Do 13.04.2017
Während die Präsidentschaftswahlen in Frankreich immer näher rücken, ist der Wahlausgang immer schwieriger vorherzusagen. Über 40 Prozent der Wahlberechtigten sind immer noch unentschlossen, wen sie wählen oder ob sie sich überhaupt an der Wahl beteiligen sollen. Eine tiefe Unzufriedenheit mit der bestehenden Ordnung drückt sich darin aus, dass die Zustimmungsraten für linke und sozialistische KandidatInnen in den letzten Tagen drastisch zugenommen haben. Sie treten gegen jene KandidatInnen an, die an der Spitze der Gesellschaft stehen, ihr Leben im Luxus verbringen und dem Rest der Bevölkerung noch erzählen, dass man sich „mehr anstrengen“ soll.
Am stärksten hat bislang Jean-Luc Mélenchon von der Bewegung „France Insoumise“ („Das aufständische Frankreich“) hinzugewonnen. Mit seinem starken, gegen die Austerität und ihre Folgen gerichteten Wahlkampf haben sich seine Umfragewerte verdoppelt. Auch seine persönlichen Zustimmungswerte haben sich in den letzten beiden Märzwochen mehr als verdoppelt: von 19 Prozent auf nun 47 Prozent. Im Vergleich dazu kämpft Benoit Hamon einen aussichtslosen Kampf. Er ist der offizielle Kandidat der sozialdemokratischen, regierenden und sich selbst als „sozialistisch“ bezeichnenden „Parti Socialiste“ (PS), die seit Jahren an der Regierung beteiligt ist und einen unbeliebten und konzernfreundlichen Kurs gefahren hat.
Der französische Kapitalismus mit all seinen FürsprecherInnen und VertreterInnen hat keine Alternative zur Stagnation, der Erwerbslosigkeit oder den Kürzungen der Sozialleistungen mehr zu bieten. Stattdessen regiert und agiert die Regierung zunehmend autoritär. Die Attacke mit einem Mehlbeutel auf Francois Fillon, den Kandidaten der konservativen Partei „Les Républicains“, in Straßburg am vergangenen Donnerstag ist nur ein Hinweis auf die Frustration und die Missachtung gegen diejenigen, die für das Establishment stehen.
Am 4. April hat das zweite Fernsehduell dieses Wahlkampfes, an dem alle elf KandidatInnen teilgenommen haben, die Karten auf ziemlich drastische Weise neu gemischt. Indem er sich auf beeindruckende Weise dafür stark machte, den Bankiers und Großkonzernen Reichtum und Macht wegzunehmen, konnte Mélenchon seine Beliebtheitswerte weiter ausbauen. Philippe Poutou, der Kandidat der „Neuen Antikapitalistischen Partei“ (NPA), ist Sohn eines Briefträgers und einer Hausfrau und selbst Fabrikarbeiter bei Ford. Er sorgte für wahre Aufregung, als er die anderen, wohl behüteten und korrupten PolitikerInnen anging. Sie würden sich die Taschen mit öffentlichen Geldern füllen, vor allem Francois Fillon und Marine Le Pen. Ferner sprach er vom völlig anderen Leben, das man führt, wenn man von einem Arbeitnehmerlohn leben muss und keine Immunität bei Strafverfolgung genießt.
Es sind noch zwei Wochen bis zum ersten Wahlgang am 23. April und Mélenchon werden aktuell 17 Prozent der Stimmen vorausgesagt. Fillon kommt demgegenüber auf 19 Prozent und könnte von Mélenchon noch überholt werden. Eine nach dem TV-Duell durchgeführte Umfrage ergab, dass Mélenchon 25 Prozent der sechs Millionen Menschen, die das Duell am Bildschirm verfolgt haben, überzeugt hat, ihm ihre Stimme zu geben. Im Vergleich dazu kommt die bisher auf Platz eins aller Umfragen liegende und für die extreme Rechte antretende Marine Le Pen auf lediglich elf Prozent Zustimmung unter den ZuschauerInnen.
