Do 15.05.2008
Das Schicksal von Elisabeth F. und ihren Kindern ist erschreckend und in seiner Dimension sicherlich einzigartig. Wir wollen uns nicht an der auf schmutzige Details versessenen Berichterstattung der Medien beteiligen. Uns geht es darum, die Ursache bzw. das gesellschaftliche Umfeld, in dem so ein Verbrechen möglich ist, zu untersuchen. Wir möchten darauf hinweisen, dass die systematische Unterdrückung und sexuelle Misshandlung von Frauen leider ein weit verbreitet Bestandteil unserer Gesellschaft ist. Und wir versuchen einige Punkte zur Frage die wohl viele bewegt „wie kann so etwas verhindert werden?“ zu bringen.
Mit Abscheu sehen wir die Versuche der Medien, aus dem Leid der Betroffenen – unter dem Vorwand der „Information“ – Profit zu schlagen. Die Opfer werden zu Gejagten der Presse anstatt ihnen die nötige Ruhe zu gönnen. Zu Recht setzten sich viele AmstettnerInnen gegen diese Zustände zur Wehr. Wir begrüßen die öffentlichen Aktionen der Bevölkerung die von Solidarität und Betroffenheit getragen sind und nicht von Sensationslust. Es gibt den Wunsch zu helfen. Die breite Solidarität mit den Opfern zeigt auch, dass das Gerede von der „Entsolidarisierung der Gesellschaft“ Blödsinn ist. Die Bevölkerung vor Ort hat die Möglichkeit gemeinsam mit KollegInnen aus den Gewerkschaften die sensationsgeilen Medien aus dem Ort zu entfernen um der Familie F. den Weg in die Normalität zu erleichtern.
Im Gegensatz dazu stehen die widerlichen Versuche der Politik, politisches Kleingeld aus dem Fall zu schlagen. Im Mittelpunkt der Sorge von Gusenbauer, ORF &Co. steht „das Image“ Österreichs – und nicht die Opfer.
Der Reflex vieler Menschen „der Verbrecher gehört hart bestraft“ ist absolut verständlich. Tatsächlich gehört Österreich bereits zu den Ländern mit harten Strafen bei Sexualdelikten. Aber härtere Strafen – und das sind die einzigen Forderungen die konkret aufgestellt werden, v.a. von den Law&Order Parteien FPÖ und BZÖ (die sonst für zottige Männersprüche durchaus zu haben sind) – sind offensichtlich ein unzureichendes Mittel, sie hätten dieses Verbrechen nicht verhindert. Denn sie gehen an den gesellschaftlichen Ursachen, die solche Verbrechen verursachen und fördern, völlig vorbei. Das ist aus ihrer Warte auch notwendig, würde doch sonst die „heilige Familie“, die sie stets propagieren, in Frage gestellt werden. Stellen wir uns nur vor, Josef F. würde Mohammad F. heißen und es wäre eine moslemische Familie?! Die Verbrechen würden als „typisch islamisch“ gebranntmarkt werden und für ein Ausdehnen anti-islamischer Hetze missbraucht werden.
Medien und Politik versuchen den Fall als Einzelfall, losgelöst von den hunderttausenden Fällen von Vergewaltigung und Missbrauch die es jährlich gibt, darzustellen. Denn wenn die Ursachen des Verbrechens ausschließlich beim „kriminellen Potential“ eines einzelnen liegen, dann gibt es für die Politik keine Notwendigkeit, gesellschaftliche Missstände aufzugreifen. Aufgrund einiger spektakulärer Fälle und des Drucks v.a. aus der Frauenbewegung sind die Themen Gewalt an Frauen und Kindern zwar in den letzten Jahren an die Öffentlichkeit gebracht worden. Doch die Hilfe für die Opfer sexueller und häuslicher Gewalt ist nach wie vor gering. Tatsächlich wird von den Herrschenden in diesen Bereichen sogar der Rotstift angesetzt. Frauenhäuser müssen um ihre Subventionen fürchten, Sozial- und Fraueneinrichtungen fehlt es an Geld, Infrastruktur und Personal. Den betroffenen ArbeitnehmerInnen (Krankenschwestern, SozialarbeiterInnen, PädagogInnen usw.) fehlt aufgrund von Einsparungen und Überlastung oft die Zeit sich mit der Situation und den Problemen von Betroffen gründlich auseinander zusetzten. Wo oberflächlich alles in Ordnung scheint, muss man sich rasch offensichtlichen Akutfällen zuwenden.
