Fr 04.02.2011
An diesem frühen Morgen des 3. Februar ist die Lage um den Tahrir-Platz immer noch sehr gespannt und gefährlich. Ich hörte Schüsse. Menschenmassen sind auf den Straßen, aber es ist nicht immer möglich zu erfahren, ob es sich um RegierungsgegenerInnen oder Mubarak-UnterstützerInnen handelt. Die Straßen sind immer noch blockiert.
Die Meinungen innerhalb der ägyptischen Zeitungslandschaft sind diesen Morgen überaus gespalten. Die regimetreuen Zeitungen versuchen, das Regime selbst von der Verantwortung für die Übergriffe von Mubaraks Schrägertrupps gegen Oppositionelle am Tahrir-Platz zu lösen. Ein oppositionelles Blatt warnt vor einem „Bürgerkrieg“.
Die Ereignisse der letzten Tage haben sich mit einer ungeheuren Schnelligkeit entwickelt. Am Abend des 1. Februar hat Präsident Husni Mubarak im Fernsehen verkündet, nicht mehr zur nächsten Wahl im September antreten zu wollen. Aber das hat die Protestierenden auf dem Tahrir-Platz bei weitem nicht beschwichtigen können. Diese betonten, so lange auf dem Platz zu bleiben und weiter zu kämpfen, bis Mubarak abtritt. Aber als die Protestierenden gestern den Platz erreichten, wurde deutlich, dass Mubaraks Leute dort bereits auf sie warteten.
Sie kamen in kleinen Gruppen. Ich war zunächst überrascht, dass sie sich trauten, der Demonstration so nahe zu kommen. Dann konnte man sehen, das viele solcher Gruppen von allen Seitenstraßen aus auf den Platz zuströmten und eine Art Kette um die DemonstrantInnen bildeten. Ich sah einige Zivilfahrzeuge, die Mubarak-Unterstützer herbeikarrten. Einige kamen auf Pferden und Kamelen. Als die Zusammenstöße in Gewalt ausarteten, wurden diese Pferde und Kamele in die Menge der DemonstrantInnen getrieben, um in deren reihen Schrecken, Chaos und Verwirrung zu stiften.
Als ich versuchte, auf den Tahrir-Platz zu gelangen, waren in der Umgebung schon Zusammenstösse zu beobachten und ich geriet in eine Gruppe von Mubarak-Unterstützern. Einige von ihnen erzählten mir, sie planen einen „friedliche“ Demonstration zur Unterstützung des Präsidenten durchzuführen, aber man ließe sie nicht auf den Platz. Tatsächlich aber waren sie mit Knüppeln, Eisenrohren und Metallplatten bewaffnet, von denen sie behaupteten, sie irgendwo in der Nähe gefunden zu haben. In der Tat konnten sie nicht damit rechnen, von den Protestierenden bewaffnet auf den Platz gelassen zu werden.
Etwa gegen Mittag, als sie den Platz umschlossen hatten, gingen Mubaraks Schläger zum offenen Angriff über. Sie versuchten die DemonstrantInnen vom Platz, dem Symbol ihres Protestes, gewaltsam weg zu räumen. Sie fingen an, die Gehwegplatten rauszureissen und warfen sie gegen die DemonstrantInnen. Das war ein verrückter Anblick, mit schweren Steinen die wie Hagelkörner fielen. Viele Leute wurden verwundet. Die Angreifer agierten diszipliniert und gingen gezielt vor. Sie umlagerten Leute, rissen kleine Gruppen aus der Menge, umstellten diese und schlugen sie zusammen, wonach die Angreifer sich wieder geordnet zurückzogen. Dies ging zwei Stunden lang so weiter. Die Banden von Mubarak-Unterstützern griffen an und zogen sich zurück, um dann erneut anzugreifen.
