Do 30.07.2015
Dieser Artikel erschien zuerst am 28. Juli auf der englischsprachigen Webseite socialistworld.net
Am 20. Juli sind 32 junge Menschen, Mitglieder der „Sozialistischen Föderation der Jugendverbände“, in der südosttürkischen Stadt Suruç auf schreckliche Art und Weise umgebracht worden – wahrscheinlich von einem Selbstmordattentäter des „Islamischen Staats“. Es ist das erste Mal, dass der „Islamische Staat“ eine sozialistische Organisation innerhalb der Türkei angegriffen hat. Das Abschlachten junger Leute, deren Ziel es war, über die syrische Grenze nach Kobane zu fahren, um die vom „Islamischen Staat“ im vergangenen Jahr vollkommen zerstörte kurdische Stadt wieder aufbauen zu helfen, hat weltweit zu Abscheu und Empörung geführt.
Doch die DemonstrantInnen, die in Istanbul und anderen türkischen Städten in Solidarität mit den ermordeten jungen Menschen auf die Straße gehen wollten, sind ihrerseits von der türkischen Polizei mit Tränengas und Wasserwerfern attackiert worden.
Die türkische Regierung und Präsident Erdoğan haben Blut an ihren Händen. Ihre Außenpolitik hat den „Islamischen Staat“ ermutigt und zu Terroranschlägen geradezu eingeladen. Der türkischen Regierung wird vorgeworfen, geheime Absprachen mit dem „Islamischen Staat“ gegen die KurdInnen in Syrien getroffen zu haben. Die Türkei hat sich mit Angriffen auf den „Islamischen Staat“ zurückgehalten und einer großen Zahl von Dschihadisten erlaubt, die Grenze zu passieren. Zu den Zielen der Türkei in Syrien zählt auch, eine Pufferzone zu errichten und die kurdischen KämpferInnen durch eigene Einheiten zu ersetzen.
Die Wahrheit ist, dass der türkische Staat lieber einen Sieg des „Islamischen Staats“ sehen würde als einen kurdischen, weil man Angst vor den Auswirkungen auf die kurdische Bevölkerung in der Türkei hat.
Jetzt hat es aber die Übereinkunft gegeben, die zwischen den USA und dem Iran erreicht worden ist, weshalb die türkische Regierung Angst hat, ihre Rolle in der Region zu verlieren. Dabei will sie weiterhin mit den USA kooperieren. Ferner fühlt man sich gezwungen, in Reaktion auf die Gräueltat von Suruç und die Instabilität, die durch solche Terroranschläge verursacht wird, ein gewisses Maß an Aktionen gegen den „Islamischen Staat“ durchzuführen. Am 23. und 24. Juli hat man zum ersten Mal Basislager des „Islamischen Staats“ in Syrien bombardiert. Mit diesem Vorgehen wird die Gefahr des Terrorismus und der zunehmenden Destabilisierung in der Türkei nur weiter verstärkt. Hinzu kommt, dass die Türkei und die USA zu einer Vereinbarung über die Durchführung gemeinsamer Operationen gegen den „Islamischen Staat“ gekommen sind, wodurch den USA Luftschläge ermöglicht werden, die von der NATO-Airbase im türkischen İncirlik aus starten.
Die Türkei hat eine Sondersitzung der NATO-Botschafter gefordert, um über die Sicherheitslage des Landes zu diskutieren. Außerdem wurden hunderte Personen unter dem Verdacht des Terrorismus festgenommen.
