Mi 13.07.2016
Es ist lange her, dass ein Ereignis unter Linken eine solch kontroverse und teils emotional geführte Debatte ausgelöst hat, wie das mehrheitliche Votum der Bevölkerung Großbritanniens für den Austritt aus der EU.
Linken BefürworterInnen wurde von linken GegnerInnen des Brexit vorgeworfen, gemeinsame Sache mit Rechtspopulisten zu machen, dem Rassismus Vorschub zu leisten oder auch einfach einem „Wahn“ (Angela Klein in der SoZ) verfallen zu sein.
Von Sascha Stanicic
Keine Frage: Eine Volksabstimmung mit einer einfachen Fragestellung nach der Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union war für die Linke kein günstiges Schlachtfeld. Denn beide zur Wahl stehenden Optionen beinhalteten keine Lösung der sozialen Probleme der Arbeiterklasse, beantworten nicht, in welcher Verfasstheit und in welchem Interesse das Land funktionieren soll. Ein Votum für den Brexit war sicher keine Lösung für irgendetwas. Aber: Das hat die sozialistische Kampagne für den Brexit, die von der Trade Unionist and Socialist Coalition (TUSC) und der Socialist Party (SP – Schwesterorganisation der SAV) geführt wurde, auch nicht behauptet. Ihre Argumentation war eine andere.
Erstens haben sie darauf hingewiesen, dass die Haltung zur Europäische Union zur Abstimmung stand. Der politische Inhalt des Votums ließ sich also auf die Frage Unterstützung oder Ablehnung der EU reduzieren. Hier scheiden sich auch unter Linken die Geister. Teile der Linkspartei argumentieren zum Beispiel, die EU sei als Friedensprojekt gegründet worden, sie repräsentiere im Grundsatz eine fortschrittliche und internationalistische Zielsetzung und sei nur von den falschen, weil neoliberalen, Kräften gekapert worden. Diese Kräfte sehen in einem Auseinanderbrechen der EU folgerichtig etwas Bedrohliches und machen Vorschläge, die – so ihre Hoffnung – ein solches Auseinanderbrechen verhindern können. Es ist logisch, dass man auf Basis einer solchen Einschätzung der EU gegen einen Brexit ist.
Diese Haltung wurde dadurch gestärkt, dass die offiziellen Remain- und Brexit-Kampagnen von unterschiedlichen Teilen der britischen Konservativen (bzw. UKIP) geführt wurden. Das war beim letzten Referendum zur Frage der EU-Mitgliedschaft im Jahr 1975 anders. Damals hatten die Gewerkschaften und die Labour-Linke (einschließlich Jeremy Corbyn) die Anti-EU-Kampagne angeführt.
Auch heute teilen große Teile der sozialistischen Linken diese Haltung nicht. Wie zum Beispiel der Lexit-Aufruf zurecht sagt, ist die EU „kein neutrales Spielfeld“. Sie ist kein Gefäß, das mit unterschiedlichem Inhalt gefüllt werden kann. Sie ist ein Vertragswerk kapitalistischer Staaten und bringt die Interessen der herrschenden Klassen dieser Staaten zum Ausdruck. Sie ist ein Club der Bosse und Bänker (und ihrer politischen VertreterInnen) – und das war sie schon immer. Die EU ist militaristisch, undemokratisch und neoliberal. Die entscheidenden Institutionen, wie EU-Kommission und Ministerrat, sind nicht gewählt und das Europäische Parlament ist ein zahnloser Tiger. Sie wurde nicht zur Friedenssicherung, sondern zur Durchsetzung kapitalistischer Interessen gegründet (siehe hier). Sie repräsentiert auch nicht Europa, sondern nur einen Teil der europäischen Staaten. Sie ist ein Gangsterbündnis, vergleichbar einem Mafia-Kartell. Seit wann dient der Verbrechensbekämpfung die Reform der Verbrecher-Banden?