Der Wahlkampf von Mélenchon, der Massenkundgebungen abhält und innovativ Gebrauch von den modernen Medien macht, verleiht der Wut der ArbeiterInnen und der jungen Leute in Frankreich eine Stimme gegen die verhätschelte, betrügerische Elite, die im Luxus lebt, während die Bevölkerungsmehrheit mit Austerität und Erwerbslosigkeit konfrontiert ist. Die britische Zeitung „The Daily Telegraph“ schreibt dazu am 6. April: „Die Parti Socialiste liegt auf dem Sterbebett und kann sich nicht mehr auf ihre alte Basis, die Arbeiterklasse, verlassen […] nach ihrem Bekenntnis zur keynesianistischen Reflation und einem Kahlschlag bei den Arbeitsplätzen“. (Dies erinnert an das, was mit der Regierung Mitterand von 1981 geschah, die bei ihrem Amtsantritt ernste Angriffe auf die Banken und Großkonzerne ausführte, nur um am Ende wieder ganz nach deren Pfeife zu tanzen.) Die Erwerbslosigkeit, von der 4,5 Millionen Menschen betroffen sind, liegt doppelt so hoch wie in anderen großen Staaten Europas. Bei den jungen Leuten liegt sie sogar bei 25 Prozent.
Ende März ist Hamon, der offizielle Kandidat der regierenden Sozialdemokraten von der „Parti Socialiste“, dann von seinem linken Kontrahenten Jean-Luc Mélenchon überholt worden. Dies geschah, nachdem die beiden hinsichtlich eines gemeinsamen Wahlkampfes zu keiner Einigung gekommen waren. 2008 hatte Mélenchon sein Mandat als Abgeordneter der PS niedergelegt und die Partei nach 35 Jahren Mitgliedschaft verlassen. Als Grund gab er den konzernfreundlichen Kurs der sozialdemokratischen „Parti Socialiste“ an. 2012 kandidierte er bei den Präsidentschaftswahlen und kam in der ersten Runde auf elf Prozent.
In den letzten Jahren hat Mélenchon versucht, zusammen mit der „Kommunistischen Partei Frankreichs“ (KPF), UmweltaktivistInnen und anderen Kräften eine „Linke Front“ zu formieren. Ein Hindernis dabei waren jedoch die Bündnisse der KPF, die diese auf kommunaler wie auch auf Landesebene mit der PS eingegangen ist. Mélenchon selbst ist unter ArbeiterInnen zwar beliebt und hat seine Wahlkampagne schon früh gestartet. Langsam war er hingegen, als es darum ging, eine reelle Alternative zu organisieren. Weder seine eigene „Partei der Linken“ („Parti de Gauche“) noch seine Bewegung „Das aufständische Frankreich“ hatten effektive Strukturen in Form von Ortsgruppen oder regelmäßigen Treffen vorzuweisen, in deren Rahmen über politische Ausrichtung, Aktionen und KandidatInnen hätte entschieden werden können.
Doch die Anziehungskraft, die dieser 65-Jährige mit seinen Reden von „einer Revolution der BürgerInnen“ erzielen konnte, hat dazu geführt, dass seine Organisation auf 300.000 Mitglieder angewachsen ist. Auf „YouTube“ hat er 260.000 AbonnentInnen (mehr als alle anderen KandidatInnen zusammen), und er schafft es, dass zehntausende von Menschen zu seinen Veranstaltungen pilgern. Dabei scheint es ganz egal zu sein, ob er persönlich oder nur als Hologramm auftritt! Am 19. Februar, dem Jahrestag der „Pariser Commune“ des Jahres 1871, beteiligten sich bis zu 110.000 Menschen, um mit ihm zusammen in Richtung Bastille zu marschieren.
Zehntausende Menschen sind zusammengekommen, um zu hören was er zur aktuellen Tagespolitik zu sagen hat. Das sind mehr Menschen als die anderen linken oder rechten KandidatInnen bei ihren Veranstaltungen zusammenbringen. Selbst Marine Le Pen, die einzige Kandidatin, von der bislang sicher angenommen wird, dass sie es in die zweite Runde schaffen wird, erfährt nicht so viel Zuspruch.
Das Programm von Mélenchon umfasst die Anhebung des Mindestlohns um 15 Prozent, eine Verringerung der Wochenarbeitszeit auf 32 Stunden, sechswöchigen bezahlten Urlaub, die Herabsetzung des Renteneintrittsalters auf 60 Jahre und eine starke Steuerprogression, die bei Personen mit mehr als dem 20-Fachen des Durchschnittseinkommens bis auf 100 Prozent steigt. Er betrachtet die EU als „neoliberalen“ Block, da sie eine entsprechende Politik betreibt, und macht sich für einen Austritt aus der NATO stark. Obwohl er früher einmal Trotzkist war, spricht Mélenchon nicht (wie das CWI) von einem alternativen sozialistischen Europa. Er geht auch nicht so weit, sich für grundlegende Maßnahmen einzusetzen, die nötig sind, um mit den multinationalen Konzernen, den Banken und den Anteileignern ins Gericht zu gehen. Die Verstaatlichung der Banken und Monopole oder eine demokratisch-sozialistische Wirtschaftsplanung stehen nicht auf seiner Agenda. Doch seine Ideen und sein Enthusiasmus sind zweifellos der Grund für seine Popularität.
