Fr 17.11.2017
Bei der Wahl zum Stadtrat im US-amerikanischen Minneapolis hat die Kampagne für Ginger Jentzen am 7. November im 3. Wahlbezirk der Stadt ein historisches Ergebnis eingefahren. Am Wahlabend passte der anfängliche Sechs-Punkte-Vorsprung zu unserem energisch geführten Wahlkampf, der von Anfang an die Themen für den gesamten Wahlkampf gesetzt hatte. Wir haben die Debatte über eine Mietobergrenze zurück auf die Agenda gebracht und von den arbeitenden Menschen breite Unterstützung bekommen. Ein weiterer Grund dafür ist unsere Forderung nach Steuern für die großen Baukonzerne und die Reichen, um darüber angemessenen und bezahlbaren Wohnraum, Bildung und den Nahverkehr finanzieren zu können. Wir haben einen der umfangreichsten Wahlkämpfe geführt, den Minneapolis je erlebt hat. Im Fokus stand einzig und allein die Ansprache an die Basis.
Und während der Wahlkampf von „Socialist Alternative“ starke Saiten anschlug und zu mehr Erststimmen (das Wahlsystem sieht drei Vorzugsstimmen vor, die dann gezählt werden, wenn der/die KandidatIn für den/die die erststimme abgegeben wurde, keine Chance mehr auf den Sieg hat; Anm. d. Übers.) führte als die drei anderen KandidatInnen auf sich vereinen konnten, kam es aufgrund der Auszählung am Folgetag im zweiten und dritten Rang („ranked choice voting“) dazu, dass wir doch noch mit eintausend Stimmen das Nachsehen hatten.
Ergebnis nach dem Prinzip des nach drei Vorzugsstimmen gestaffelten Wahlverfahrens:
1. Vorzugsstimme 2. Vorzugsstimme 3. Vorzugsstimme Endauszählung
Steve Fletcher 2.705 (28,2%) 2.962 (38,2%) 1.338 (24,6%) 4.861 (55,8%)
Ginger Jentzen 3.290 (34,4%) 1.058 (13,7%) 997 (18,3%) 3.844 (44,2%)
Tim Bildsoe 2.550 (26,6%) 1.851 (23,9%) 1.178 (21,6%) -/-
Samantha
Pree-Stinson 1.006 (10,5%) 1.830 (23,6%) 1.780 (32,7 %) -/-
Und dennoch ist dieses Ergebnis ein riesiger Erfolg für sozialistische Politik. Abgesehen von den Wahlkreisen im wohlhabenden Stadtzentrum von Minneapolis haben wir in allen anderen die Nase vorn gehabt. In den Arbeitervierteln entwickelte sich eine starke Dynamik als tausende Menschen durch unsere entschlossenen Forderungen und unseren Ruf nach einer politischen Revolution im Stadtrat motiviert worden sind.
Das hohe Maß an Unterstützung war förmlich greifbar: In nahezu jeder Straße in den Arbeitervierteln des 3. Wahlbezirks waren rot-weiße Wahlkampfplakate mit der Aufschrift „Vote Ginger Jentzen“ zu sehen (in den USA werden diese üblicher Weise in privaten Vorgärten aufgestellt; Anm. d. Übers.). Zwischen den Zeilen stand in großen Buchstaben „Not for Sale“ (dt.: „nicht käuflich“) zu lesen. Dieser Haupt-Slogan, der auch die Wahlkämpfe von Kshama Sawant und Bernie Sanders ausmachte, sollte darauf hinweisen, dass Ginger keine Spenden von Konzernen oder großen Bauunternehmen annehmen würde. Ihr Wahlkampf ist ausschließlich mit den kleinen Einzelspenden der „einfachen“ arbeitenden Menschen finanziert worden.
Trotzdem haben wir damit alle Rekorde gebrochen, die bisher bei Kommunalwahlen in Minneapolis zu verzeichnen waren. Am Ende kamen über 175.000 Dollar zusammen – ohne einen Penny von den Konzernen. Die Einzelspenden beliefen sich im Mittel auf nicht mehr als 25 Dollar!
In den Vierteln rund um die „University of Minnesota“, in denen vor allem Studierende zur Miete wohnen, sorgte unsere Wahlkampagne dafür, dass die Wahlbeteiligung sich verdreifachte und wir in diesem Wahlkreis insgesamt auf über fünfzig Prozent der Stimmen gekommen sind.
Der Wahlkampf war aber auch in hohem Maß polarisiert. In den Gegenden im Stadtzentrum, in denen Luxusappartements und Eigentumswohnungen das Bild beherrschen, konnten die KandidatInnen der DFL („Democratic Farmer Labor Party“; Bezeichnung für die „Demokraten“ im Bundesstaat Minnesota) stark abschneiden. Das ist auf die unterschiedlichen Klasseninteressen zurückzuführen, die dort anzutreffen sind. Ein weiterer Grund ist die verankerung, die die DFL dort hat.