Es ist offensichtlich, dass diese Angriffe organisiert und geplant waren. Die Täter hatten die günstigste Zeit für ihren blutigen Angriff ausgewählt, als noch nicht so viele Mubarak-GegnerInnen auf dem Platz eingetroffen waren. Nur einen Tag vorher waren an dieser Stelle mindestens eine halbe Million Anti-Mubarak-DemonstrantInnen. Aber diese Menschen auf dem Platz gestern haben schon die ganze Woche dort ausgeharrt und waren entsprechend müde. Natürlich ging das Regime gerade dann und gegen diese Leute zum Angriff über. Ich selbst weiß nicht, wie die Anti-Mubarak-DemonstrantInnen das so lange ausgehalten haben.
Die angegriffenen DemonstrantInnen gehen davon aus, dass die Angreifer von den Sicherheitskräften organisiert wurden – so fand man bei einigen Schlägern Polizeiausweise. Im ägyptischen Radio wurde berichtet, dass eine der Pro-Mubarak-Demonstrationen vom Arbeitsminister angeführt wurde, der wegen seiner arbeiterInnenfeindlichen Haltung bekannt ist. Es ist klar, dass Funktionäre der Partei Mubaraks eine aktive Rolle dabei gespielt haben. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Es waren nicht nur Bürokraten und die Polizei, die sich für die Attacken ein paar Söldner gekauft haben. Das Regime schaffte es, Verwirrung und Lügenpropganda zu sähen. So sah ich gewöhnliche Leute, die an den gewaltsamen Attacken beteiligt waren. Sie sagten einfach, dass die Anti-Mubarak-Bewegung ihr Ziel erreicht habe, die Regierung zu verändern und den Präsidenten zum Abdanken gezwungen habe. Nun wollen sie ein Ende des Chaos. Sie riefen Slogans wie “Mubarak ja - Instabilität und Chaos nein!” und "Mubarak ja - Korruption nein!” Aber als Ergebnis schufen diese Leute, die genug von Unordnung und unsicheren Verhältnissen hatten und jede Störung des „friedlichen Alltags“ beenden wollten, absolutes Chaos. Szenen, die man gestern noch auf dem Platz nicht hätte zu sehen bekam, als die Demonstration von Freiwilligen geschützt wurde.
Bewusste Taktik der Obrigkeit
Mubaraks UnterstützerInnen haben auch Slogans gegen Al-Baradei gerufen, wie „Al-Baradei ist ein Feigling und ein amerikanischer Agent!“. Das ist natürlich blanke Ironie, da Mubarak in den letzten dreißig Jahren einer der loyalsten Lakaien des US-Imperialismus war. Offenbar versuchen die Schergen des Regimes mit solcherlei Al-Baradei kommentierenden Slogans, diejenigen in den Reihen der Anti-Mubarak-DemonstrantInnen auf ihre Seite zu ziehen, die Skepsis gegenüber der politischen Rolle der „Führer“ der Opposition hegen.
Was da passiert ist Resultat der bewussten Politik des Regimes. Von Beginn an hat das Mubarak-Regime eine Ausgangssperre verhängt und hat bewusst Versorgungsschwierigkeiten bei Lebensmitteln und anderen nötigen Dingen erzeugt. Dies erhöhte die Spannungen und machte viele Menschen wütend. Mubarak versucht, eine Lage zu schaffen, die die Menschen dazu bringt folgende Schlussfolgerungen zu ziehen: „Soll Mubarak ruhig bleiben, aber sorgt dafür dass alles nicht noch schlimmer wird. Es wäre schon besser, wenn es nur so würde, wie noch vor einer Woche, vor den Protesten!“ Diese Stimmung hat sich schon bei einem Teil der ägyptischen Gesellschaft breit gemacht. Es waren solche Leute, die das Regime gestern gegen die Protestbewegung benutzen konnte. Mubarak hofft, dass da wo Armee und Polizei nicht mehr helfen konnten, er sich auf andere verlassen kann, die die Drecksarbeit für ihn tun machen.
Klar ist, dass wenn es gelungen sein sollte, die Oppositionsbewegung vom Tahrir-Platz dadurch zu brechen, das das Ende der Bewegung wäre. Wenn die Leute angesichts der Massenproteste am Dienstag noch mit einem Sturz des Regimes fest rechneten, könnte sich jetzt das Kräfteverhältnis geändert haben. Es ist schwer zu sagen, was als Nächstes passieren wird. - In der gegenwärigen Phase ist es unmöglich, ein abgerundetes Bild von der Lage zu bekommen und es ist auch noch nicht klar, was in den anderen Städten des Landes passiert ist. Aber die Opposition spricht bereits über die Organisation eines nächsten großen Protestes am Freitag.