Aus dieser Einschätzung ergibt sich, dass man bei der Fragestellung „für oder gegen die EU“ deutlich sagen sollte: dagegen! Die Antwort die sozialistische Brexit-BefürworterInnen angesichts der eingeschränkten Fragestellung gegeben haben, war also wesentlich eine negative: gegen die EU! Nicht: für ein kapitalistisches Großbritannien außerhalb der EU.
Brexit = Schwächung von Tories und EU
Zweitens haben linke Brexit-BefürworterInnen argumentiert, dass eine Mehrheit für den Austritt aus der EU eine Schwächung der britischen Austeritätsregierung unter David Cameron und der auf Austeritätspolitik festgelegten EU bedeuten würde. Eine solche Schwächung sei zu begrüßen, auch wenn sie nicht automatisch zu einer Verbesserung der Lebenssituation der Arbeiterklasse und der sozial Benachteiligten führe. Sie verbessere aber die Voraussetzungen durch Kämpfe von unten Verbesserungen durchzusetzen – wenn diese Kämpfe denn auf den Weg gebracht werden.
Dem halten linke Brexit-GegnerInnen entgegen, durch den Sieg des Brexits seien die nationalistische Rechte und der Rassismus gestärkt worden. Angela Klein schreibt in der SoZ, die „extreme Rechte schlägt Kapital aus einer tiefen Gesellschaftskrise, nicht die Linke“ und behauptet: „Der Erfolg des Brexit ist nicht nur ein Hinweis auf eine politisch fehlgeleitete Reaktion auf den globalisierten Kapitalismus, er ist auch eine massive Bedrohung für die demokratischen und Menschenrechte, für die Gewerkschaftsrechte und für alle linken Ansätze, die auf eine Entmachtung der großen Kapitalbesitzer hinauslaufen. Er verschiebt das gesellschaftliche und politische Kräfteverhältnisse in Großbritannien – und wer weiß, auch in anderen EU-Länder? – massiv nach rechts.“
Oberflächlich betrachtet scheint diese Einschätzung schlüssig, schließlich wurde die Brexit-Kampagne von bürgerlichen, rechten Nationalisten – dem rechtspopulistischen Tory-Abgeordneten Boris Johnson und dem UKIP-Vorsitzenden Nigel Farage – dominiert. Und seit dem Referendum nehmen die Berichte über rassistische Übergriffe gegen MigrantInnen auf der Insel zu.
Der taz-Journalist Pascal Beucker hat den ersten Artikel von Lucy Redler und mir zum Brexit auf facebook so kommentiert: „De facto macht Ihr Euch damit zu Blödmannsgehilfen von Le Pen, Wilders, Strache, Gauland, Farage, Trump, Putin & Co.“ Auf meine Frage, ob er denn für TTIP sei, nur weil Donald Trump und die AfD gegen TTIP seien, erhielt ich keine Antwort. Und in dieser Logik hätte man ja auch nicht für einen Verbleib in der EU sein dürfen, weil man sich dann zum Erfüllungsgehilfen von Cameron, der EU und dem Finanzkapital gemacht hätte. Aber sind Cameron und die EU nicht das kleiner Übel im Vergleich zu Johnson und Farage? Mussteman nicht gegen den Brexit sein, um die nationalistische Rechte zu stoppen?
Wenn man Charakter und Wirkung der EU betrachtet sollte man als Sozialist oder Sozialistin zu einem entgegengesetzten Schluss kommen. Man musste als Linke für den Brexit sein, um den Nationalisten und Rassisten nicht das Feld zu überlassen. Die Stimmung für den Brexit bzw. gegen die EU hat tiefe Ursachen im kapitalistischen Charakter der EU und in der sozialen Lage der britischen Arbeiterklasse: der jahrelangen Austeritätspolitik, des Sozialabbaus, der Lohnkürzungen.
Auch wenn manche Linke den Klassencharakter des Brexit-Votums in Frage stellen, so müssen selbst bürgerliche KommentatorInnen auf diesen hinweisen. So schrieb der Guardian: „Der Brexit geht um die Frage des Klassenzugehörigkeit, der Unabhängigkeit und das Gefühl des Ausgegrenztseins bei den Wählerinnen und Wählern.“ Und die Financial Times nannte die Abstimmung die „am meisten klassenbasierte Abstimmung der letzten Jahrzehnte“.