Die türkische Regierung hat auch die Möglichkeit genutzt, um Basislager der kurdischen PKK im Irak zu bombardieren. Allem Anschein nach ist man dabei härter vorgegangen als gegen den „Islamischen Staat“. Das ist eine klare Abkehr vom zum Stillstand gekommenen „Friedensprozess“, den man ursprünglich eingeleitet hatte. Erdoğan versucht die PKK mit dem „Islamischen Staat“ gleichzusetzen. Als Belege dafür sollen die Tötung von drei Polizisten sowie ein Bombenattentat an einer Straße dienen, durch das zwei Soldaten getötet worden sind. Angeblich habe es sich hierbei um PKK-Aktionen in Reaktion auf den Anschlag von Suruç gehandelt. Auch wenn man die individuellen bewaffneten Aktionen der PKK-KämpferInnen gegen Einheiten des türkischen Staats nicht mit dem massenhaften und grausamen Abschlachten von „einfachen“ Menschen aus der Arbeiterklasse und den verarmten Schichten gleichsetzen kann, das der „Islamische Staat“ betreibt, so ist die „Socialist Party“ dennoch nicht der Ansicht, dass derlei individuelle Aktionen den Kampf der KurdInnen voranbringen können. Ein solches Vorgehen ist kontraproduktiv und liefert nur den Vorwand für weitere Aggressionen durch den türkischen Staat. Außerdem läuft man dadurch Gefahr, die Spaltung zwischen türkischen und kurdischen ArbeiterInnen zu vergrößern.
Erdoğan hofft, dass der Westen ein Auge zudrücken oder die Angriffe auf die PKK sogar billigen wird – sozusagen als Gegenleistung für die türkische Kooperation gegen den „Islamischen Staat“. In Wirklichkeit ist die Lage für die USA, die im Bodenkampf gegen den „Islamischen Staat“ auf kurdische Kräfte in Syrien angewiesen waren, wesentlich komplizierter. Die USA haben sich bisher von den Schlägen gegen die PKK-Lager distanziert.
Und dennoch sollte die kurdische Bevölkerung keine Hilfe von Seiten der westlichen Mächte erwarten. Die Hauptverantwortung für den Alptraum im Nahen Osten liegt beim westlichen Imperialismus. Unterjochung und Konflikte, die von westlichen und regionalem Mächten angeheizt worden sind, um die Ressourcen der Region ausplündern zu können und das eigene Ansehen aufzupolieren, gibt es schon lange. Dies und die jahrzehntelange Unterdrückung der PalästinenserInnen durch den israelischen Staat (der von den westlichen Mächten unterstützt wird) ist durch den sogenannten „Krieg gegen den Terror“ und die Kriege gegen Afghanistan, den Irak und Libyen weiter verschärft worden.
Die türkische Regierung ist durch den Wahlerfolg der pro-kurdischen HDP beim Urnengang vom Juni alarmiert worden, bei denen die regierende AKP ihre absolute Mehrheit verloren hat. Ihre größte Angst besteht darin, dass sich kurdische und türkische ArbeiterInnen in einem Aufstand der Massen zusammentun könnten, der das gesamte türkische Regime herausfordern könnte.
Die türkische Regierung versucht, anti-kurdische Ansichten unter türkischen ArbeiterInnen anzuheizen, um die eigene Herrschaft aufrechtzuerhalten und die Bestrebungen der KurdInnen zu bekämpfen. Präsident Erdoğan könnte dieses Jahr noch Neuwahlen ausrufen, um zu versuchen wieder eine parlamentarische Mehrheit für die AKP zu bekommen.
Wenn Arbeiterorganisationen allerdings einen Appell an die Menschen der Arbeiterklasse in der Türkei richten würden und ein Programm zur Verteidigung demokratischer Rechte und nationaler Bestrebungen aller Völker, für Arbeitsplätze und Wohnraum, für die Überführung der enormen Reichtümer der Region in öffentliches und durch die Gesellschaft kontrolliertes Eigentum, um es zum Nutzen aller einzusetzen, dann könnten diese Hürden überwunden werden.
Auf der Grundlage eines sozialistischen Programms wäre es möglich, eine Bewegung aufzubauen, die die Menschen von Syrien über den Irak und in der gesamten Region miteinander vereint und die den „Islamischen Staat“, die korrupten regionalen Mächte und den Imperialismus im Nahen Osten zurückdrängen kann. Eine freiwillige sozialistische Föderation der Nahen Ostens würde alle Völker in die Lage versetzen, frei und demokratisch über ihr eigenes Schicksal entscheiden zu können.