Auf der riesigen Anti-Mubarak-Demo am Dienstag auf dem Tahrir-Platz, waren Angehörige der Mittelschichten, aber hauptsächlich TeilnehmerInnen aus der ArbeiterInnenklasse und Jugendliche. Das Potenzial der Bewegung, Mubaraks Regime wegzufegen, war offensichtlich. Aber die ArbeiterInnenklasse war nicht in organisierter Weise da. Ich sah keine Fahnen und Transparente mit klaren Klassen-Losungen, linken oder sozialistischen Slogans und Forderungen. Damit die ArbeiterInnenklasse den Ereignissen entscheidend ihren Stempel aufrücken kann, bedarf es einer Massenpartei der ArbeiterInnenklasse, mit einem unabhängigen sozialistischen Klassenprogramm.
Am Dienstag herrschte eine gewisse Atmosphäre des Straßenkarnevals, sogar Euphorie und vielleicht auch das Gefühl, dass die Aufgabe des Sturzes von Mubarak sehr bald erledigt sein würde. Aber obwohl Mubarak darauf verkündete, im September abzutreten, hat dieses seit Jahrzehnten an der Macht klebende Regime nicht vor, kampflos das Feld zu verlassen.
Die Armee ermöglichte gestern das Eindringen von Mubaraks Schägertrupps auf den Platz. Der Staatsapparat ist schwer angeschlagen durch die Ereignisse der letzten Woche, aber ist im Kern weiterhin intakt geblieben. Die Massenbewegung kann nicht passiv bleiben. Sie muss in die Offensive gehen!
Die Oppositionsbewegung muss an die einfachen Soldaten appellieren, auf die Seite der Massen überzugehen – also auf die Seite ihrer Väter, Mütter, Brüder und Schwestern! In die Armee Eingezogene (Wehrpflichtige) leiden genauso unter hohen Preisen und niedrigen Löhnen. Die Armee kann mit einem Appelle an die einfachen Soldaten entlang von Klassenlinien gespalten und neutralisiert werden. Ein solcher Appell muss zum Aufbau von Komitees der einfachen Soldaten und zur Säuberung der Armee von reaktionären Offizieren und den alten Befehlshierarchien aufrufen. Auch muss er die Forderung nach vollen gewerkschaftlichen und demokratischen Rechten für alle Armeeangehörigen beinhalten.
Die Schlägerbanden Mubaraks haben Verwüstung und Schrecken erzeugt, aber sie haben es nicht geschafft, den Tahrir-Platz letzte Nacht einzunehmen. Die gegenwärtige Situation ist sehr verwirrend, bedingt durch zahlreiche umhergehende Gerüchte. Der Zerfall des Regimes könnte sich fortsetzen. Möglich wäre, dass es die Armee einsetzt, um die „Ordnung“ wieder her zu stellen.
Die gestrigen Ereignisse könnten aber auch erneute massenhafte Opposition entfachen. Die geplanten Massendemonstrationen kommenden Freitag könnten ein Wendepunkt sein.
Es wäre möglich, dass das Regime die Figur Mubarak opfert, um ein neue, sich auf die Armee stützende Regierung der „nationalen Rettung“ zu bilden. Heute „entschuldigte“ sich der Premierminister für die gestrigen „Kämpfe zwischen den DemonstrantInnen beider Lager“ und bezeichnete sie als einen „schweren Fehler“.. Es gibt Berichte, dass die Armee in Kairo mit Militärfahrzeugen in den Straßen von Kairo „die zwei Seiten zu trennen versucht“.
Selbstverteidigung gegen Mubaraks Schlägerbanden
Die arbeitenden Massen müssen sich selbst gegen die konterrevolutionären Schlägerbanden verteidigen, was die Bildung von demokratisch organisierten bewaffneten Milizen einschließt. Aktionskomitees der Massen, in den Betrieben, Wohnvierteln, Schulen und Universitäten , sowohl auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene, können den Widerstand anführen.
