Mi 29.10.2014
Der bürgerliche Parlamentarismus des Westens wird von weiten Teilen der Bevölkerung mittlerweile als „Demokratur“ wahrgenommen – als eine versteckte Diktatur in einem demokratischen Mäntelchen. Das äußert sich einerseits in der viel zitierten angeblichen „Politikverdrossenheit der Menschen“, andererseits in der Suche nach demokratischen Alternativen: So erleben wir seit geraumer Zeit das Entstehen einer sogenannten „Zivilgesellschaft“, die sich über NGOs bzw. Bewegungen wie „Occupy“ und über Bürgerinitiativen und Protestplattformen wie „Stuttgart21“ in das politische Geschehen einbringt. Dazu kommen Massenproteste, wie wir sie z.B. in Spanien (Democracia Real Ya), Griechenland (Besetzung des Syntagma-Platzes) oder zuletzt in Bosnien-Herzegowina gesehen haben. Sie alle gaben sich dabei vor Ort basisdemokratische Strukturen (Asambleas, Plena etc.), die eine Alternative zum repräsentativen Modell des bürgerlichen Parlamentarismus darstellen sollten.
Solange allerdings ein wenigstens umrissartiges Programm mit konkreten Forderungen fehlt, und solange derartige Bewegungen im Rahmen des Kapitalismus verharren, bleiben sie letztlich ungewollt Stützen dieses undemokratischen Systems. Und sie können darüber hinaus demokratiepolitisch gefährlich werden, als sie Reaktionären Raum bieten: So fassten mit Ende Frühling die in Deutschland traditionellen „Montagsdemos“, die diffus für „Frieden und Demokratie“ stehen, auch in Wien Fuß. Es dauerte nicht lange, bis diese von „VerschwörungstheoretikerInnen – schlimmstenfalls Nazis“ unterwandert waren (siehe „Aluhut statt Marxismus?“, VORWÄRTS Nr. 229). Diese Gefahr laufen auch Gruppierungen, die, wie die Piratenpartei, auf das Instrument der „liquid democracy“ setzen. „Für alles offen“ zu sein und alle ungeachtet ihres politischen Hintergrunds am „Entscheidungsfindungsprozess“ (welch schönes Wort!) teilhaben zu lassen, öffnet eben auch dezidiert undemokratischen Kräften ein Eingangstor.
Auch der Ruf nach mehr „direkter Demokratie mittels Volksabstimmungen und -befragungen“ ist ein zweischneidiges Schwert. Das hat nichts damit zu tun, dass „das Volk“ schlichtweg zu dumm sei, um Entscheidungen zu treffen; sondern damit, dass der Erfolg oder Misserfolg einer solchen Kampagne zumeist nachweislich von den dafür eingesetzten finanziellen und propagandistischen Mitteln abhängt – somit haben Randgruppen oder Minderheiten von vornherein ein schlechteres Blatt (Das erklärt auch, warum sich vor allem die FPÖ vehement für mehr Volksabstimmungen ausspricht). Denn was gefragt oder abgestimmt wird, wie die Frage gestellt wird, wer teilnehmen darf, wer initiieren kann, entscheiden die Herrschenden. Gerade hat die EU-Kommission beschlossen, eine EU-Bürgerinitiative gegen das EU/USA-Freihandelsabkommen TTIP nicht zuzulassen. Es ist also eine Illusion, mit mehr „direkter“ Demokratie echte Demokratie erreichen zu können. Echte und somit direkte Demokratie kann sich nur „von unten“ selbst ermächtigen.
Mit jedem Versuch, den Kapitalismus zu stürzen, hat gerade die ArbeiterInnenklasse nicht nur mit der Pariser Commune (1871) oder in Teilen des republikanischen Spanien (1936-39) gezeigt, wie sehr sie sich demokratisch selbst organisieren kann. Auch die Russische Revolution 1917 und die revolutionären Bewegungen in Österreich und Deutschland nach 1918 waren Ausdruck dieser Selbstorganisierung. Dabei wurde stets auf Strukturen gesetzt, die sich als „Rätesystem“ zusammenfassen lassen – wobei diese Räte eben keine spontanen Versammlungen waren, in denen alle, die gerade Lust oder Zeit dazu hatten, das Wort an sich reißen konnten, sondern Delegiertenversammlungen. Diese Delegierten wurden direkt in ihrem jeweiligen Umfeld (in den Betrieben, an den Schulen, an den Wohnorten etc.) gewählt, waren dort rechenschaftspflichtig, jederzeit abwählbar, und erhielten nicht mehr Lohn als ein durchschnittlicher Arbeiter. Und auch wenn es zur aktuellen – verständlichen – „Parteienverdrossenheit“ nicht passen mag, waren diese Delegierten zumeist in Parteien organisiert oder hatten einen parteilichen Hintergrund. Doch gerade dadurch, dass die ArbeiterInnen gegen das Kapital „parteiisch“ waren und deshalb als eine Klasse agierten, konnten sie – wenigstens in Ansätzen und vorübergehend – auch auf ökonomischer Ebene selbstverwaltet und demokratisch ihr eigenes Leben in ihre eigenen Hände nehmen.
Dass diese Experimente von den Herrschenden letztlich niedergeschlagen wurden, zeigt nicht, dass sie nicht lebensfähig gewesen wären und auch heute noch sein können, sondern nur, dass der Kapitalismus unvereinbar ist mit von unten gelebter, echter Demokratie. Die kann es nur im Sozialismus geben.