Mo 21.10.2019
Der „Waffenstillstand“ den Erdogan und die USA über die Köpfe der Kämpfer*innen von YPG/YPJ hinweg beschlossen haben, ist nichts anderes als Erpressung: Die Bedingungen, die daran geknüpft sind, gleichen einer kompletten Selbstaufgabe Rojavas. Die Folgen davon könnten fatal sein: Wenn die Türkei ihre Ankündigung wahr macht und viele syrische Flüchtlinge – meist arabischer Herkunft – in die kurdischen Gebiete verlegt, wird dort der Boden für ethnische Vertreibungen und Massaker bereitet. Den geschundenen Opfern des Krieges wird eine neue „Heimat“ geboten, von der andere erst vertrieben werden müssen. Das wird die islamistischen Milizen und Gangsterbanden aller Art auf den Plan rufen, die sich bei der Neuaufteilung des Gebietes Einflusszonen und Handelsrouten sichern wollen.
Ob USA oder Assad: Der Kapitalismus wird uns immer verraten
Während der Schlacht um Kobane 2014/15 war die US-Luftunterstützung neben der hohen Motivation und Kampfkraft von YPG/YPJ entscheidend für den Erfolg der kurdischen Einheiten. Es war verständlich, dass diese im Kampf gegen die drohende Gefahr jede Möglichkeit nutzten, auch eine Zusammenarbeit mit dem US-Imperialismus.Dies brachte der kurdischen Bewegung zwar taktische Vorteile, führte gleichzeitig aber in eine strategische Sackgasse. 2014 war der größte Pluspunkt der kurdischen Bewegung ihr Alleinstellungsmerkmal, für ein multi-ethnisches, multi-religiöses, demokratisches Syrien zu kämpfen und auf Gebietsgewinne und Unterdrückung zu verzichten.
Weder regionale Mächte noch die US-Imperialisten oder Putins Russland können wirkliche Verbündete sein. Für den US-Imperialismus ging es nie um ein strategisches Bündnis mit den Kurd*innen, lediglich um eine taktische Maßnahme.
Insofern war klar, dass die YPG/YPJ früher oder später fallen gelassen würde, um übergeordnete und langfristige Interessen zu bedienen. Am Ende werden die Kurd*innen ihre demokratischen Rechte nur im Bündnis mit den Unterdrückten und Ausgebeuteten anderer Nationen erkämpfen können. Die nationalen und religiösen Gräben sind tief. Daher ist eine lange, ausdauernde und sehr schwierige, teils politisch feinfühlige Arbeit nötig, um diese Gräben zu überwinden und eine wahrhaft multi-ethnische Kraft in der Region aufzubauen.
Der gemeinsame Vormarsch der YPG und der US-Truppen auf das sunnitische Raqqa und die Eroberung der Stadt haben nicht dazu beigetragen, bei dieser zentralen strategischen Aufgabe vorwärts zu kommen, sondern haben die kurdische Bewegung zurückgeworfen. Natürlich war eine gewisse Vorneverteidigung Rojavas durch die Eroberung auch arabisch bewohnter Gebiete nötig. Aber Raqqa ist sehr weit „vorne“, weit entfernt von den kurdischen Siedlungsgebieten. Raqqa ist eine eindeutig arabisch-sunnitisch Stadt. Auch dort hat ein Teil der Bevölkerung das Ende der IS-Terrorherrschaft – egal durch wen – begrüßt. Gleichzeitig starben bei der Bombardierung der Stadt viele Zivilist*innen durch US-Bomben. Neue Wunden wurden aufgerissen, neuer Hass gesät.
Ähnlich ist es mit dem Deal mit Assad: Es ist verständlich, dass YPG/YPJ angesichts des drohenden Massenmords jede Hilfe annehmen, die sie bekommen können. Doch das Bündnis mit Assad, dem Henker der Revolution von 2010/2011, wird die Spirale der Gewalt nicht aufhalten - im Gegenteil.
Es besteht die Gefahr, dass YPG und YPJ anders als 2014 nicht als Kraft der Befreiung gesehen werden, sondern als weitere von vielen ethnisch definierten Milizen im syrischen Krieg, die eigene Interessen verfolgen und dafür bereit sind, sich mit Mächten zu verbünden, die Tod und Schrecken über das Land bringen.