Unser Einfluss und der Widerstand der Konzerne
Der Boden für einen historischen Wahlkampf ist diesen Sommer bereitet worden, als der Stadtrat von Minneapolis gezwungen war, einen Mindestlohn in Höhe von 15 Dollar zu beschließen. Grund dafür war eine Kampagne unter der Führung von Ginger und „Socialist Alternative“, die die Aktionsgruppe „15 Now!“ sowie ein breit aufgestelltes Bündnis aus Gewerkschaften, progressiven Organisationen und AktivistInnen aufgebaut hatten. Dieses Bündnis sorgte für enormen Druck auf die Mehrheit im Stadtrat und auf den Bürgermeister, der bis dato gesagt hatte, dass 15 Dollar zu viel und auf kommunaler Ebene nicht durchsetzbar seien und im Bereich des Unmöglichen liegen würden.
Unsere Wahlkampagne stieß auf den vereinten Widerstand des politischen Establishments, der konzernfreundlichen Medien und führte zu einer mächtigen Finanzspritze der Großkonzerne und profitgeleiteten Baulöwen kurz vor Ende des Wahlkampfes für die Kandidaten des Establishments. Die Chefredaktion der im Besitz von Milliardären befindlichen Zeitung „StarTribune“ fungierte als das Sprachrohr der Konzernchefs von Minneapolis. Schließlich wurde der Leitartikel „Anybody But Ginger“ (dt.: „Alle, nur nicht Ginger“) veröffentlicht, in dem die anderen drei KandidatInnen zur Wahl empfohlen wurden: Steve Fletcher und Tim Bildsoe, die Kandidaten des Establishments von der DFL, aber auch Samantha Pree-Stinson von der „Green Party“.
Dabei waren es die Anstrengungen, die die Spendenkomitees der Konzerne unternommen haben, um die Wahlen zu kaufen, über die die Angst des Polit-Establishments am stärksten zum Ausdruck kam. Kein Wunder, war unsere Wahlkampagne doch voll und ganz auf die Arbeiterklasse ausgerichtet. Das gilt auch für die linken KandidatInnen, die in einer Reihe weiterer Wahlkämpfe gegen ihre KontrahentInnen aus dem Establishment angetreten sind. Die Großkonzerne hatten begriffen, dass diese Herausforderung von links, an der auch einige von der Organisation „Our Revolution“ unterstützte KandidatInnen wie der Bürgermeister-Kandidat Ray Dehn beteiligt waren, um jeden Preis bekämpft werden musste.
Es kann jedoch kein Zweifel daran bestehen, dass die großen Konzerne am meisten Angst vor unserer unabhängigen sozialistischen Kampagne hatten. Der millionenschwere Baulöwe Steve Minn und sein Spendenkomitee namens „Minneapolis Works“ hatten sich Mitte Oktober in ihrem „Aufruf zum Handeln“ auf Ginger eingeschossen. Darin hieß es: „Wenn Sie gedacht haben, dass es für eine bekennende Sozialistin unmöglich sei, auf der Basis von Mietobergrenze und der Forderung nach Einführung einer kommunalen Einkommenssteuer zu kandidieren […] dann beschäftigen Sie sich mal mit – Ginger Jentzen“. Man warnte davor, dass sie im 3. Wahlbezirk zu den „führenden KandidatInnen“ gehöre. Rasch kam es dazu, dass Konzerngelder flossen, um den Wahlkampf zu beeinflussen. In den letzten Wochen des Wahlkampfs sind noch Wahlkampfflyer von sechs Spendenkomitees in diesem Wahlbezirk in Umlauf gebracht worden, die allesamt Tim Bildsoe unterstützten. Unterdessen wurde Ginger in drei weiteren Wahlbroschüren als „durchgedreht“ bezeichnet, weil sie die Superreichen und Großkonzerne besteuern will und sich für eine Mietobergrenze ausspricht. Zum Schluss wurde dann noch die infame Lüge verbreitet, sie wolle die Einführung „neuer Steuern für arbeitende Familien“.