Wie krank ist eine Gesellschaft, die solche Verbrecher hervorbringt?
Zweifellos ist die Tat von Josef F. in ihrem Umfang ein Extremfall und durch nichts zu entschuldigen oder zu rechtfertigen. Aber WAS er getan hat – systematische Vergewaltigung, Kidnapping und Freiheitsberaubung – kommt leider wesentlich öfter vor. Im Folgenden einige Fakten dazu, wie weit verbreitet solche Verbrechen sind:
- Jedes 3./4. Mädchen und jeder 7./8. Junge wird mindestens einmal sexuell missbraucht.
- Die TäterInnen (meist Männer) kommen zu über 90 % aus dem sozialen Nahbereich der Opfer – als Verwandte bzw. Bekannte der Familie.
Hinter verschlossenen Türen werden ständig hunderttausende Frauen und Kinder misshandelt. Obwohl das bekannt ist, wird darüber weitgehend hinweggesehen. Für viele gilt die „g’sunde Watschen“, das zeitweilige Verprügeln und selbst die Vergewaltigung der „eigenen“ Frau immer noch maximal als Kavaliersdelikt. Kinder werden als „Eigentum“ der Eltern gesehen, was sie mit „ihren“ Kindern machen, „geht niemanden was an“.
Die „heilige“ Familie ist heute in vielen Fällen kein sicherer und angenehmer Ort. Das liegt daran, dass sie oft aus Zwang aufrechterhalten wird. Weil „man“ sich nicht scheiden lässt, bzw. einfach weil das Geld für eine Scheidung, bzw. nachher ein eigenständiges Leben, fehlt. Die Familie dient in unserer Gesellschaft dazu, Menschen für den Profit bringenden Produktionsprozess bereitzustellen. Sie sollen „erzeugt“ (Frauen bekommen Kinder), „gewartet“ (durch Nahrung, Kleidung und ein gewisses Maß an Bildung arbeitsfähig machen und erhalten) und „abgerichtet“ werden (sie so zu erziehen, dass sie im Betrieb nicht aufmucken, sich als Rädchen einpassen und funktionieren). Solange die Familie diese Funktion erfüllt wird, kümmert sich der Staat nicht darum, wie es innen aussieht. Eine Familie, die „ihre“ Kinder vom gesellschaftlichen Leben eher abschottet, wird nur dann als problematisch erachtet, wenn sie bestimmte Kriterien der bürgerlichen Gesellschaft nicht erfüllt – hier gelten vorwiegend eher oberflächliche Kriterien wie „ die Kinder haben saubere Kleidung und sind gewaschen“. Die weiblichen Verantwortlichen wie Mutter/Großmutter/Pflegemutter fallen nicht weiter auf, den männlichen Verantwortlichen wird eine gewisse Aggressivität und Dominanz durchaus zugestanden, die häuslichen Verhältnisse scheinen nach außen „normal“ und es gibt keine Beschwerden aus der Nachbarschaft. Sind Kinder „auffällig“, wird die Schuld häufig bei ihnen gesucht, bzw. dies vielleicht noch medikamentös behandelt, anstatt nach den psychischen Ursachen zu suchen.