In einer aktuellen Meinungsumfrage wird Mélenchon als der Politiker bezeichnet, den sich die FranzösInnen am meisten wünschen, um „in Zukunft eine wichtige Rolle zu spielen“. Damit liegt er noch vor Emmanuel Macron und weit vor Marine Le Pen. Mit Ergebnissen von rund 25 Prozent werden beide bis dato am ehesten als die bezeichnet, die eine Chance haben, in die zweite Runde der Präsidentschaftswahl zu kommen.
Die bisherigen Regierungsparteien der französischen Rechten und „Linken“ sind so sehr in Verruf geraten, dass es möglich ist, dass ihre Kandidaten nicht in die zweite Runde kommen und somit weder die konservative Partei „Les Républicains“ noch die PS den künftigen Präsidenten stellen wird. Das wäre das erste Mal seit Gründung der Fünften Republik durch Präsident De Gaulle im Jahre 1958. Die Implosion und der Bruch innerhalb der alten sozialdemokratischen Partei PS ist bereits in vollem Gange. Dazu ist es schon einmal (in der Nachkriegszeit) gekommen und es kann durchaus wieder geschehen. Aber auch bei der gaullistischen Rechten sind Zersetzungserscheinungen möglich. Die Internetseite des „National Review“ meint, dass „viele WählerInnen in der Stimmung sind, alles niederzureißen“. Dieser Gärungsprozess kann neue Möglichkeiten eröffnen, um den Aufbau einer wirklich sozialistischen Linken voranzutreiben.
Hintergrund
Im Frühjahr 2016 war Frankreich von einer Welle an Streiks und Massendemonstrationen erschüttert. Im April dieses Jahres befindet sich das Land nun in heller Aufregung, was die politische Ebene angeht. Hinter der Unbeständigkeit und Unvorhersehbarkeit der weiteren Entwicklungen steht eine angespannte soziale Lage.
Der Ausnahmezustand, der nach den schrecklichen Terroranschlägen verhängt worden war, ist weiterhin in Kraft. Zeitweilig geht damit eine provozierend starke Polizeipräsenz auf den Straßen einher. Im März folgten neue Unruhen in den sozial benachteiligten Vororten von Paris und andernorts. Was die oft nur kleinen aber erbittert geführten Streiks angeht, kommt das Land nicht zur Ruhe. Die Beschäftigten reagieren damit auf Attacken, die sich gegen Löhne und Arbeitsbedingungen richten, aber auch gegen Kürzungen im öffentlichen Dienst oder das selbstherrliche Vorgehen privilegierter Arbeitgeber. Und gegenwärtig erlebt Frankreich „ein Freudenfeuer der Eliten“, so die Beschreibung des Wirtschaftsmagazins „The Economist“.
Vor der ersten Wahlrunde scheint Marine Le Pen, die Kandidatin der extremen Rechten, sicher zu sein, auch die zweite Runde zu erreichen, die am 7. Mai stattfinden wird. Die meisten Umfragen deuten allerdings darauf hin, dass sie in diesem Fall nicht so viele Stimmen bekommen wird wie ihr Gegner – unabhängig davon, wer dann noch gegen sie im Rennen ist. Momentan ist unwahrscheinlich, dass dieser Kontrahent aus dem Lager der „traditionellen“ Linken oder von Seiten der rechts-konservativen Parteien kommen wird. Man geht davon aus, dass der „unabhängige“ Kandidat Emanuel Macron von den desillusionierten WählerInnen aus beiden Lagern profitieren wird. Was am Ende dieses turbulenten Wahlkampfs herauskommen wird, ist jedenfalls alles andere als ausgemacht. Natalie Nougayrede schrieb vor einem Monat in der britischen Zeitung „The Guardian“: „Eine niedrige Wahlbeteiligung verbunden mit einer zunehmenden politischen Polarisierung, weiteren Skandalen oder – noch schlimmer – gar mit Gewaltausbrüchen könnten dazu führen, dass Le Pen am Ende gewinnt.“
Die Märkte haben bereits damit begonnen auszurechnen, was ein Wahlsieg von Le Pen kosten würde. Zu ihren vielen ausländerfeindlichen, gegen Muslimas und Musleme, die EU und die Globalisierung gerichteten politischen Statements zählt auch ihr Bekenntnis, ein Referendum über die EU durchführen zu wollen. Damit will sie Kapital schlagen aus der ablehnenden öffentlichen Meinung gegenüber der neoliberalen Politik. Sie sagt, dass der Euro als Waffe gegen Länder wie Griechenland eingesetzt worden ist, um diese zur Umsetzung von Austeritätsprogrammen zu zwingen. Le Pen tritt dafür ein, den Euro zugunsten des Franc fallen zu lassen und eine Parallelwährung wie den ECU, den es in der Vergangenheit schon einmal gab, einzuführen. Dabei ist es keineswegs so, dass alle FN-WählerInnen diese Politik unterstützen. Schätzungen zu Folge sind sechzig Prozent dafür, und nur ein Fünftel aller Wahlberechtigten findet diese Vorschläge gut.
