Brexit: ein Schlag gegen das Establishment

Kapitalisten-Bündnis EU und britische Austeritätsregierung geschwächt
Sascha Stanicic und Lucy Redler, CWI-Deutschland

Die britische Bevölkerung hat der Tory-Regierung unter dem, mittlerweile zurückgetretenen, Premierminister Cameron und der kapitalistischen EU einen derben Schlag versetzt. Gegen den Brexit hatten sich fast alle Kräfte des politischen und wirtschaftlichen Establishments auf der Insel und in Europa vereint. Die arbeitende Bevölkerung Großbritanniens ließ sich davon nicht beeinflussen und hat das Referendum genutzt, um ein klares Signal auszusenden: es muss Schluss sein mit einer abgehobenen Politik für die Superreichen, Banken und Konzerne durch die Tory-Regierung und die EU.

Der Brexit hätte ein Sieg der Linken werden können. Doch diese Chance wurde Jeremy Corbyn, dem neuen, der Parteilinken zuzurechnenden, Vorsitzenden der Labour Party nicht ergriffen. Dieser ist ein General ohne Offiziere und ohne Armee. Er wurde in einem Mitgliedervotum zum Vorsitzenden gewählt, die Ortsvereine, Parlamentsfraktionen und der Apparat der Partei sind aber von pro-kapitalistischen und neoliberalen Kräften dominiert, die ihn massiv unter Druck setzen und stürzen wollen. Statt den Kampf aufzunehmen, hat er sich in der Frage der EU-Mitgliedschaft Großbritanniens unter Druck setzen lassen und sich gegen einen Austritt aus dem Staatenbündnis ausgesprochen. Das führte dazu, dass das Brexit-Lager in der öffentlichen Debatte von nationalistischen und rechtspopulistischen Kräften wie dem ehemaligen Londoner Tory-Bürgermeister Brian Johnson und der Unabhängigkeitspartei UKIP um Nigel Farage dominiert wurde. Unterging, dass sich einige Gewerkschaften wie die Eisenbahnergewerkschaft RMT und die nordirische Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes NIPSA und sozialistische Kräfte wie die Socialist Party und die Trade Unionist and Socialist Coalition auch für den Brexit aussprachen und erklärten, dieser könne zu einem Ausgangspunkt für eine Offensive der ArbeiterInnenklasse gegen die Austeritätspolitik der Cameron-Regierung gemacht werden.

Klassenfrage

Diese Haltung hat sich bestätigt. Das Abstimmungsergebnis zeigt die Klassenlinien in der Gesellschaft auf. In der ArbeiterInnenklasse hat der Brexit massiv gewonnen aufgrund der Ablehnung der vorherrschenden arbeiterfeindlichen und unsozialen Politik und sozialer Ängste. Letztere haben auch etwas mit der starken Einwanderung nach Großbritannien zu tun, die von UKIP und Teilen der Tory-Rechten zum Schüren nationalistischer Stimmungen ausgenutzt wurde. Aber auch mit dem Niedergang der öffentlichen Daseinsvorsorge, der Krise der britischen Stahlindustrie etc. Selbst die rechten Brexit-Befürworter versprachen zum Beispiel, dass das „eingesparte“ Geld nach einem EU-Austritt zum Ausbau des öffentlichen Gesundheitswesens verwendet würde (ein Versprechen dass wenige Stunden nach Bekanntwerden des Abstimmungsergebnisses bereits zurückgenommen wurde, Anm.). Umso wichtiger wäre es gewesen, den Brexit von Links zu besetzen. In der Referendumskampagne gab es keine starke Stimme, die das Interesse der ArbeiterInnenklasse an einem Brexit zum Ausdruck brachte. Das hat der UKIP freies Feld gelassen. Hätte Corbyn sich deutlich für eine sozialistische Brexit-Argumentation ausgesprochen, dann wäre das Ergebnis noch deutlicher ausgefallen (weil viele vor allem gegen den Brexit stimmten, um eine Stärkung von UKIP zu verhindern) und der Kern des Votums zum Vorschein getreten, der ein sozialer und nicht ein nationalistischer ist.