Für einen sozialistischen Ausweg
Der strategische gordische Knoten im Mittleren Osten kann nur durchschlagen werden, wenn es gelingt, eine multi-ethnische, sozialistische Bewegung der Unterdrückten aller Länder aufzubauen. YPG/YPJ können dabei eine wichtige Rolle spielen, wegen ihrer geografischen Lage, ihrer sozialistischen Wurzeln und wegen ihrer bisherigen praktischen Politik gegen ethnische Spaltungen und für gleichberechtigte demokratische Selbstregierung. Doch sie brauchen eine bewusste Strategie, um die türkischen, arabischen und persischen Arbeiter*innen und Bauern zu erreichen. Sie brauchten ein Programm, um die Einheit der arbeitenden und unterdrückten Menschen zu befördern.
Sie sollte ihre eigenen Erkenntnisse – die Zentralität der Frauenbefreiung, die ökologische Frage, direkte Demokratie – ernst nehmen, auch jenseits unmittelbar kurdische Gebiete betreffender Fragen. Sie braucht die Klarheit, dass es im Nahen Osten keine Fortschritte auf der Basis des Kapitalismus geben wird, sondern der gemeinsame Klassenkampf über nationale und religiöse Grenzen hinweg der Schlüssel ist, der gemeinsame Kampf für den Sturz sämtlicher Regime, für eine freiwillige sozialistische Föderation des Mittleren Ostens.
Was können wir in Österreich tun?
Es ist großartig, dass es so viele Solidaritäts-Demonstrationen gibt. Doch bis jetzt gelingt es nicht, breitere Schichten der Bevölkerung einzubeziehen - Viele Menschen, die keine Angehörigen in der Region haben, denken oft, dass der Krieg nichts mit ihnen oder Österreich zu tun hat - doch das stimmt nicht!
Österreichische Konzerne profitieren von Erdogans Krieg!
Österreich ist zwar kein NATO-Mitglied - Die österreichischen Waffenkonzerne Steyr und Glock liefern jedoch Pistolen, Maschinengewehre und Drohnenmotoren in die Region. Schon 2016 wurden Steyr-Scharfschützengewehre in kurdischen Gebieten von von türkischen Spezialeinheiten eingesetzt. Rheinmetall und MAN bauen in ihrer Wiener Niederlassung Militärgerät (z.B. LKWs) für Erdogan. Wenn es gelingt, die österreichische Kriegsbeteiligung in den Vordergrund zu rücken, die Verantwortung der Regierung und österreichischer Konzerne, die mit dem Tod in Syrien Profite machen, dürfte das die Basis der Demonstrationen verbreitern. So gab es bereits erste Proteste vor Rheinmetall und MAN - hier sollten noch weitere Aktionen folgen!
Es wäre hilfreich, wenn die sehr aktiven und mutigen kurdischen Organisationen in Österreich die Initiative dazu ergreifen würden, die Bewegung auf dieser Basis zu verbreitern und einen Appell an linke Organisationen, soziale Bewegungen und Gewerkschaften richten würden. Eine zentrale Forderung, für die wir gemeinsam kämpfen sollten, ist die Offenlegung der Bücher aller österreichischen Unternehmen, die mit dem türkischen Staat Geschäfte machen. Wir wollen wissen, wer mit Erdogans Krieg Profite macht, um die Profiteure und den Krieg stoppen zu können!
Internationale Solidarität muss Praxis werden!
Immer wieder kommt es auf Demos zu Provokationen von türkischen Nationalist*innen. Wir müssen bereit sein, uns zu schützen - aber wir müssen auch die Hand zu jenen ausstrecken, die auf die Gehirnwäsche durch Erdogan und seine Vorfeldorganisationen nicht hereinfallen.
In der Türkei hat die HDP in den letzten Jahren den richtigen Schritt gemacht, auf türkische Arbeiter*innen zuzugehen. Sie hat gezeigt, dass sie nicht nur für die Interessen der Kurd*innen kämpft, sondern auch für die türkischen Arbeiter*innen. Wir müssen dasselbe tun: Die große Mehrheit der Menschen mit türkischen Wurzeln, die hier leben, haben mit Erdogan nichts zu tun. Sie haben nichts von dem Krieg. Gleichzeitig haben sie viel mit uns gemeinsam: Auch sie leiden unter Armut, niedrigen Löhnen, hohen Mieten und Rassismus.
Wo bleibt der ÖGB?
Es rächt sich nun, dass der ÖGB - die größte Organisation, welche die Arbeiter*innen hier haben - seit Jahrzehnten keine ernsthaften Schritte unternimmt, um diese gemeinsamen Interessen im gemeinsamen Kampf von Arbeiter*innen jeglicher Herkunft greifbar zu machen. Es ist ein noch größerer Skandal, dass der ÖGB, der über ein internationales Referat verfügt, bis heute zu Erdogans Krieg schweigt.