Die verschiedenen staatlichen Sozialeinrichtungen haben eine Schutzfunktion für Kinder. Aber einerseits scheitern sie oft an ihren finanziellen Ressourcen. Andererseits gelten oft auch für sie die gesellschaftlichen Normen, d.h. solange der Schein nach außen stimmt, wird nicht weiter gegraben. Es wird oft viel auf die Verhältnisse in denen Menschen leben geachtet und weniger auf die Beziehung zwischen den Menschen.
Können solche Verbrechen künftig verhindert werden?
Es geht darum, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass Kinder sich freier und selbstbewusster entwickeln können. Dass es weder finanziellen noch sozialen Druck gibt, gewalttätige Beziehungen aufrecht zu erhalten. Dass Menschen – egal ob Kinder, Frauen oder Beschäftigte – nicht als Eigentum betrachtet werden.
Wir schlagen dafür folgende Punkte vor:
- Ausbau von Umfang und Qualität der Kinderbetreuung: es entspricht dem Entwicklungsbedürfnis von Kinder in einer Gemeinschaft aufzuwachsen, Kontakt zu Gleichaltrigen zu haben. Je mehr verschiedenes ein Kind kennen lernt, um so eher ist es in der Lage, zu erkennen, wenn zuhause etwas falsch läuft. Geschulte Betreuungspersonen die ausreichend Zeit haben erkennen auch leichter, ob ein Kind Opfer von Missbrauch ist.
- Wir wollen starke und selbstbewusste Kinder, die lernen auf die Grenzen des eigenen Körpers zu achten. Dazu gehört eine frühe Sexualerziehung sowie eine Erziehung zur Selbstständigkeit. Ein Kind soll und darf „Nein“ sagen.
- Mehr Geld und mehr Ressourcen für Sozialeinrichtungen und Kinderschutzeinrichtungen. Kinder bleiben teilweise in gewalttätigen Familien, weil die öffentlichen Einrichtungen nicht gut sind. Öffentliche Einrichtungen müssen in Umfang und Qualität so ausgebaut werden, dass sie Kindern als dauerhafte, sichere und angenehme Alternative zur Verfügung stehen.
- Mehr Geld und Ressourcen für Frauenhäuser und Opferschutz.
- Grundlegende Veränderungen sind notwendig, um Frauen ein eigenständiges Leben – unabhängig von einem Gewalttätigen Vater/Partner – zu ermögliche: dazu gehören günstige Wohnungen, ein Mindestlohn von 1100.- netto sowie das Recht auf einen Vollzeitarbeitsplatz.
- Dazu ist eine Kampagne und Aktionen aus den Reihen der ArbeiterInnenbewegung notwendig: der ÖGB ist aufgerufen, sich für Lebens- und Arbeitsbedingungen insbesondere von Jugendlichen und Frauen stark zu machen, die ein selbst bestimmtes, selbstbewusstes und freies Leben ermöglichen.
Gewalt gegen Frauen und Kinder – physische, psychische und sexuelle Gewalt – ist weit verbreitet. Von den Herrschenden und ihrer politischen Vertretung ist außer Sonntagsreden nichts zu erwarten. Sie profitieren letztlich von der Unterdrückung von Frauen und von den Strukturen der patriachalen Kleinfamilie. Daher kommt den Organisationen der ArbeiterInnenbewegung die Aufgabe zu, gemeinsam mit linken Frauenorganisationen, die Gewalt gegen Frauen und Kinder in der Familie zu thematisieren und für ausreichende Mittel im Opferschutz zu kämpfen.
Viele Menschen fragen sich, WIE sie helfen können. Es ist ein Widerspruch wenn einerseits AmstettnerInnen öffentliche Aktionen organisieren und gleichzeitig die SPÖ die Kundgebungen zum 1. Mai absagt. Natürlich hätten eine Maikundgebung angesichts der Ereignisse einen anderen Charakter als sonst haben müssen. Der ÖGB-Amstetten hätte zu einer Großdemonstration aufrufen können, in der mehr Geld für soziale Einrichtungen, für mehr Kinderbetreuungsplätze, für mehr Frauenhäuser und für höhere Löhne gefordert werden. Die Umsetzung dieser Forderungen ist der beste Schutz für die Zukunft.
