„Einer der größten Proteste der isländischen Geschichte“ – Augenzeugeninterview zu den Ereignissen in Island

SLP-Aktivist Sebastian Kugler interviewte Künstler Sebastian Kraner, der zurzeit in Island studiert und sich mit den Protesten dort auseinandersetzt.

Sebastian Kugler, Vorwärts: Die #panamapapers scheinen ihr erstes Opfer gefordert zu haben. Der isländische Premier Gunnlaugsson ist zurückgetreten. Welche Vorwürfe gibt es gegen ihn?

Sebastian Kraner: Ich habe schon einige Analysen gelesen und jeder dieser Texte geht auf einen anderen Aspekt der Sache ein. Was faktisch passiert ist: Sigmundur Davíð Gunnlaugsson, seit heute nicht mehr Premier von Island, war, als er 2009 Parlamentarier wurde, noch eingetragener Teilhaber der Briefkastenfirma Wintris, welche seiner Frau gehört. Isländische Parlamentarier*innen sind jedoch verpflichtet, solche Dinge beim Eintreten ins Parlament öffentlich bekannt zu geben. Stattdessen verkaufte er seinen Anteil kurz danach um einen Dollar an seine Frau. Das Wintris-Investment umfasst vier Millionen US-Dollar.

Rechtlich gesehen ist Gunnlaugsson nach derzeitigem Einblick nichts anzuhaben, auch ethisch ist es debattierbar. Was jedoch die Wut der Bevölkerung schürt, ist Gunnlaugssons generelle Inszenierung, die Kritiker*innen ihm immer schon vorwarfen: Als Gatte einer sehr wohlhabenden Isländerin inszenierte er sich dennoch immer als Kämpfer für die sozial Schwachen. Dieses Bild ist nach diesen Veröffentlichungen jedoch komplett zerstört.

Isländer*innen, mit denen ich in den letzten Tagen gesprochen habe, meinten überhaupt, dass sich alles schon zugespitzt hat: Gunnlaugsson agierte immer paranoider und sonderbarer. Nicht umsonst lag er mit seiner Partei in Umfragen schon Monate weit abgeschlagen vom letzten Wahlergebnis und die Opposition genoss zunehmend Zustimmung in der Bevölkerung.

V.: Was passierte nach Bekanntwerden der Vorwürfe? Welche Proteste gab bzw. gibt es? Wer ging auf die Straße und wofür?

 

K.: Nach dem Bekanntwerden der Vorwürfe gab der Premier dem schwedischen Fernsehen noch ein ziemlich peinliches Interview (http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/island-video-island-video-1.2933378) und danach war wohl relativ klar, dass er da nicht ungeschoren rauskommen kann. Auf Facebook begann die Initiative Jaeja! (https://www.facebook.com/jaejajaejajaeja/?fref=ts) für eine Demonstration am vergangenen Montag zu mobilisieren (https://www.facebook.com/events/1717758765137121/).
„Jaeja" heißt nichts anderes als Jaja, im Sinne von „Nagut“ oder so. Wer hinter der Plattform steckt ist schwer auszumachen, vor allem wenn Mensch der isländischen Sprache nicht ganz mächtig ist. So wie viele politische Initiativen in Island von Privatpersonen organisiert sind, kann ich mir vorstellen, dass es gänzlich ohne politische Organisation dahinter stattfand, meine Hand ins Feuer kann ich dafür nicht legen.

Der Protest am Montag war einer der allergrößten in der isländischen Geschichte. Vertreten war, nach meinem Empfinden, ein repräsentativer Querschnitt durch die ganze Gesellschaft. Von Teenagern über Familien mit Kindern bis Senior*innen war alles dabei.

Das Motto war klar: Kosningar strax - Neuwahlen jetzt.

So auch die Stimmung bei der Demonstration. Das Parlament wurde mit Bananen und Skyr (isländisches Joghurt) beworfen, was von der Polizei geduldet wurde. Die Demo verlief komplett friedlich.

 

V.: Du beschäftigst dich ja mit der Wirtschaftskrise in Island bzw. den Reaktionen darauf. Inwiefern knüpfen die aktuellen Ereignisse an vorangegangenen Protesten bzw. bereits vorhandener Wut an? Was hat sich gegenüber früheren Bewegungen verändert?