Es stimmt, dass auch Teile der Arbeiterklasse gegen den Brexit gestimmt haben, vor allem unter Jugendlichen und MigrantInnen (wobei gerade unter Jugendlichen vor allem die Wahlbeteiligung mit 36 Prozent extrem niedrig war). Das ist ein Hinweis darauf, dass der völlig kapitalistische Charakter der EU hinter der Fassade der „europäischen Werte“ und des „Internationalismus“ versteckt wurde. Viele haben aus Sorge vor dem Erstarken der Rechtspopulisten und des Rassismus für einen Verbleib in der EU gestimmt. All das zeigt, dass bei der Abstimmung keine explizit soziale, den Interessen der Arbeiterklasse entsprechende Option zur Wahl stand. Aber es kann kein Zweifel daran bestehen, dass der Brexit von vielen als Chance betrachtet wurde, der Tory-Regierung eine Niederlage beizufügen. Diese Stimmung ergab sich aus der klassenpolitischen Realität, aus den Erfahrungen der unteren Schichten der Arbeiterklasse. Sie konnten nicht durch Argumente über die Fortschrittlichkeit der EU und gegen den Rassismus von UKIP gedreht werden. Das zeigt sich auch daran, dass selbst ein Drittel traditioneller Labour-WählerInnen für den Brexit gestimmt haben, obwohl der neue linke Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn seine jahrzehntelang vertretene Anti-EU-Position abgelegt und sich für einen Verbleib in der Europäischen Union ausgesprochen hatte. Hätte er sich stattdessen an die Spitze der Brexit-Bewegung gestellt, dann wäre diese nicht von Johnson und Farage dominiert worden und hätte in der Öffentlichkeit einen, zumindest deutlicheren, sozialen (und linken!) Charakter erhalten, hätte der Klasseninstinkt, der sich in dem Votum ausdrückte, einen bewussten politischen Ausdruck gefunden, wäre die politische Lage heute eine grundlegend andere.
Das hat unter anderem auch der anglikanische Priester der St.Mary’s Gemeinde in London-Newington auf den Punkt gebracht: „Hätte es eine stärkere Brexit-Stimme von Labour gegeben, hätte die Wut der Unzufriedenen aus der Arbeiterklasse gegen das eigentliche Ziel gerichtet werden können: den entwickelten Kapitalismus.“
Aber es ist auch nicht wahr, dass sich durch das Brexit-Votum das Kräfteverhältnis zuungunsten der Arbeiterklasse und der Linken verschoben hat oder die extreme Rechte gestärkt ist. Im Gegenteil. Der sozialistische Publizist Tariq Ali schrieb am 4. Juli auf facebook: „Das Ergebnis des Brexit bisher an der politischen Heimatfront: 1. Cameron ist weg, 2. Boris [Johnson] ist am Boden und Gove wird [das Rennen um den Tory-Vorsitz] wahrscheinlich nicht gewinnen, 3. Farage ist zurückgetreten, 4. Corbyn ist immer noch Vorsitzender der Labour Party und es baut sich massenhafte Unterstützung für ihn auf, während er selbst sich für die schottische Frage [der Unabhängigkeit] öffnet und in der Frage der Geflüchteten und Migration standhaft bleibt.(…) Kein schlechter Anfang …“
Wenn die Führer der nationalistischen Rechten aus dem Weg geräumt werden, kann man das tatsächlich kaum als Stärkung bezeichnen. Interessant sind auch Meinungsumfragen, die zum Ausdruck bringen, dass selbst die große Mehrheit der Brexit-BefürworterInnen für ein Aufenthaltsrecht für EU-BürgerInnen sind. Das zeigt, dass die Zunahme rassistischer Übergriffe nach dem Referendum zwar als Warnung verstanden – und bekämpft – werden müssen, aber nicht unbedingt eine qualitative Stärkung rechtsextremer Kräfte im Sinne einer zahlenmäßigen Zunahme ausdrücken müssen, sondern eher, dass diese mehr Selbstbewusstsein bekommen haben.