In der „Financial Times“ vom 21. März geht der Wirtschaftsjournalist Patrick Jenkins davon aus, dass ein Austritt Frankreichs aus dem Euro so gut wie sicher das Ende von Europas gemeinsamer Währung bedeuten würde. Er nennt Zahlen des Forschungsinstituts „Autonomous“, wonach den Banken Kosten in Höhe von 820 Milliarden US-Dollar entstehen würden. Das „entspräche ziemlich genau den Verlusten, die im Zuge der Sub-Prime-Krise 2008 in den USA gemacht worden sind“. Es käme demnach zu „einem erneuten Lehman-Effekt“ […] der eine weltweite Rezession so gut wie unausweichlich machen würde.“ Im selben Artikel wird zwar auch darauf verwiesen, dass ein Wahlerfolg von Le Pen unwahrscheinlich ist. Am Ende wird hingegen festgestellt, dass „traditionelle Meinungsumfragen heute kaum noch Relevanz haben.“ Und: „Als clever könnte sich am Ende erweisen, wer sich auf alle Eventualitäten vorbereitet hat.“
Le Pen hat sich oft damit gebrüstet, dass eine Stimme für sie eine Stimme gegen das Establishment sei. Damit nimmt sie Bezug auf die „überraschenden“ Wahlentscheide zum Brexit in Großbritannien und für Trump in den USA, die sie beide freudig begrüßt hat. (In der Öffentlichkeit vermittelt sie nicht den Eindruck, als habe das entgegen allen Erwartungen schlechte Abschneiden ihres rechtsextremen Kameraden Geert Wilders in den Niederlanden ihren Optimismus trüben können.) Sie vermittelt den Anschein, eher für die nationalen Interessen Frankreichs zu stehen als für die globalen, eher die französischen ArbeiterInnen zu unterstützen als die MigrantInnen und eher die kleinen Unternehmen als die abgehobene bürgerliche Elite des Landes.
Ihre Politik ist nicht offen faschistisch. Sie hat aber im Inland wie im Ausland Unterstützer, die ganz und gar zur Reaktion zu zählen sind. Mit ihrem Besuch bei Putin in Moskau hat sie gerade erst einem der rechtesten Politiker ihre Aufwartung gemacht und dabei zugesagt, sich für die Aufhebung der Sanktionen einzusetzen, die wegen des Krieges in der Ukraine und der Übernahme der Krim verhängt worden sind. (Das ist übrigens ein Punkt, den sie mit dem Kandidaten der konservativen Rechten, Francois Fillon, gemein hat).
Marine Le Pen hat einige der schlimmsten Eigenschaften abgelegt, die dem alten „Front National“ anhafteten. Das gilt selbst für den Namen der Partei. Im Wahlkampf tritt sie nur noch als „Marine“ auf und behauptet, „im Namen des Volkes“ zu kämpfen. Demgegenüber positioniert sich Marion Marechal-Le Pen, ihre Nichte und FN-Abgeordnete für das Département Vaucluse, entschieden gegen das Recht auf Abtreibung. Sie ist praktizierende Katholikin und übernimmt die Rolle des „Werkzeugs, mit dem man die Hardliner bei der Stange hält.“ („Financial Times“, 1. April 2017) Marine hat ihren eigenen think-tank eingerichtet, den sie „Die Horazier“ nennt. Dieser hat Pläne zur Übernahme sämtlicher Wahlbezirke ausgearbeitet, wozu auch eine Debatte gehört, welchen Armeeoffizieren man im Fall der Wahl von Le Pen zur Präsidentin und der Verkündung des Kriegsrechts trauen kann!