Auch wenn die RechtspopulistInnen nun jubilieren und versuchen, das Abstimmungsergebnis als ihren Sieg zu deklarieren, ist der Brexit zu begrüßen. Warum? Weil er ein Schlag gegen eine Europäische Union ist, die ein Bollwerk der Kapitalisten und arbeiterfeindlichen Regierungen gegen die Interessen der Bevölkerung Europas darstellt. Die EU ist neoliberal, militaristisch und undemokratisch. Sie ist eine Waffe in der Hand der Kapitalisten und nationalen Regierungen gegen die ArbeiterInnenklasse des Kontinents. Deren Gegner, die herrschenden Klassen Europas, ist nun geschwächt. Das ist gut so. Der Brexit hat ein Loch in dieses Bollwerk gerissen und das wird es zukünftigen Bewegungen leichter machen, sich gegen EU-Diktate zur Wehr zu setzen. Das gilt insbesondere angesichts der Erfahrungen der Syriza-Regierung mit der Erpressungspolitik der Troika und der Möglichkeit, dass in Spanien und in den nächsten Jahren auch in weiteren Ländern linke Parteien die Regierung stellen können.

Chance nutzen

Ob die Chance, die das Brexit-Referendum, bietet, auch genutzt wird, hängt vor allem von den Führungen der linken Parteien und der Gewerkschaften ab. In Großbritannien, aber nicht nur dort.

Dave Nellist, Vorsitzender der Trade Unionist and Socialist Coalition, schrieb vor zwei Tagen im Neuen Deutschland: „Es besteht die Gefahr, dass es – egal welche Seite gewinnt – zu einem Anwachsen von Rassismus und rassistischen Übergriffen kommen wird. Es sieht stark danach aus, dass der Mörder der Labour-Abgeordneten Jo Cox Verbindungen zu extrem rechten Organisationen unterhielt. Im Nachgang des Referendums ist es darum notwendig, dass die ArbeiterInnenbewegung eine starke Kampagne gegen die Tory-Partei, Kürzungspolitik und Rassismus führt. Die Stimme der ‘kleinen Leute’ wurde im Wahlkampf für das Referendum am Donnerstag kaum gehört. Gleichzeitig gab es wachsende Unterstützung für die Exit-Seite. Viele WählerInnen aus der Arbeiterklasse sehen das Referendum als Chance, gegen Cameron, das kapitalistische Establishment und alles zu protestieren, unter dem sie in den letzten Jahren gelitten haben: niedrige Löhne, Prekarisierung, das Fehlen bezahlbaren Wohnraums sowie die Aushöhlung der Daseinsfürsorge.“

Nun hat Cameron seinen Rücktritt erklärt. Corbyn sollte jetzt in die Offensive gehen, seine UnterstützerInnen mobilisieren und organisieren und den Bruch mit der Labour-Rechten vollziehen. Wenn er Neuwahlen fordern würde und ein sozialistisches Wahlprogramm (welches unter anderem eine Ende aller Kürzungen, die Rücknahme von Privatisierungen, einen angemessenen Mindestlohn, öffentliche Investitionsprogramme etc. beinhalten müsste) aufstellt, könnte aus dem Brexit-Votum statt einer Rechtsverschiebung auf der politischen Ebene, ein Linksruck und eine neue Massenpartei für ArbeiterInnen und sozial Benachteiligte entstehen. Wenn die Gewerkschaftsführungen die Schwächung der Regierung zu einer Streikoffensive nutzen würden, indem sie unter anderem einen eintägigen Generalstreik gegen die fortgesetzte Austeritätspolitik ausrufen, dann könnten wir auch in Großbritannien „französische Verhältnisse“ haben und die Rechtspopulisten würden durch den Kampf auf der Straße und in den Betrieben zurück gedrängt. Das ist kein Wunschdenken. In den letzten Jahren hat es wiederholt gewerkschaftliche Massenbewegungen und Streiks gegeben, die aber von den Führungen der großen Gewerkschaften nicht in einer Kampfstrategie, die zum Erfolg führen könnte, zusammen gefasst wurden.

Linke Debatte nötig

Die Linke in ganz Europa sollte den Brexit zum Anlass nehmen, ihre Haltung zur EU kritisch zu überdenken. Ein Nein zur EU bedeutet nicht automatisch Nationalismus, wenn es mit einer internationalistischen Politik einher geht, die dem Arbeitgeber-Bündnis EU ein Bündnis der abhängig Beschäftigten und sozial Benachteiligten von unten entgegen stellt und die der kapitalistischen EU nicht die ebenso kapitalistische Kleinstaaterei, sondern einen freiwilligen sozialistischen Staatenbund entgegenstellt. In den linken Parteien in Portugal und Spanien hat die Debatte begonnen, dass ein Bruch mit der EU nötig ist, weil diese nicht im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung reformiert werden kann. DIE LINKE in der Bundesrepublik sollte die Debatte zur EU neu eröffnen und dazu auch die Erfahrungen und Argumente der linken Brexit-BefürworterInnen aus Großbritannien bekannt machen.