Es ist die politische Verantwortung des ÖGB, für die Solidarität zwischen allen Arbeiter*innen unabhängig der Herkunft einzutreten. Es ist aber auch seine ganz praktische Verantwortung, zu verhindern, dass Kriegsgerät, Ersatzteile usw. aus Österreich an Erdogan geliefert wird oder durch Österreich transportiert wird. Es ist eine stolze Tradition der Arbeiter*innenbewegung, imperialistische Kriege durch Streiks gegen Waffenlieferungen zu bekämpfen. Hier müssen wir auch heute ansetzen!
Notwendig ist jener Internationalismus mit Arbeitnehmer*innen und allen unterdrückten Menschen, welcher die besten Traditionen der Arbeiter*innen-Bewegung auszeichnet. Viele kurdische Kolleg*innen sind Mitglieder des ÖGB bzw. der Einzelgewerkschaften. Ihre Familien und Freund*innen sind unmittelbar vom Terror-Feldzug des türkischen Militärs betroffen. Dieser Krieg bringt auch den türkischen Arbeitnehmer*innen und Jugendlichen nichts, sondern lenkt nur von der sozialen und wirtschaftlichen Krise in der Türkei ab. In diesem Sinne kann und muss der ÖGB einen Standpunkt gegen Nationalismus und für die größtmögliche Einheit von Arbeitnehmer*innen gleich welcher Nationalität entwickeln und aktiv an seine Mitgliedschaft tragen. Dies muss auch das Recht auf Selbstbestimmung für kurdische und andere Bevölkerungsteile in Nordsyrien, der Türkei, im Nordirak und Iran sowie der europäischen Diaspora beinhalten.
Hier und in anderen westeruopäischen Ländern müssen die Gewerkschaften der heuchlerischen Politik der herrschenden Eliten und Konzernen (Migrations-Deal mit Erdogan, Waffenlieferungen) Widerstand entgegensetzen. Alternativen gegen die Barbarei des 'modernen' Kapitalismus, die sich im Nahen Osten seit Jahren offenbart, sind dringlich. So kann auch gezeigt werden, wer die Schuld an der erzwungenen Flucht und Vertreibung von unzähligen Menschen trägt.
Jede sichtbare Präsenz der Gewerkschaften auf den gegenwärtig stattfindenden Demonstrationen würde überdies die Sicherheit für alle Beteiligten erhöhen, da es regelmäßig Provokationen durch nationalistische anti-kurdische Hetzer*innen gibt.
Es ist gut, dass die Österreichische Gewerkschaftsjugend sich wenigstens im Internet mit Rojava solidarisiert. Doch es braucht mehr. Solidarische Betriebsrät*innen können in ihren Betrieben Betriebsversammlungen organisieren, um über das Thema aufzuklären und Solidarität zu organisieren. Wir müs- sen aufzeigen, dass Erdogan weder den Arbeiter*innen in der Türkei noch hier lebenden Menschen mit türkischen Wurzeln etwas anzubieten hat: Er ist der Feind aller Arbeiter*innen und Armen, ob türkisch, kurdisch, syrisch oder österreichisch - und nur vereint können wir ihn besiegen!
Bleiberecht für alle Flüchtlinge!
Hunderttausende sind bereits auf der Flucht. Millionen stecken als Verhandlungsmasse zwischen Erdogan und der EU unter unmenschlichen Bedinungen in Lagern fest. Wir müssen jetzt beginnen, an der großartigen Solidaritätsbewegung für Flüchtlinge von 2015 anzuknüpfen und für Bleiberecht für alle kämpfen.
Doch das bedeutet auch, aus den Fehlern der vergangenen Bewegung zu lernen. Damals hofften viele auf die Menschlichkeit der Herrschenden - die letzten Jahre haben diese Hoffnungen erschüttert. Wir können uns nicht auf die Gutmütigkeit von Regierungen verlassen. Wir müssen das Bleiberecht erkämpfen, aber auch die Bedingungen, unter denen auch wirklich alle hier ein menschenwürdiges Leben haben können. Es gibt genug Reichtum in diesem Land - wir alle produzieren ihn täglich. Doch er landet in den Händen einer kleinen reichen Minderheit - bei den selben Millionär*innen und Milliardär*innen, die auch mit Erdogan und anderen Diktatoren Geschäfte machen. Dieses Geld müssen durch Proteste und Streiks erkämpfen - für gleiche Rechte, gute Jobs und leistbare Wohnungen für alle, die hier sind und hierher kommen!