Die Verantwortung dafür, dass die Rechten sich durch den Ausgang des Referendums gestärkt und bestätigt fühlen, tragen die führenden Kräfte auf beiden Seiten der Referendums-Kampagne. Denn auch Cameron und das Remain-Lager haben sich mit rassistischen Äußerungen hervor getan und erwecken den Eindruck, polnische ArbeitsmigrantInnen seien für soziale Probleme verantwortlich und nicht die Politik der Regierung und die Macht des Kapitals.
Hierzu hat der Parteivorstand der LINKEN in seiner Resolution zum Brexit richtig formuliert:„Rassistische Übergriffe nach dem Referendum müssen entschlossen bekämpft werden. Doch Rassismus ist nicht ursächlich durch den Brexit entstanden, sondern wurde jahrelang von der Regierung Cameron betrieben, der zum Beispiel die Sozialleistungen für Migrantinnen und Migranten abgesenkt hat. Rechte Teile beider Seiten haben in der Referendumskampagne zu einem weiteren Anstieg von Rassismus beigetragen und der Ausgang wird von Rechten nun genutzt, um gegen polnische Mitbürgerinnen und Mitbürger rassistische Hetze zu betreiben. Wir stehen in internationaler Solidarität gegen jede Form von Rassismus. Die rechten Parteien in Europa, wie UKIP, sind auch deshalb entstanden, weil die EU statt die nationale Beschränktheit tatsächlich zugunsten einer grenzüberschreitenden, solidarischen Gesellschaft aufzuheben, nur einen bürokratischen, undemokratischen Überbau zur Regelung der Binnenmarktinteressen der Banken und Konzerne geschaffen und stetig aufgebläht hat.“
Auf die Gefahr einer Stärkung der Nationalisten und Rassisten hatten linke Brexit-BefürworterInnen immer hingewiesen. So zum Beispiel Dave Nellist, der TUSC-Vorsitzende und ehemalige marxistische Labour-Parlamentsabgeordnete, einen Tag vor dem Referendum im Neuen Deutschland: „Es besteht die Gefahr, dass es – egal welche Seite gewinnt – zu einem Anwachsen von Rassismus und rassistischen Übergriffen kommen wird. Es sieht stark danach aus, dass der Mörder der Labour-Abgeordneten Jo Cox Verbindungen zu extrem rechten Organisationen unterhielt. Im Nachgang des Referendums ist es darum notwendig, dass die ArbeiterInnenbewegung eine starke Kampagne gegen die Tory-Partei, Kürzungspolitik und Rassismus führt. Die Stimme der ‘kleinen Leute’ wurde im Wahlkampf für das Referendum am Donnerstag kaum gehört. Gleichzeitig gab es wachsende Unterstützung für die Exit-Seite. Viele WählerInnen aus der Arbeiterklasse sehen das Referendum als Chance, gegen Cameron, das kapitalistische Establishment und alles zu protestieren, unter dem sie in den letzten Jahren gelitten haben: niedrige Löhne, Prekarisierung, das Fehlen bezahlbaren Wohnraums sowie die Aushöhlung der Daseinsfürsorge.“
Nichts ist automatisch
Aber nichts vollzieht sich automatisch. Die Folgen des Brexit-Votums hängen entscheidend vom Agieren der verschiedenen politischen Akteure ab. Angela Kleins Einschätzung, die antikapitalistische Linke Großbritanniens sei „darauf zurückgeworfen, zur Bekämpfung des grassierenden Rassismus im Land aufzurufen“ und „den schleichenden Putsch der Parteirechten gegen den Parteivorsitzenden Corbyn abzuwehren“, ist jedoch falsch. Tatsächlich drängt sich die soziale Frage auch durch das Brexit-Votum wieder mehr in den Vordergrund. Warum sonst spricht Theresa May in ihrer Antrittsrede für die