die Propaganda des Zweiten Weltkriegs populär. Für die kapitalistischen Regierungen auf beiden Seiten war der Sieg im imperialistischen Krieg das Wichtigste, ungeachtet der menschlichen Kosten. Ein Umsteuern der Ressourcen zur Versorgung der Gesundheit der Bevölkerung kam für sie nicht in Frage.
Die Auswirkungen der Pandemie
Erst als die Soldaten eher an der Grippe als bei der Kriegshandlungen starben, nahmen die Regierungen sie zur Kenntnis. Erste Kontaktbeschränkungen wurden notwendig. Es gab nicht mehr genug gesunde Lehrer und Arbeiter, um Schulen und Fabriken in Gang zu halten. Die Arbeiterklasse misstraute der staatlichen Propaganda. Mangels Informationen hielten die Menschen intuitiv Distanz zueinander, um sich nicht mit der Krankheit anzustecken.
Der Krieg stürzte die Arbeiterklasse an der Front und zuhause in schreckliche Not und Tragödien; aber die russische Revolution vom Oktober 1917 inspirierte die Arbeiter in der ganzen Welt zum Kampf für eine bessere Zukunft. Damals kam es weltweit zu Aufständen, am bekanntesten ist die deutsche Revolution von 1918 bis1919. Irland, wo 15.000 Menschen an der Grippe starben, erlebte 1918 den Generalstreik gegen die Wehrpflicht, 1919 den Streik der Belfaster Ingenieure und 1919 den Limerick-Sowjetstreik.
Sowohl der Krieg als auch die unzureichenden Reaktionen auf die Pandemie haben die Regierungen und das gesamte System als gegen die Interessen der Arbeiterklasse gerichtet entlarvt. Die Ausbeutung von Mensch und Land zum Beispiel in Indien und das Versagen der britischen Kolonisten, überhaupt ein Gesundheitssystem bereitzustellen, führten zu 17 Millionen Toten (5% der indischen Bevölkerung), was den antikolonialen Kampf weiter anheizte.
Öffentliche Gesundheit
Die weltweiten Verheerungen durch die Spanische Grippe hatten einen tiefgreifenden Einfluss auf das Bewusstsein der arbeitenden Menschen überall in der Welt. Die Epidemie zeigte, dass die Gesundheit der Gesellschaft ein kollektives Problem ist, nicht ein individuelles. Sie stellte die vorherrschende Ideologie in Frage, dass „der ungewaschene Pöbel“ (wie die Arbeiterklasse und die Armen von der herrschenden Klasse abwertend bezeichnet wurden), nur sich selbst die Schuld für ihre Krankheit zu geben hätten, da das schiere Ausmaß der Krise auch die Wohlhabenden und die Offizierskaste betraf.
In den folgenden Jahren begann die Idee einer sozialisierten Medizin, die für alle zugänglich war, enorm an Boden zu gewinnen. Sowjetrussland war das erste Land, das eine zentralisierte öffentliche Gesundheitsversorgung entwickelte, gefolgt von anderen in Europa. Ein umfassendes Gesundheitssystem, das National Health System (NHS) wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in Großbritannien nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt. 1924 entwickelte die sowjetische Regierung – wiederum weit vor den kapitalistischen Ländern – die Vorstellung, dass die Lebens-, Arbeits- und Sozialbedingungen als die wichtigsten Triebkräfte der Gesundheit betrachten seien.
Die allgemeine Gesundheitsversorgung war ein gewaltiger Fortschritt für Arbeitnehmer und einfache Menschen, die keine selbständigen Ärzte bezahlen konnten, auf religiöse Orden angewiesen blieben oder auf die Versorgung ganz verzichten mussten. Doch wo diese Errungenschaften erreicht werden konnten, wurden sie in den letzten Jahrzehnten durch neoliberale Kürzungen und Privatisierungen weitgehend untergraben. Mit der Folge, dass wir auf die aktuelle Pandemie überhaupt nicht vorbereitet sind.
Alle medizinischen Fortschritte der letzten hundert Jahre konnten die chronische Unterfinanzierung und Unterbesetzung des öffentlichen Gesundheitssystems nicht beenden. Die kapitalistische Ideologie und die wichtigsten kapitalistischen Parteien in jedem Land sind grundsätzlich gegen die Idee einer kostenlosen Gesundheitsversorgung für alle, und sie werden diese auch niemals bereitstellen. Nur ein wirklich sozialisiertes Gesundheitssystem, das sich in öffentlicher Hand befindet und demokratisch von medizinischen Mitarbeitern und Patienten geplant und kontrolliert wird, kann künftig eine Gesundheitsversorgung zur Verfügung stellen, mit der solche Krise zu überstehen sind.
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