Die „Parti Socialiste“
Viele KandidatInnen, die in der ersten Wahlrunde eigentlich gegen Le Pen angetreten wären, haben sich bereits wieder zurückgezogen. Der derzeitige Präsident Francois Hollande hat sich noch nicht einmal bemüht, erneut anzutreten. Er hat von seinem Recht, ein weiteres Mal kandidieren zu können, gar nicht erst Gebrauch gemacht. Auch das ist in der Geschichte der Fünften Republik beispiellos. Seine Entscheidung kann niemanden überraschen. Schließlich kam er im Laufe seiner Amtszeit auf beispiellos schlechte Umfragewerte – einmal gar auf schmachvolle vier Prozent Zustimmung.
Auch die Partei von Hollande, die sogenannte „Parti Socialiste“, die in den letzten fünf Jahren an der Macht war, ist überaus unbeliebt. Sie läuft Gefahr, auseinander zu brechen und von der politischen Bildfläche zu verschwinden. Der Präsident und die Regierung haben in einer Zeitspanne die Amtsgeschäfte geführt, in der ein Wachstum verzeichnet wurde, das sich im Durchschnitt auf ein Prozent beziffern lässt. In dieser Zeit verringerte sich Anzahl an sicheren Arbeitsplätzen für junge Leute und es kam zu enormer sozialer Unzufriedenheit. Das ist das direkte Ergebnis ihrer neoliberalen und in hohem Maße konzernfreundlichen Politik. „Die politische Klasse ist gespalten und ihre Angst vor der Straße ist förmlich spürbar“, so Tony Barber in der „Financial Times“.
Nach der Massenbewegung gegen die „Reform“ des Arbeitsrechts im vergangenen Jahr sind führende Köpfe der Partei, die darauf gehofft hatten, von der PS zum Präsidentschaftskandidaten nominiert zu werden, zu Gunsten des linkesten aller KandidatInnen abgestraft worden. Zu den Verlierern der PS-Vorwahlen zählte auch der ehemalige Premierminister Manuel Valls. Stattdessen wurde Benoit Hamon gekürt, der für kurze Zeit das Amt des Bildungsministers in der aktuellen Regierung inne hatte. Sein Programm greift zumindest die alltäglichen Probleme der arbeitenden und jungen Menschen auf, was die Sorge um den Arbeitsplatz, Löhne und Sozialausgaben angeht. Er spricht von Steuererhöhungen für Großkonzerne, die Arbeitsplätze durch Maschinen ersetzen (vgl.: http://www.socialistworld.net/doc/7876).
Macron
Nur wenige Tage später verkündete einer der zurückgewiesenen Kandidaten, der bisherige Premierminister Manuel Valls, dass er die PS nicht im Wahlkampf unterstützen werde. Stattdessen wolle er zur Wahl seines alten „Weggefährten“ Emanuel Macron aufrufen, der als „unabhängiger“ Kandidat ins Rennen um das Präsidentenamt geht. Macron hat sich in einem Rechtsruck vor nicht einmal einem Jahr von der PS verabschiedet, um seine eigene Partei namens „En Marche!“ („Vorwärts!“) zu gründen. Unterdessen erklären immer mehr „Sozialisten“ ihre Unterstützung für ihn. Darunter ist auch der ehemalige Bürgermeister von Paris und der amtierende Bürgermeister von Lyon.
Emanuel Macron, der aus dem Bankensektor (Bankhaus Rothschild) kommt, steht für eine Senkung der Unternehmenssteuer um 25 Prozent. Mit 39 Jahren ist er der jüngste aller KandidatInnen, durch und durch als Vertreter des Neoliberalismus zu bezeichnen und ein zuverlässiger Fürsprecher der EU und ihrer Institutionen. Bei Wahlen ist er zuvor noch nie angetreten, von Hollande jedoch zum Wirtschaftsminister ernannt worden, um ein umfangreiches Kürzungsprogramm durchzusetzen. Im „Wirtschaftsprogramm“ seiner neuen Partei spricht er davon, den Haushalt um sechzig Millionen Euro verschlanken und vorab 120.000 Beschäftigte im öffentlichen Dienst entlassen zu wollen. Die mittlerweile vollkommen pro-kapitalistische „Parti Socialiste“ hat er verlassen wie man sonst nur aus einem Zug aussteigt, um auf den nächsten aufzuspringen. Damit zeigt er auf, wie weit sich seine alte Partei schon von der Idee des öffentlichen Eigentums und der geplanten Wirtschaftsabläufe verabschiedet hat, die früher einmal charakteristisch für sie gewesen ist.