Kandidatur zum Vorsitz der britischen Konservativen vom Schicksal der Arbeiterklasse und der schwarzen Bevölkerung? Warum sonst ist Sigmar Gabriels Reaktion auf den Brexit die Forderung nach Sozialprogrammen? Weil sie den klassenmäßigen Kern des Referendums, anders als manche Linke, verstanden haben. Das bedeutet aber eine Chance für die Gewerkschaften und für die Labour-Linke. Es geht der britischen herrschenden Klasse darum, mit allen Mitteln eine Neuwahl zu verhindern, bei der Jeremy Corbyn Vorsitzender, und damit Spitzenkandidat, der Labour Party wäre – deshalb die Verzögerung des Cameron-Rücktritts und deshalb der Putschversuch gegen Corbyn durch die Labour-Rechte Doch letzterer ist zumindest bisher gescheitert. Zehntausende sind in Labour eingetreten, um Corbyn zu unterstützen, Tausende sind in vielen Großstädten auf die Straße gegangen. Neben den Versuch, Corbyn zu stürzen, gibt es Diskussionen um eine Parteineugründung von Pro-EU Tories und rechten Labour-Abgeordneten. Die Entwicklungen vollziehen sich in einem rasanten Tempo und der Ausgang ist ungewiss.
Meine These ist: Das Zusammenbringen aller linken Kräfte (innerhalb und außerhalb von Labour) durch Corbyn und eine offensive Kampagne für Neuwahlen und für eine Labour Party mit klarem Anti-Austeritäts-Programm, könnte Corbyn zum Sieger des Machtkampfes innerhalb von Labour und zu Großbritanniens nächstem Premierminister machen. Das wäre ein Horrorszenario für den britischen und EU-Kapitalismus – und eine potenzielle Wirkung des Brexit. Auch die Gewerkschaftsführungen könnten dafür sorgen, dass sich der Wind dreht. Es gibt wichtige Streiks von Assistenzärzten (Junior Doctors) und LehrerInnen, die Reste der britischen Stahlindustrie sind gefährdet. Die Wut über die Austeritätspolitik der Tory-Regierung, aber auch vieler Labour Stadträte ist enorm. Der Aufruf zu koordinierten Streikaktion, einem eintägigen Generalstreik und für Neuwahlen, wie es linke GewerkschafterInnen diskutieren (siehe Bericht von der National Shop Stewards Konferenz), könnte eine enorme Wirkung haben – auch das gestärkt durch das Brexit-Votum, weil der Gegner – die Tory-Regierung – angeschlagen ist. All das wird sich nicht automatisch vollziehen. Auch die britische Arbeiterbewegung wurde in den letzten Jahrzehnten geschwächt. Umso hängt davon ab, wie die Führung der Gewerkschaften und Jeremy Corbyn agieren.
Neugründung der EU?
Der LINKE-Parteivorstand hat eine Resolution zum Brexit verabschiedet, die in Teilen eine realistische Analyse des Brexit-Votums als im Kern sozialen Protest aus der Arbeiterklasse und verarmten Schichten enthält (die von den AKL-BundessprecherInnen Thies Gleiss und Lucy Redler im Parteivorstand vorgelegte Resolution findet sich hier). Gleichzeitig spricht er sich für eine Neugründung der EU aus. Dieser Gedanke der „Neugründung“ wird gerne propagiert, kann man ihn doch so vielfältig interpretieren. „Neu“ klingt immer gut. Gut an dem Gedanken ist, dass damit die bestehenden EU-Verträge in ihrer Gesamtheit abgelehnt und zur Disposition gestellt werden. Schlecht ist aber, dass er einen Rahmen vorgibt, der aus der heutigen real existierenden Europäischen Union besteht. Diese wird aber nicht durch die Arbeiterklassen der Mitgliedsländer definiert, sondern durch die herrschenden Klassen.
