Mo 17.01.2011
Stefan Müller: Was ist in den letzten Wochen in Tunesien passiert?
Ahmed Rafiki: Es gab eine große, landesweite Welle der Unmut, die sich in friedlichen Demonstrationen ausgedrückt hat. Doch der Staat hat diese mit seinen Polizeikräften und Aufstandsbekämpfungseinheiten blutig unterdrückt. Es wurden über 100 Tunesier getötet, die meisten davon Jugendliche, Teenager.
S.M.: Was ist der Grund für diesen Unmut?
A.R.: Zuerst schien es eine soziale Frage zu sein. Die Menschen haben für bessere Lebensbedingungen, für Arbeitsplätze, für billigere Waren demonstriert, dann stellte sich aber heraus dass es nicht eine soziale, sondern eine politische Frage ist. Nach 23 Jahren blutiger Unterdrückung von Ben Ali gingen die Leute auf die Straße und forderten seinen Rücktritt. Doch jedes mal, wenn der Präsident eine Rede im Staatsfernsehen hielt, wurde es schlimmer. Zuerst hat er alle Probleme bestritten und sagte, es wäre nur das tragische Schicksal eines einzelnen, der Selbstmord begang indem er sich selbst anzündete. Er sagte sogar „wir werden von den Demonstranten unterdrückt“!
Dann sagte er „OK, ich habe Verständnis für eure Situation, aber ihr solltet wissen, dass die Leute, die demonstrieren, maskierte Banden sind und ein Haufen Terroristen.“ Er nannte also die Studenten, die Leute, die jungen, die Lehrer, die Anwälte und Doktoren und alle, er nannte diese Leute „Terroristen“.
S.M.: Welche Schichten der Gesellschaft beteiligen sich jetzt an den Demonstrationen?
A.R.: Ich komme gerade von einer vierstündigen Demonstration, und die Anwesenden waren im Alter zwischen 7 und 77, es gab Arbeitslose, Anwälte, Doktoren, Mütter und Großmütter, Studenten, und alle, alle haben gegen Ben Ali demonstriert.
S.M.: Was passiert jetzt?
A.R.: Jetzt zeigt sich wie gemein, wie blutig und wie grausam Ben Ali und seine Verbündeten sind. Das sollte ich nicht vergessen: Die Position der französischen Regierung war wirklich feige und billig. Sie haben die Bevölkerung für die Situation beschuldigt, und haben sogar vorgeschlagen mit der französischen Polizei bei der Unterdrückung der Proteste zu helfen.
Das Land ist jetzt in einem Zustand der Angst, die Menschen machen sich Sorgen. Es werden wegen der Ausgangssperre und dem erklärten Ausnahmezustand Hamsterkäufe gemacht. Die Polizei hat heute Demonstrationen in Tunis und im Landesinneren blutig unterdrückt.
Das gefährlichste sind die Banden von unbekannten Leuten, die stehlen, plündern und Häuser anzünden.
S.M.: Heißt das dass die Leute, die man im Fernsehen Molotowcocktails werfen sieht keine Demonstranten sind?
A.R.: Nein nein, das sind richtige Demonstranten, Leute die sich Straßenschlachten mit der Polizei liefern sind Demonstranten, die für ein freies und demokratisches Tunesien und gegen Ben Ali und seine Mafia protestieren. Aber die anderen, die agieren im Zwielicht. Sie stehlen, plündern, zerstören – und jeder weiß wer sie eigentlich sind: Sie sind Milizen der Regierung, die die Menschen terrorisieren sollen.
S.M.: Heute hat Ben Ali die Regierung aufgelöst [zum Zeitpunkt des Interviews hatte er das Land noch nicht verlassen]. Was wird jetzt passieren?
A.R.: Die Zukunft ist ungewiss. Es gibt keine revolutionäre Avantgarde, keine Opposition, es gibt keine klare Alternative, und es gibt keine revolutionäre Alternative. Die Dissidenten leben in Kanada, London, Frankreich. Und das Militär bewegt sich nicht.
S.M.: Was ist die Rolle des Militärs jetzt? Es gibt Aufnahmen von einem Offizier der Armee, der bei einer großen Beerdigung einem Sarg eines Märtyrers salutiert. Das Militär war nicht an der Unterdrückung der Demonstrationen beteiligt, oder?
A.R.: Richtig, das macht alleine die Polizei. Die Armee schützt momentan Postämter, Ministerien, Fernsehstationen und Schlüsselstellen der Stadt.
S.M.: Glaubst du dass die Möglichkeit eines Staatsstreiches besteht?
A.R.: Das weiß Niemand. Möglich ist es. Aber das ist nicht das, was die Leute wollen. Ich bin mir sicher, dass die Menschen das nicht akzeptieren würden. Die Menschen haben so viel geopfert, und sie sind nicht bereit, sich mit falschen Versprechungen abspeisen zu lassen. Sie wollen, dass der Präsident weg ist, und sie werden mit Sicherheit auch keinen Staatsstreich akzeptieren.