„Les Républicains“
Auch die Vorwahlen der größten rechts-konservativen Kraft, die sich vor kurzem in „Les Républicains“ umbenannt hat, brachten ein überraschendes Ergebnis. Die beiden wichtigsten Kontrahenten, Alain Juppé und Nicolas Sarkozy, wurden vom „Außenseiter“ Francois Fillon auf die hinteren Plätze verwiesen. Als Politiker, der fünf Jahre lang das Amt des Premierministers inne hatte, trägt er Luxusarmbanduhren und Anzüge, die 13.000 Euro kosten. Von Wladimir Putin bekam er eine Flasche „Chateau Mouton Rothschild“ aus dem Jahr 1931 geschenkt. Das ist das Geburtsjahr seiner Mutter. Für alle anderen Menschen im Land will er ein Programm durchsetzen, das als „Schocktherapie“ zu bezeichnen ist. Es geht darin um Austerität und Deregulierung, das Schleifen des Arbeitsrechts, eine Anhebung des Renteneintrittsalters und die „Reform“ des angesehenen französischen Sozialstaats. Er gehört zu den Fürsprechern des „freien Marktes“ an und beruft sich auf das Erbe von Margaret Thatcher in Großbritannien.
Fillon steht für die traditionelle Rechte und ist eine Zeit lang als derjenige Kandidat gehandelt worden, der die rechtsextreme Marine Le Pen in der zweiten Wahlrunde würde schlagen können. Die französische Tageszeitung „Le Monde“ weist mittlerweile jedoch darauf hin, dass er seit Ende letzten Jahres in den Umfragen immer weiter zurückfällt.
Und dann wurden die verheerenden Enthüllungen in der Satirezeitung „Le Canard Enchaine“ über große Summen in Höhe von 700.000 Euro veröffentlicht, die Fillon in betrügerischer Absicht an seine Ehefrau überwiesen hat, die als seine parlamentarische Assistentin fungiert haben soll. Ähnliche Geschichten kursierten bald auch im Zusammenhang mit seinen Kindern und schnell war die Rede von „Penelopegate“. (Dies geschah kurze Zeit nachdem Präsident Hollande den Rücktritt seines Innenministers, Bruno Le Roux, bekannt geben musste, der seinen Töchtern in den Schulferien ganz ähnliche Zahlungen hatte zukommen lassen.) Dann kam die Nachricht, dass Fillon ganze 50.000 Euro für die „Vermittlung“ eines Treffens zwischen Wladimir Putin und einem Milliardär aus dem Libanon kassiert hat. Es ging um Öl-Geschäfte. Fillons Stern sinkt.
Die Patrizierfamilien der französischen Rechten hatten schon Skrupel, Fillon zu unterstützen. Doch jetzt verlassen sie scharenweise sein Lager. Aber auch das kann ihn nicht aus der Fassung bringen. Er bleibt dabei, dass am 23. April Millionen von WählerInnen (so wörtlich) für ihn stimmen werden. Sie würden momentan nur noch zögern, die Karten auf den Tisch zu legen. „Das verlorene Schaf wird in die Herde zurückkehren“, so stand es in der „Le Monde“ vom 1. April 2017 zu lesen. Es handelt sich hierbei um das Pfeifen im Walde, nur, um die eigene Moral aufrecht zu erhalten. Viele, die bei einem anderen Kandidaten für „Les Républicains“ gestimmt hätten, haben offen erklärt, in der ersten Runde für den Kandidaten der Mitte, Macron, stimmen zu wollen. Das deutet erneut darauf hin, was für ein zuverlässiger Kandidat dieser angeblich „unabhängige“ ehemalige „Sozialist“ Macron in Wirklichkeit für die kapitalistische Klasse ist.
Das Dilemma mit den zwei Wahlrunden
Vor ein paar Monaten bestand das Dilemma für ArbeiterInnen und junge Leute, die wütend auf die PS sind, weniger darin, sich in der ersten Runde für einen der verschiedenen linken Kandidaten entscheiden zu müssen. Die große Frage war, ob man sich für den Fall, dass die regierende PS abgestraft gar nicht erst in die zweite Runde käme, würde überwinden können, am Ende für einen „traditionellen“ Vertreter der Arbeitgeber von der Partei „Les Républicains“ zu entscheiden. Schließlich sah es sehr lange danach aus, dass man nur so die Machtübernahme durch die Rechtsextremen würde verhindern können. Jetzt, da alles danach aussieht, dass man sich in der zweiten Runde für Emmanuel Macron entscheiden muss, um Le Pen zu stoppen, werden viele, die ihn als Emporkömmling mit einer Negativbilanz an arbeitnehmerfeindlichen Entscheidungen betrachten, nicht Willens sein, ihm ihre Stimme zu geben.