 

K.: Okay, das komplett aufzurollen bedarf einer längeren Beschäftigung und eines längeren Textes, den ich gerne auch einmal liefere. Ich versuche es jetzt einmal mit radikaler Kürze:

Nachdem die für Island außergewöhnlich heftigen Proteste nach der Krise die damalige krisenverursachende konservative Regierung zum Rücktritt gezwungen haben, kehrte erst einmal Ruhe ein. Die darauf folgende „linke“ Regierung konnte mit ihrer Politik nicht überzeugen und wenige Jahre später wurden wiederum die Konservativen mehrheitlich gewählt. Diese sind bis jetzt im Amt.

Die Wut der Isländer*innen ist leider ebenso verdampft wie die Proteste damals: Eine Untersuchung einer schwedischen Sozialanthropologin zeigte, dass sich die Menschen mehrheitlich selbst für die „Maßlosigkeit“ vor dem Crash die Schuld geben.

Gunnlaugssons Machenschaften haben hier meiner Meinung nach dennoch auf einen Nerv in einem noch immer schmerzenden Zahn getroffen: Viele Isländer*innen sitzen immer noch auf hohen Schulden.

Dennoch ist der Unterschied zu 2008 deutlich: Die Menschen verlieren gerade nicht ihre Häuser oder Wohnungen und stehen vor dem Nichts, wie es damals für viele der Fall war. Insofern steht für die Individuen weniger am Spiel, daher besteht meiner Ansicht nach die Gefahr, dass diese Proteste schnell wieder verebben.

V.: Wie, denkst du, geht es nun weiter? Haben die Proteste das Potential, über den Austausch herrschender Figuren hinauszugehen? Was müsste deiner Meinung nach passieren, um die Proteste auf eine höhere Ebene zu heben?

 

K.: Derzeit ist noch alles offen. Die Opposition, die wie schon erwähnt, breite Unterstützung in der Bevölkerung hat, verlangt den Rücktritt der gesamten Regierung und Neuwahlen. Diesen hat der Präsident jedoch bisher nicht zugestimmt und der Rücktritt Gunnlaugssons ist meiner Ansicht nach ebenfalls noch weniger Wind in den Segeln der Bewegung.

Sollte der Widerstand durch die Bevölkerung bleiben, dann kann ich mir jedoch nicht vorstellen, dass die Regierung lange im Amt bleiben kann.

Auf die Frage woher die Motivation der protestierenden Menschen kam, kommentierte einer meiner Professoren heute sinngemäß, dass es einfach mal wieder Zeit war, auf die Straße zu gehen, und noch dazu das Wetter einen traumhaften Frühlingstag beschert hat. Ich persönlich meine aber doch ein bisschen mehr als das auf der Demo gesehen zu haben. Und die Isländer*innen sollten nicht unterschätzt werden. Auch heute [Dienstag] gab es noch Proteste für den Rücktritt der gesamten Regierung, wenn auch in kleinerem Ausmaß.

Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass es zu gravierenden gesellschaftlichen Änderungen kommen wird, selbst wenn die Regierung zurücktritt. Die derzeit in den Umfragen führende Partei sind die Piraten unter Birgitta Jónsdóttir (bekannt durch Wikileaks , mehr unter https://de.wikipedia.org/wiki/Birgitta_Jónsdóttir).
Sie mischte sich auch bei der Demo unter das Volk und präsentiert interessante politische Parolen, die vor allem derzeit sehr gut hier ankommen. Eine Regierung mit den Piraten wäre garantiert die bessere Wahl für Island - ob sich dadurch jedoch wirklich großes verändert kann ich schwer einschätzen.

 


Kundgebung: Steuerflüchtige enteignen!

 

Wann: Freitag, 08.04, 16:30

Wo: Wien Mitte

 

Siehe auch: https://www.facebook.com/events/537600759756486/

 

Außführliche Stellungnahme der Sozialistischen LinksPartei zu den Enthüllungen der Panama-Leaks:  https://www.slp.at/artikel/84-panama-papers-steuerfl%C3%BCchtlinge-enteignen-7422

 

 


Alle Fotos von World Riots (https://www.facebook.com/internationalriot/posts/1061231717266517)