Wieso im Rahmen der EU bleiben? Wieso propagiert DIE LINKE nicht die Notwendigkeit diese real existierende EU komplett durch eine neue Kooperation der Völker Europas auf gleichberechtigter, demokratischer und sozialistischer Grundlage zu ersetzen? Und zu betonen, dass dies nicht nur die 28 (bzw. 27) EU-Mitgliedsstaaten umfassen soll, sondern auch die Schweiz, Norwegen, Serbien und, ja, Russland! Bleiben wir bei dem Vergleich des millionenschweren Mafia-Kartells. Würde man eine Neugründung des Kartells im Zeichen von Recht und Gesetz fordern, würde man sich lächerlich machen. Ein Mafia-Kartell und Recht und Gesetz sind ein Widerspruch. Jeder und jede würden sofort zustimmen, dass ein solches Kartell zerschlagen gehört, enteignet und dass das Geld in anderen Händen sinnvoll eingesetzt werden sollte. Die EU und soziale Demokratie und Frieden sind ein ebensolcher Widerspruch. Sie gehört abgeschafft und durch eine gänzlich neue Form der Kooperation ersetzt.
Angela Klein schreibt zurecht, dass der Weg, das Zusammenleben der Völker in Europa auf eine neue Grundlage zu stellen über die Durchsetzung linker, antikapitalistischer Regierungen im Nationalstaat führe. Dem ist insofern zuzustimmen, als erstens die EU den Nationalstaat nicht überwunden hat und dieser weiterhin das entscheidende Terrain des Klassenkampfes darstellt.
EU-Gesetze und -Richtlinien verkomplizieren den Klassenkampf, weil sie eine zusätzliche Hürde darstellen, die von den zumeist im Rahmen des Nationalstaats stattfindenden Kämpfen überwunden werden müssen. Beispiel Irland: Hier hat ein Massenboykott der Wassergebühren die neue Regierung zum Einlenken bewegt und diese hat die gebühren ausgesetzt. Daraufhin sagt die EU-Kommission, dass das Gesetz zur Einführung der gebühren nach EU-Recht nicht mehr zurück genommen werden könne. EU-Recht sieht auch keine Verstaatlichungsmöglichkeiten für die britische Stahlindustrie und Eisenbahn vor – Forderungen, die von Linken in Großbritannien aufgestellt werden. Die Organisierung synchroner EU-weiter Kämpfe ist weitaus schwieriger, als auf nationaler Ebene. Natürlich muss dies geschehen und ist auch möglich, wie man bei den Kämpfen gegen die Bolkestein-Richtlinie und Port Package gesehen hat. Aber gleichzeitige grundlegende Gesellschaftsveränderungen in der gesamten EU sind vielleicht theoretisch denkbar, aber praktisch sehr unwahrscheinlich.
Sie liegt aber falsch, wenn sie schreibt: „Vielmehr ist die Überwindung des kapitalistischen Nationalstaats eine Voraussetzung für die Überwindung des kapitalistischen EU-Projekts.“ Der Brexit beweist das Gegenteil. Die EU ist nicht allmächtig. So, wie im Rahmen des Kapitalismus soziale Zugeständnisse erkämpft werden können, so können auch Institutionen des Kapitals erschüttert und zerschlagen werden – zumindest aber können einzelne Länder solche Institutionen verlassen. Wodurch diese dann ersetzt werden, ist eine andere Frage und hängt vom Verlauf des Klassenkampfs ab. Aber es ist offensichtlich, dass die zentrifugalen Kräfte in der EU zunehmen und dies durch Klassenkämpfe verstärkt werden kann. Das ist gut so, auch wenn ein Austritt einzelner Staaten aus der EU oder die Auflösung der EU in ihrer heutigen Form (und dann wahrscheinlich die Bildung einer kerneuropäischen Union um Deutschland herum) noch keinen Sozialismus bedeutet. Und wenn es keine starken Kräfte gibt, die bei solchen Auflösungserscheinungen der EU eine sozialistische Anti-EU-Position vortragen, besteht die Gefahr, dass diese Entwicklung nationalistische Färbung annimmt und rechte Kräfte stärkt.
Enthaltung?