Lebensmittelknappheit ist ein drängendes Problem und die Preise steigen. Die großen Händler profitieren von der Krise. Wie ein linker Aktivist mir mitteilte, versucht Mubarak die ganze Nation mit „Aussperrung“ zu belegen. Die arbeitenden Menschen müssen die Lebensmittel produzierenden Betriebe und alle Betriebe und Einrichtungen des Lebensmittelshandels und der Verteilung von Nahrungsmitteln besetzen und übernehmen. Nur so kann ihre eigne Versorgung und die der Massen demokratisch organisiert und sichergestellt werden. Mit so einem Programm könnten auch einige derer für die revolutionäre Bewegung gewonnen werden, die sich auf Grund der Versorgungslage von Mubarak haben benutzen lassen.
Die Massen müssen in die Offensive gehen. Massenhafte ArbeiterInnenaktion ist nötig. Dies beinhaltet das Kampfmittel des Generalstreiks zum sofortigen Sturz von Mubarak und des ganzen verfaulten, verkommenen und brutalen Regimes. Eine Aufstandsbewegung der Massen, geführt von der ArbeiterInnenklasse und an die einfachen Armeeangehörigen appellierend, würde gemeinsam mit diesen zum Prüsidentenplast und anderen Schlüsselstellen der politischen Macht ziehen, um eben diese Macht zu übernehmen. Mubarak und seine Kumpanen sollte vor Volkstribunalen der Prozess gemacht werden. Da sollen sie sich für ihrer Verbrechen gegen das ägyptischen Volk verantworten.
Der obszöne Reichtum der herrschenden Elite sollte ihren gierigen Händen entrissen werden und dem Wohl der Mehrheit der Gesellschaft zu Gute kommen. SozialistInnen argumentieren für die Verstaatlichung der ägyptischen Konzerne, Banken und des Großgrundbesitzes bei demokratischer Planung im Interesse der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung.
In eine wie auch immer geartete Form von Regierung der „Nationalen Rettung“ kann kein Vertrauen gesetzt werden. Sie dient nur den Interessen der herrschenden Klasse und des Imperialismus. Das Entscheidende ist, nicht nur Mubarak zu stürzen, sondern das ganze verrottete Regime. Die Massenbewegung kann keinerlei Vertrauen in irgendein neues taktisches Maneuver des Regimes setzen. Diese dienen nur dazu, wirkliche demokratische Errungenschaften und soziale Veränderung zu durchkreuzen. Der Imperialismus sucht nach irgend einer Art von „Einheits-“ oder „Übergangs“regierung, um die Bewegung zu begrenzen und um die Zukunft des Kapitalismus in Ägypten zu sichern.
Um einen klaren Bruch mit dem Regime zu sichern, wird eine Regierung benötigt, die die ägyptischen Massen wirklich repräsentiert – eine Regierung der ArbeiterInnen und armen BäuerInnen. So eine Regierung würde den Willen des Volkes nach sofortigen freien Wahlen erfüllen und Sofortmaßnahmen zur Verbesserung des Lebensstandards der ÄgypterInnen durchsetzen.
SozialistInnen fordern eine revolutionäre demokratische Konstituierende Versammlung und eine aus der Mehrheit der ArbeiterInnen in Stadt und Land gebildete Regierung.
Das ist der einzige Weg, dauerhaft volle demokratische Rechte zu erlangen, wie das Recht auf Versammlungsfreiheit, das Streikrecht und das Recht auf demokratische und unabhängige Gewerkschaften. Es ist der einzige Weg, einen existenzsichernden Lohn, einen garantierten Arbeitsplatz, anständigen Wohnraum, Bildung und medizinische Versorgung für alle zu bekommen.
Die Revolutionsbewegung muss über die ganze Region ausgeweitet werden und auf der Grundlage eines sozialistischen Programms zu voller Entfaltung gelangen - Für ein sozialistisches Ägypten und eine sozialistische Föderation der ganzen Region auf einer freiwilligen und gleichberechtigten Basis.