Di 19.07.2016
In der Nacht des 15. Juli haben ein Teil der Generäle der mittleren Ränge, ehemalige Generäle und Oberste der türkischen Armee versucht, die Macht mit militärischen Mitteln an sich zu reißen und die AKP-Regierung sowie Präsident Erdoğan zu stürzen. Zu diesem Zeitpunkt befand Erdoğan sich im Sommerurlaub an der Ägäis.
Nach heftigem Beschuss aus der Luft haben es die Aufrührer anfangs vermocht, die Zentrale des Inlandsgeheimdienstes mit Sitz in der Hauptstadt Ankara ebenso unter ihre Kontrolle zu bekommen wie die Polizeihochschule und Einrichtungen zur Polizeiausbildung. Auch die Flughäfen von Ankara und Istanbul wurden eingenommen. Trotz Zusammenstößen auch in anderen Städten des Landes beschränkte sich der Putschversuch in erster Linie auf diese beiden Städte. Dort wurden das Polizeipräsidium, Büros der Regierungspartei AKP, weitere wichtige Gebäude, der zentrale Internetserver und die beiden Brücken über den Bosporus in Beschlag genommen. Das Parlamentsgebäude, in dem alle politischen Parteien zu Sitzungen zusammengekommen waren, ist mehrere Male von Kampfflugzeugen beschossen worden. Der Präsidentenpalast wurde von Militäreinheiten angegriffen, die mit den Aufrührern in Verbindung stehen. Sie haben versucht, auch dort die Kontrolle zu übernehmen.
Den Ausgangspunkt für die Aktionen bildeten das zentrale Hauptquartier der Armee, der größte Luftwaffenstützpunkt des Landes und das Hauptquartier der Militärpolizei. Der verschwörerische Flügel der Armee hat die meisten der hochrangigen Armeekommandanten festgesetzt, darunter auch den Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Man hat die Kontrolle über das staatliche Radio, die größten Privatsender wie auch das staatliche Fernsehen übernommen. Auf diese Weise wurde eine Erklärung verbreitet, in der die Übernahme der politischen Macht sowie die Absetzung des unrechtmäßigen, korrupten und nicht-sekulären Regimes von Erdoğan und der AKP verkündet wurde. Des Weiteren wurden eine Ausgangssperre und das Kriegsrecht angekündigt. Begründet wurde dies mit der baldigen Einführung einer neuen Verfassung.
Erdoğans Flugzeug wurde über mehrere Stunden an der Landung gehindert. Der Präsident wie auch der Premierminister riefen die Bevölkerung auf, Widerstand gegen den Putschversuch zu leisten. Die ganze Nacht über waren miteinander konkurrierende Flügel innerhalb des Staatsapparats in gewaltsame Auseinandersetzungen verwickelt. Dabei verhielt sich der Polizeiapparat weitestgehend loyal gegenüber Erdoğan. Auch von den Minaretten wurden Aufrufe verbreitet, sich hinter die Regierung zu stellen. Einige tausend Menschen (vor allem rechtsgerichtete Islamisten und der harte Kern der AKP-Anhänger) zogen daraufhin auf die Straßen. In den beiden größten Städten nahmen Armeeflugzeuge und -helikopter Demonstrationen unter Beschuss. Am Morgen des nächsten Tages war der Tod von mehr als 150 Angehörigen der staatlichen Kräfte (beider Seiten) und von über 50 ZivilistInnen zu beklagen.
Die Mehrheit der Bevölkerung und sämtliche politische Parteien sind gegen eine Rückkehr der Militärherrschaft. Beim Großteil der unteren Ränge in der Armee handelt es sich um Wehrpflichtige, die nicht bereit waren, sich mit der Gewalt zu identifizieren, die von Verschwörern und Vollstreckern von Todesurteilen organisiert wurde. Es handelt sich hierbei um altgediente und etablierte Offiziere mit den entsprechenden Privilegien, die daran interessiert sind, die Macht aus Eigennutz an sich zu reißen. Aus diesem Grund hat der Putsch nicht die gesellschaftliche und politische Unterstützung bekommen, die es gebraucht hätte, um erfolgreich zu sein. Der größte türkische Unternehmerverband TUSIAD wie auch der US-Imperialismus, der als Sprachrohr auf Präsident Obama zurückgreifen kann, haben sehr schnell klargemacht, dass sie den Verschwörern keinerlei Unterstützung zuteil lassen werden.