Über Seattle hinaus …
Dass unsere Wahlkampagne zu einem derart starken Ergebnis führen konnte, hat gezeigt, dass es sich in puncto Unterstützung für unabhängige SozialistInnen bei Seattle – wo Kshama Sawant in den Stadtrat gewählt wurde – in keinster Weise um eine Ausnahme gehandelt hat. Wie „Socialist Alternative“ schon früher erklärt hat, ist überall im Land ein Verlangen nach entschlossener Politik von der / für die Arbeiterklasse vorhanden. Auch wenn wir wissen, dass sich viele derer, die für uns gestimmt haben, nicht als „SozialistInnen“ bezeichnen, so ist die „Marke Sozialismus“ für die „einfachen“ Leute dennoch kein Hindernis mehr. Angesichts eines zunehmenden Interesses an sozialistischen Ideen ist Ginger ganz offen als Sozialistin angetreten. Das half tatsächlich dabei, etlicher junge Leute und Menschen aus der Arbeiterklasse in die Kampagne einzubeziehen, die im Präsidentschaftswahlkampf bereits Bernie Sanders unterstützt hatten.
Irgendwann nahm die ganze Kampagne eine Art landesweiten linken Charakter an und fand Aufmerksamkeit in verschiedenen bekannten Medien wie etwa dem Magazin „The Nation“, auf der Nachrichtenseite „The Intercept“ und im Medien-Netzwerk „The Young Turks“. Ginger stand auf der Titelseite des Stadtmagazins „City Pages“ und fand Anerkennung in einer ganzen Reihe von Geschichten, die im Lokalblatt, der „StarTribune“, erschienen sind.
Mehrere bedeutende linke Gewerkschaften haben eine Wahlempfehlung für uns abgegeben. Darunter waren zum Beispiel die „Minneapolis Nurses Association“, die „Communication Workers of America MN Council“ und die „United Transportation Union“, die 2016 schon zur Wahl von Sanders aufgerufen hatten. Auf kommunaler aber auch auf bundesweiter Ebene hatte sich die Partei „Democratic Socialists of America“ für die Wahl von Ginger ausgesprochen. Dasselbe hat auch die Ortsgruppe von „Our Revolution“ getan. Zu den prominenten Einzelpersonen, die eine Wahlempfehlung für Ginger abgegeben haben, zählen Dr. Cornel West und der Wahlkampf-Manager von Ray Dehn, der linke Demokrat Joelle Stangler. Hinzu kamen verschiedene weitere örtliche VertreterInnen der Linken, die in der Demokratischen Partei aktiv sind.
Die Kampagne und das Bündnis, die von uns ins Leben gerufen worden sind, werden hilfreich sein, den Grundstein für einen Kampf zum Ausbau des Nahverkehrs und die Einführung einer Mietobergrenze in Minneapolis zu legen. Dieser Kampf wird in den nächsten Monaten geführt. Die Beschäftigten der Verkehrsbetriebe werden in Kürze – mit Ryan Timlin, der Mitglied von „Socialist Alternative“ und seit Neuestem Vorsitzender der örtlichen Gewerkschaft ist – in Tarifauseinandersetzungen einsteigen. Beschäftigte aus dem gesamten Stadtgebiet von Minneapolis werden sich daran beteiligen. Gingers Wahlkampagne zeigt, dass es breite Zustimmung in der Bevölkerung für die Forderung nach einer Mietobergrenze gibt. Daran können wir ansetzen, wenn es um die Mobilisierung für den Kampf gegen die großen Baumagnaten und deren Versuche geht, Minneapolis zu einer Spielwiese für die Reichen zu machen.
Das Establishment schlägt zurück
Das Establishment von Minneapolis hat sich das „ranked choice“-Wahlverfahren zunutze gemacht, um sich gegen unsere unabhängige sozialistische Wahlkampagne in Stellung zu bringen. Als Mitte August klar wurde, dass der Wahlkampf von Fletcher nicht wirklich abhob, führte dies mit Tim Bildsoe zur Aufstellung eines weiteren Kandidaten.
Die anderen KandidatInnen haben dann über die Zweit- und die Drittstimme zu den Gesamtstimmen geführt, die nötig waren, um den Sieg der DFL und Steve Fletchers sicherzustellen. In dieses Gefüge ist auch Samantha Pree-Stinson von der „Green Party“ mit einzubeziehen. Es zeigt sich daran nicht nur, dass es sich beim „ranked choice voting“ (RCV) nicht um ein Patentrezept handelt. Vielmehr wird deutlich, dass dieses Wahlsystem vom Establishment auch als Werkzeug eingesetzt werden kann, um unabhängige Wahlkampagnen ins Visier zu nehmen. Der gesamte Wahlkampf hätte natürlich ohne RCV eine ganz andere Dynamik bekommen. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass das „Argument vom kleineren Übel“ gegen unsere Kandidatin ins Feld geführt worden ist, um die Wählerschaft für Steve Fletcher zu gewinnen. Es wurde das Bild gezeichnet, dass eine Stimme für Fletcher helfen würde, um den noch konservativeren Tim Bildsoe zu verhindern, der ebenfalls auf dem Ticket der „Demokraten“ angetreten ist, nachdem er 16 Jahre lang als „Republikaner“ Mitglied der Stadtrats in einem Vorort gewesen war.