Die „Financial Times“ schrieb am 3. April: „Letzte Meinungsumfragen zeigen, dass Millionen von StammwählerInnen der traditionellen Rechten und Linken in Frankreich bereit sind, in der zweiten Runde für Frau Le Pen zu stimmen, wenn ihr zuvor favorisierter Kandidat ausscheiden sollte.“ Die Zeitung fügt jedoch hinzu: „Die Abneigung gegenüber den etablierten Parteien ist aber derart groß, dass sich sogar noch mehr Menschen für eine Stimmenthaltung entscheiden könnten.“ Junge Leute und ArbeitnehmerInnen, die die Haltung von Le Pen gegenüber MigrantInnen, Muslima und Muslime verachten, werden hingegen noch weiter gehen. Sie werden ihre Wut zum Ausdruck bringen, indem sie noch vor Beginn der zweiten Runde auf die Straße gehen. „Gauche Révolutionnaire“ (GR), die Sektion des CWI in Frankreich, würde eine derartige Entwicklung sehr begrüßen und wird sich an solchen Protesten beteiligen. Wir werden für den Aufbau einer Massenbewegung argumentieren, die sich durch Kampfbereitschaft gegen sämtliche Vertreter des kapitalistischen Systems auszeichnen muss.
Was konkret die Wahl angeht, empfiehlt GR, in der ersten Runde für Mélenchon zu stimmen und sich in der zweiten Runde der Stimmabgabe zu enthalten (es sei denn, Mélenchon schafft es entgegen aller Vorhersagen bis in die letzte Runde). Wir können zwar nachvollziehen, dass viele ArbeiterInnen und junge Leute mit zugehaltener Nase für jeden Kandidaten stimmen werden, der in der zweiten Runde gegen Marine Le Pen übrig bleibt.
GR geht davon aus, dass die wichtigere Aufgabe nach den Wahlen so oder so darin besteht, eine neue sozialistische Kraft mit Massencharakter aufzubauen. Das macht es nötig, diejenigen anzusprechen, die ihre Stimme in der ersten Runde Mélenchon oder einem anderen linken Kandidaten gegeben und die sich in den letzten Jahren an den sozialen Kämpfen beteiligt haben. Mit dem Ansatz, den wir vertreten, können wir hingegen auch diejenigen ArbeitnehmerInnen und jungen Leute ansprechen, die sich für keinen der beiden übrigbleibenden Kandidaten entscheiden wollen. Angesichts der ganzen Manipulationsversuche von Seiten der Reichen und Mächtigen, durch die sich das heutige politische System „auszeichnet“, betrachten sie es schon als vollkommen belanglos, sich überhaupt noch an Wahlen zu beteiligen.
Der wohl tragischste Aspekt der momentanen Situation besteht darin, dass sich eine breite Schicht an jungen Leuten aktiv am Wahlkampf von Le Pen beteiligt. Unter den 18- bis 25-Jährigen ist der „Front National“ zur beliebtesten Partei geworden. Das ist die Altersgruppe, die sich traditionell nicht so stark an Wahlen beteiligt wie ältere Schichten in Frankreich. Diese jungen Menschen gelten als nicht besonders gut informiert, was das Programm des FN angeht. Was sie wollen, ist eine Stimme gegen das System abzugeben.
Linke wie rechte Populisten erwecken den Eindruck, gegen die Elite zu stehen. Doch der FN macht diesen Leuten gegenüber den Eindruck, entschlossener vorzugehen als jede andere Partei, wenn es darum geht, zu radikalem Wandel zu kommen und der Bevölkerung in der zweitgrößten Volkswirtschaft Europas ein besseres Leben zu verschaffen. Allein diese Feststellung ist ein Urteil gegen alle anderen Parteien der sogenannten politischen Linken, die darin gescheitert ist, diese Leute mit der Idee vom sozialistischen Wandel zu inspirieren.