Nun könnte man sich fragen, ob angesichts dieser Komplexität des Brexit-Votums und der Tatsache, dass nun einmal auch rechte und rassistische Kräfte für einen Austritt aus der EU Kampagne machten, die „bessere“ Position eine Enthaltung gewesen wäre. Einige sich revolutionär und marxistisch verstehende Gruppen am Rande der Arbeiterbewegung haben eine solche Position eingenommen – und sind damit am Rande der Arbeiterbewegung geblieben. Das ist die Folge, wenn man aus Sorge davor nass zu werden, bei einem Schwimmwettbewerb am Beckenrand stehen bleibt.
Natürlich gibt es Situationen, in denen sich SozialistInnen enthalten oder zu einer ungültigen Stimmabgabe aufrufen müssen. Das ist oft der Fall, wenn bei einer Parlaments- oder Präsidentenwahl nur zwei bürgerliche, pro-kapitalistische Kandidaten zur Wahl stehen, Aber selbst hier kann es Ausnahmen geben, wie bei der letzten Präsidentenwahl in Österreich. Hier haben die Sozialistische LinksPartei (SLP – Schwesterorganisation der SAV) und andere Linke zurecht dazu aufgerufen, einen Sieg des FPÖ-Manns Hofer zu verhindern und die Stimme an den grünen (und damit bürgerlich-prokapitalistischen) Kandidaten Van der Bellen zu geben. Warum? Weil die gesellschaftliche Wirkung eines FPÖ-Siegs qualitativ negativer für die Arbeiterbewegung, die Linke und sozial Benachteiligte gewesen wäre. Man kann also eine Entscheidung zur Stimmabgabe nicht nur von den Protagonisten abhängig machen, sondern muss die Wirkung der jeweiligen Ergebnisse auf die Gesellschaft, auf das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen und die Folgen für den Wiederaufbau der Arbeiterbewegung berücksichtigen. An diesem Punkt besteht aus meiner Sicht kein Zweifel: Eine Mehrheit für den Verbleib in der EU hätte die Tory-Regierung gefestigt, die EU gestärkt, TTIP beschleunigt usw. Eine Enthaltung wäre in der Realität nur dem Remain-Lager zugute gekommen. Deshalb konnten Linke zum Ausgang des Referendums aus den oben ausgeführten Gründen keine gleichgültige Haltung einnehmen.
Fazit
Das EU-Referendum in Großbritannien war ein einschneidendes Ereignis und wie alle solche Ereignisse auch ein Test für die Linke. Das Votum für den Brexit hat eine Krise im Vereinigten Königreich und in der EU ausgelöst, die uns noch lange beschäftigen wird. Wie darauf reagiert werden muss, darf im Falle der innenpolitischen Fragen, die sich in Großbritannien stellen, nicht davon abhängig gemacht werden, wie man zum Brexit steht. In der Frage der Unterstützung Corbyns gegen die Labour-Rechte ist dies glücklicherweise auch nicht der Fall und viele derjenigen, die Corbyn verteidigen, waren BefürworterInnen des Brexit.
Aber die Frage, wie die Linke es mit der EU hält, ist von größter Bedeutung. Um zu verhindern, dass die berechtigte Anti-EU-Stimmung auch in anderen Ländern von rechtspopulistischen und rassistischen Kräften ausgenutzt werden kann, muss die Linke eine klare und unzweideutige Haltung gegen die EU der Banken und Konzerne einnehmen. In einigen Linksparteien hat ein solcher Diskussionsprozess begonnen. So hat zum Beispiel der portugiesische Linksblock, der in der Vergangenheit eine eher unkritische Haltung zur EU Einnahme, sich nun deutlich gegen die EU ausgesprochen. Eine Ablehnung der EU muss aber einher gehen mit dem Aufzeigen einer positiven Alternative jenseits von kapitalistischer EU und kapitalistischem Nationalstaat – einem Europa der Arbeiterinnen und Arbeiter , einer freiwilligen sozialistischen Föderation der europäischen Staaten.