Sexismus gibt es in verschiedener Form: von sexistischen Witzen über Begrapschen bis zur Vergewaltigung. Keine Form ist ein Kavaliersdelikt, denn wer mit Sexismus aufwächst, hält ihn für „normal“. Daher müssen ArbeiterInnenorganisationen gerade auch in den eigenen Reihen klar gegen jede Form von Sexismus auftreten.
Wir argumentieren nicht für eine stärkere Überwachung – im Gegenteil würde eine solche an den Problemen nichts ändern, sondern eingesetzt werden, um gegen KitikerInnen der herrschenden Politik eingesetzt zu werden. Der „Patriot Act“ in den USA, erlassen in Folge des 11. September, wird z.B. gegen streikende LehrerInnen eingesetzt. Wir argumentieren dafür, die Gesellschaft in der wir leben und die Rolle der Familie in unserer Gesellschaft in Frage zu stellen. Welche Gesellschaft bringt Menschen hervor, die vor allem als Rädchen im Produktionsprozess gesehen werden? Die Taten von Josef F. sind nicht zu rechtfertigen und nicht zu entschuldigen. Selbstverständlich ist niemand – auch Josef F. nicht – einfach nur das willenlose Ergebnis seiner Erziehung bzw. seines Umfelds. Dennoch muss man die Frage stellen: Was hat ihn zu einer solchen Persönlichkeit gemacht, die offensichtlich als „normal“ gegolten hat und doch jemanden „besitzen“ wollte, über den er Macht ausüben konnte? Sich auf einen medizinischen Standpunkt zurückzuziehen greift viel zu kurz. „Nach oben buckeln, nach unten treten“ ist ein wesentliches Prinzip in der kapitalistischen Gesellschaft. Wenn Menschen sich nicht frei entfalten können, ständig unter Druck von oben (am Arbeitsplatz, in der Schule etc.) stehen, wird versucht, diesen Druck nach unten weiter zu geben. Und das findet meist in der Familie statt. Das Profitsystem kann Menschen zu emotionalen Krüppeln machen und in manchen Fällen derart weit führen. Millionen Frauen und Kindern sind hinter der Fassade der „glücklichen Familie“ mit täglicher Gewalt konfrontiert.
Der beste Schutz unserer Kinder ist es daher, ihnen die Möglichkeit zu geben, selbstbewusste Menschen zu werden – und dazu braucht es mehr als eine Kleinfamilie, dazu braucht es eine andere Gesellschaft. Als SozialistInnen treten wir für eine Gesellschaft ein, wo Menschen sich frei und ohne Druck entfalten können, wo das Gemeinsame und die freie Entwicklung jedes/r Einzelnen vor dem Konkurrenzdenken steht. In einer Gesellschaft, in der die Verteilung von Ressourcen demokratisch geplant und organisiert wird gibt es keine soziale Abhängigkeit von einem gewalttätigen Partner/Elternteil mehr und es stehen ausreichend Mittel für wirkliche Sozialarbeit zur Verfügung.
Natürlich ist selbst in einer Gesellschaft, in der die Bedürfnisse von Menschen und nicht Profite im Mittelpunkt stehen, nicht ausgeschlossen, dass es Menschen mit emotionalen und psychischen Störungen gibt. Auch in einer sozialistischen Gesellschaft kann es Verbrechen geben. Aber es wird keine Grundlage für jene Millionen „familiärer Gefängnisse“ geben, in denen heute so viele Menschen misshandelt werden. In einer sozialistischen Gesellschaft werden die gesellschaftlichen Wurzeln für solche Verbrechen beseitigt sein.