Bei den Präsidentschaftswahlen des Jahres 2002 sind die Parteien, die links von der pro-kapitalistischen „Parti Socialiste“ standen, zusammen auf fast vier Millionen Stimmen gekommen. Beinahe drei Millionen haben für trotzkistische Kandidaten gestimmt. Knapp eine Million entschied sich für die „Kommunistische Partei“. Und sogar noch im 2007 kamen diese Kräfte zusammengenommen auf beinahe drei Millionen Stimmen. Die Möglichkeiten für TrotzkistInnen, eine neue Partei zu gründen, die der Arbeitnehmerschaft ein klares antikapitalistisches Programm anbietet, sind jedoch vertan worden. Was die Woge der Unterstützung angeht, die Mélenchon mit seinem Programm zuteil wird, ist es nicht unmöglich, diesen Zuspruch in eine wirklich sozialistische Bewegung münden zu lassen, die viele der ArbeiterInnen und jungen Leute ansprechen kann, welche sich zeitweilig der extremen Rechten zugewandt haben, um gegen das System zu rebellieren.
Parlamentswahlen
Nach den Präsidentschaftswahlen muss die Frage beantwortet werden, wie das Parlament und die Regierung zusammengesetzt sein sollen, mit denen das neue Staatsoberhaupt Frankreichs zusammenarbeiten wird. Über die Sitzverteilung in der Nationalversammlung werden die Wahlen entscheiden, die am 11. und 18. Juni dieses Jahres anstehen.
Ein Sieg Macrons bei den Präsidentschaftswahlen ist zum jetzigen Zeitpunkt immer noch am wahrscheinlichsten. Das wird der unzufriedenen französischen Arbeiterklasse aber keine neuen Spielräume verschaffen. Für seine noch in den Kinderschuhen steckende Partei „En Marche!“, die bisher keine Abgeordneten hat, wird Macron im Parlament keine Mehrheit bekommen. Das wird ihn aber nicht daran hindern, parteiübergreifende Allianzen zu schmieden, um sein Programm des „milden Neoliberalismus“ durchzubekommen.
Auch Marine Le Pen sagt, sie sei sicher, dass ihre Partei, die bisher mit nur zwei Abgeordneten im Parlament vertreten ist und vor Ort einige gewählte RepräsentantInnen hat, in allen der 577 Wahlbezirke mit eigenen KandidatInnen bei den Parlamentswahlen dabei sein wird. Ihr „Front National“ (FN) hat aber nicht die finanziellen Mittel, um gleich zwei Wahlkämpfe auf die Beine stellen zu können. (Womöglich müssen sie erneut bei einer russischen Bank um Hilfe bitten!)
Gerade in jüngerer Zeit hat der FN mehr politische Erfolge vorzuweisen, was vor allem für Frankreichs „Rost-Grütel“ im Nordosten des Landes gilt. Aber auch in den südlichen Landesteilen hat man stärkere Unterstützung. Dennoch wäre es ein harter Weg, wollte Le Pen im eher unwahrscheinlichen Fall ihrer Wahl zur neuen Präsidentin Frankreichs irgendeine Form von arbeitsfähiger Mehrheit mit anderen Kräften im Parlament zustande bekommen. Abgesehen davon hat sie versprochen, dass sie wieder zurücktreten und an anderer Stelle weiterkämpfen wird, wenn ihr geplantes Referendum über Europa, dass sie innerhalb von sechs Wochen nach ihrer vermeindlichen Wahl durchführen will, nicht zum Austritt aus der EU führt.
Aufbau einer Bewegung des sozialistischen Kampfes
Die aktuell wichtigste Aufgabe besteht in Frankreich genau wie in so vielen anderen Ländern Europas darin, eine neue sozialistische Partei für ArbeiterInnen und die jungen Leute aufzubauen. „Gauche Revolutionnaire“ erklärt in ihrer Zeitung „L’Égalité“ („Gleichheit“) die notwendigen Aspekte, die ein sozialistisches Programm umfassen muss, und erneuert darin immer wieder den Vorschlag, dass Mélenchons Bewegung „France Insoumise“ sich entsprechend ausrichtet. Ebenso wird detailliert erklärt, wie „Das aufständische Frankreich“ vorgehen muss, um eine Massenpartei der Arbeiterklasse aufzubauen.
In den bevorstehenden Wochen wird es in der politischen Landschaft Frankreichs zu weiteren Erschütterungen kommen. Weil sich die politische wie auch die ökonomische Krise weltweit weiter zuspitzt, wird die schon legendäre Kampfbereitschaft der französischen Arbeiterklasse weltweit ein starkes Signal setzen und auf politischer Ebene die richtigen Schlussfolgerungen ziehen. Was die sozialistische Veränderung angeht, kann dies wegweisenden Charakter bekommen.
Der Artikel erschien zuerst am 8. April auf socialistworld.net.