Als Rückschlag für unabhängig geführte Wahlkämpfe muss der Umstand gewertet werden, dass die Kampagne von Ginger Jentzen am offensten und heftigsten ausgerechnet von der Kandidatin der Grünen Partei, Samantha Pree-Stinson, angegriffen worden ist. Vormals war Pree-Stinson Teil des Polit-Establishments der Demokraten, die Parteiausschüsse geleitet hat und aktiv daran beteiligt war, über Jahre hinweg die Demokratische Partei aufzubauen. Aufgehört hat sie mit diesen Tätigkeiten erst zu Beginn dieses Jahres, als sie sich um Unterstützung von der Grünen Partei bemühte. Obwohl ihr Wahlkampf ganz offensichtlich rechts vom Demokraten Steve Fletcher anzusiedeln war, ist sie von den Grünen unterstützt und gepusht worden. Von ihr kamen Äußerungen, mit denen sie sich gegen den 15-Dollar-Mindestlohn aussprach, und sie hat unsere Wahlkampagne dafür angegriffen, dass wir zur Unterstützung für die Bürgerrechtsbewegung „Black Lives Matter“, des Krankenkassen-Systems „Medicare for All“ und die Initiative „No Ban, No Wall, No Raids“, das gegen den Mauerbau an der mexikanischen Grenze ist, aufgerufen haben. Sie selbst hat die Idee von der Mietobergrenze ebenso wenig unterstützt wie die Forderung nach einer Reichen-Steuer. Bedauerlicherweise hat sich die Bundesleitung der Grünen uneingeschränkt für den Wahlkampf von Pree-Stinson stark gemacht, obwohl es mehrere Aufrufe der Mitglieder von „Socialist Alternative“ gab, man möge die eigene Wählerschaft zur Abgabe der Zweitstimme für Ginger aufrufen.
Bundesweit sind viele KandidatInnen gewählt worden, die von „Our Revolution“ und/oder den „Democratic Socialists of America“ unterstützt worden sind. Das ist eine äußerst positive Entwicklung. Es wird aber gleichzeitig auch ein Test sein, ob die neuen FunktionsträgerInnen dem Druck der Konzerne und der großen Bauunternehmen aber auch von Seiten der Demokratischen Partei und des gesamten Polit-Establishments werden standhalten können. Alle genannten Instanzen werden sie zu zwingen versuchen, ihre Politik abzumildern. In Seattle haben wir gezeigt, wie nur eine ins Amt gewählte Stadträtin die politische Landschaft im Sinne der sozialistischen Bewegung verändern kann, wenn es eine Verbindung zwischen ihr, einem klaren politischen Programm, der Mobilisierung arbeitender Menschen von unten und dem Aufbau einer unabhängigen Organisation gibt.
Die Kommunalwahlen in Minneapolis haben genau an dem Tag stattgefunden, an dem es in Russland vor hundert Jahren zur Oktoberrevolution gekommen ist. Damals haben die arbeitenden Menschen die Macht übernommen und sie zum ersten Mal in der Geschichte auch verteidigen können. Sie haben bis dato nicht gekannte Errungenschaften für die Beschäftigten, Bäuerinnen, Bauern, Mitglieder der LGBTQ-Community, Frauen und unterdrückten Nationalitäten gebracht. Auch wenn viele dieser Errungenschaften wieder verloren gegangen sind, nachdem Stalin an die Macht gekommen ist, der es bis an die Spitze einer grotesken Bürokratie schaffte, sind der historische Sieg der russischen Arbeiterklasse im Jahr 1917 und die Lehren, die aus dieser Revolution zu ziehen sind, heute von größerer Bedeutung denn je.
Wenn die politisch bewusstesten ArbeiterInnen und jungen Leute dieser Welt die Bedeutung der Russischen Revolution diskutieren, dann werden einige von ihnen in den nächsten Tagen auch von der unglaublichen Kampagne von Ginger und „Socialist Alternative“ hören, die wir in Minneapolis verfolgt haben. Die Ideen und Erfahrungen des Oktober und des echten Marxismus leben fort, weil sie für den Kampf für eine Welt von zentraler Bedeutung sind, die auf Solidarität und wirklicher Demokratie basiert und in der es weder Armut, Rassismus, die Unterdrückung nationaler Minderheiten und Sexismus gibt noch Umweltzerstörung. Eine neue Generation von Beschäftigten verliert zunehmend den Glauben an das bankrotte System des Kapitalismus und hält Ausschau nach einer Alternative.
Der Sozialismus befindet sich weiter auf dem Vormarsch.