Wie wir bereits in älteren Veröffentlichungen erklärt haben, ist es in der Türkei zu einer anwachsenden politischen Krise gekommen. Diese hat sich seit den Wahlen im letzten Jahr und im Zusammenhang mit einer zunehmenden Wirtschaftskrise sowie einer abnehmenden gesellschaftlichen Unterstützung für das Erdoğan-Regime weiter zugespitzt. Die AKP-Regierung hat den Justiz- und Militär-Apparat benutzt, um über die sich abzeichnende und zunehmend ausweglose politische Situation hinwegzukommen. Unter Zuhilfenahme der Justiz sind oppositionelle Stimmen innerhalb wie auch außerhalb des Parlaments unterdrückt worden. Die Armee wurde eingesetzt, um den Widerstand der KurdInnen zu zerschlagen. Der Versuch der regierenden Partei, eine Verfassungsänderung im Sinne eines Präsidialsystems durchzusetzen, ist Bestandteil derselben zunehmend bonapartistischen Tendenz, mit der die Herrschaft eben dieser Instanz des Präsidenten verstärkt werden soll. Dieses repressive Vorgehen, mit dem man aus der politischen Sackgasse herauszufinden meint, hat die Mittel bereitgestellt, mit denen die Verschwörer sich nun gegen die AKP gerichtet haben. Während beide Seiten ihre wirklichen Ziele hinter der Fassade der Demokratie zu verstecken suchen, hat sowohl die eine wie auch die andere Seite eine eigene Spielart der kapitalistisch-diktatorischen Herrschaft herausgebildet. Es geht um eine Herrschaft, die im Gewand einer Zivilregierung daherkommt bzw. – wie im anderen Fall – die Militäruniform trägt. Mit diesen Methoden ist die Krise, die das Land fest im Griff hat, allerdings nicht zu lösen. Auf diese Weise wird die Krise (im einen wie im anderen Fall) nur weiter verstärkt. Abgesehen davon wird so der Boden für noch stärkere Turbulenzen in der Zukunft bereitet. Der aktuelle Versuch eines Staatsstreichs hat aufgedeckt, dass die Versuche, mit denen eine monolithische Macht aufgebaut werden soll, nicht nur zwecklos waren, was das Übertünchen der wachsenden Risse und Fehden innerhalb der herrschenden Kaste bis in die höchsten Ränge des Staates angeht. Diese Versuche haben zudem dazu beigetragen, diese Gräben weiter aufzureißen.
Es ist zwar von äußerster Wichtigkeit, Widerstand gegen die Attacken von Erdoğan auf die sozialen und demokratischen Rechte zu leisten. Dennoch illustriert dieser Putschversuch, dass man einer diktatorischen Herrschaft nicht mit diktatorischen top-down-Methoden beikommen kann. Ob erfolgreich oder nicht: Ein solcher Putsch führt nur zu noch mehr Repression gegenüber den Massen. Der gescheiterte Putsch wird jetzt von Erdoğan dazu genutzt werden, um die Macht noch stärker in seinen Händen zu konzentrieren. Er wird seinen Zirkel an Vertrauten noch enger fassen und noch stärker gegen die demokratischen Rechte vorgehen. Dies zeigt sich bereits daran, dass viele Staatsanwälte willkürlich ihres Amtes enthoben worden sind, und an der Absicht der Regierung, die Todesstrafe wieder einzuführen. Diese Maßnahmen werden als Mittel gegen die militärischen Verschwörer präsentiert. Sie eignen sich allerdings auch hervorragend dazu, um gegen künftige soziale Kämpfe vorzugehen, die sich gegen das Regime richten.
Das „Komitee für eine Arbeiterinternationale“ (CWI) und „Sosyalist Alternatif“, die CWI-Sektion in der Türkei, lehnen den Putschversuch ab, der jetzt nur Erdoğan dabei hilft, seine diktatorische Agenda zu verschärfen. Beide Lager stehen für verschiedene Flügel der unterdrückerischen herrschenden Klasse und müssen bekämpft werden. Der Widerstand der Bevölkerung gegen jeden Versuch einer militärischen Machtübernahme darf nicht unter der Kontrolle des verkommenen Regimes der AKP bleiben. Es muss zu vereinten Massenaktionen der Arbeiterbewegung und der jungen Leute, der politischen Linken und der HDP kommen, die unabhängig von den Mobilisierungen ablaufen müssen, wie sie von der Regierungspartei AKP durchgeführt werden. Letztere macht gelegentlich auch von Gewalt Gebrauch, um gegen politische WidersacherInnen vorzugehen und kann keine Alternative für uns sein. Die Arbeiterbewegung und die Linke müssen umgehend Selbstverteidigungskomitees gegen die Gewalt organisieren, von denen beide Seiten, das Militär wie auch die AKP-Regierung Gebrauch machen. Es muss sich ein dritter politischer Pol rund um die Arbeiterklasse, die verarmten Schichten und jungen Leute herum herausbilden, mit dem die Gewalt beendet werden kann. Auf diese Weise können die Angriffe auf die demokratischen und politischen Rechte genauso gestoppt werden wie die staatliche Offensive gegen die kurdische Bevölkerung und die neoliberale Politik, die von beiden Seiten der kapitalistischen Klasse ausgeübt wird.
Die Tage, in denen die Türkei als beispielhaftes Modell für Aufschwung und Stabilität galt, sind lange vorüber. Die zunehmenden und facettenreichen Krisen, von denen die Türkei betroffen ist, widerspiegeln die Krise des Kapitalismus im Weltmaßstab. Nur ein Kampf für sozialistischen Wandel, der einhergeht mit der Solidarität der ArbeiterInnen im Nahen Osten, in Europa und weltweit, kann das Chaos und die Gewalt, von der die Türkei derzeit bedroht ist, beenden.