Mo 24.02.2014
Die Oktoberrevolution tat der Frau gegenüber ehrlich ihre Pflicht. Die junge Macht gab ihr nicht nur dieselben politischen und gesetzlichen Rechte wie dem Mann, sondern, was noch wichtiger ist, tat alles was sie konnte und jedenfalls unvergleichlich mehr als irgendein anderer Staat, um ihr wirklich zu allen Zweigen der Wirtschafts- und Kulturarbeit Zutritt zu verschaffen. Jedoch selbst die kühnste Revolution könnte ebenso wenig wie das „allmächtige“ britische Parlament die Frau in einen Mann verwandeln oder besser gesagt die Last der Schwangerschaft, des Gebärens, Säugens und der Kindererziehung zu gleichen Teilen zwischen beiden verteilen. Die Revolution machte einen heroischen Versuch, den sogenannten „Familienherd“ zu zerstören, d.h. jene archaische, muffige und starre Einrichtung, in der die Frau der werktätigen Klassen von der Kindheit bis zum Tode wahre Zwangsarbeit leisten muss. An die Stelle der Familie als geschlossenem Kleinbetrieb sollte, so war es gedacht, ein vollendetes System öffentlicher Pflegen und Dienste treten: Entbindungsanstalten, Krippen, Kindergärten, Schulen, öffentliche Speisehäuser, öffentliche Waschanstalten, Kliniken, Krankenhäuser, Sanatorien, Sportvereine, Kinos, Theater usw. Die völlige Aufsaugung der wirtschaftlichen Funktionen der Familie durch Einrichtungen der sozialistischen Gesellschaft, die die gesamte Generation in Solidarität und gegenseitigem Beistand eint, sollte der Frau und dadurch auch dem Ehepaar wirkliche Befreiung aus den tausendjährigen Fesseln bringen. Solange diese Aufgabe der Aufgaben nicht gelöst ist, bleiben 40 Millionen Sowjetfamilien in ihrer erdrückenden Mehrheit Brutstätten einer mittelalterlichen Daseinsweise, weiblicher Knechtschaft und Hysterie, täglicher Demütigung der Kinder, weiblichen und kindlichen Aberglaubens. Keinerlei Illusion kann in dieser Beziehung gestattet sein. Eben darum sind die aufeinandergefolgten Abänderungen an der Einstellung zur Familie in der UdSSR bezeichnend für das Wesen der Sowjetgesellschaft und die Evolution ihrer herrschenden Schicht.
Es ist nicht gelungen, die alte Familie im Sturm zu nehmen. Nicht weil es an gutem Willen gefehlt hätte. Auch nicht weil die Familie so fest in den Herzen wurzelte. Im Gegenteil, nach einer kurzen Periode des Misstrauens zum Staat, zu seinen Krippen, Kindergärten und ähnlichen Anstalten wussten die Arbeiterinnen und nach ihnen auch die fortgeschrittenen Bäuerinnen die unermesslichen Vorzüge der kollektiven Kinderpflege wie der Vergesellschaftung der gesamten Familienwirtschaft wohl zu schätzen. Leider erwies sich die Gesellschaft als zu arm und zu unkultiviert. Den Plänen und Absichten der kommunistischen Partei entsprachen die realen Mittel des Staates nicht. Man kann die Familie nicht „abschaffen“, man muss sie ersetzen, Eine wirkliche Befreiung der Frau ist auf dem Fundament der „verallgemeinerten Not“ nicht zu verwirklichen. Die Erfahrung veranschaulichte bald diese bittere Wahrheit, die Marx 80 Jahre zuvor formuliert hatte.
In den Hungerjahren ernährten sich die ArbeiterInnen, zum Teil auch ihre Familien, überall wo sie konnten in Fabrik- und anderen Gemeinschaftsrestaurants, und diese Tatsache wurde offiziell als ein Übergang zu sozialistischen Lebensformen betrachtet. Es ist nicht erforderlich, nochmals bei den Besonderheiten der einzelnen Perioden zu verweilen: dem Kriegskommunismus, der NEP, dem ersten Fünfjahresplan. Tatsache ist, dass seit der Abschaffung des Kartensystems im Jahre 1935 alle besser gestellten ArbeiterInnen an den häuslichen Tisch zurückzukehren begannen. Es wäre jedoch falsch, diesen Rückschritt als eine Verurteilung des sozialistischen Systems zu werten, das ja überhaupt noch nicht erprobt worden war. Ein um so vernichtenderes Urteil fällten die Arbeiter und ihre Frauen über die von der Bürokratie organisierte „gesellschaftliche Ernährung“. Denselben Schluss muss man auch auf die öffentlichen Waschanstalten ausdehnen, wo die Wäsche mehr gestohlen und verdorben als gewaschen wird. Zurück zum Familienherd! Aber Küche und Wäsche zu Hause, was heute von den RednerInnen und JournalistInnen halb verschämt gepriesen wird, bedeutet für die Arbeiterfrauen ein Zurück an die Töpfe und Tröge, d.h. zur alten Sklaverei. Die Resolution der Komintern über den „vollständigen und unwiderruflichen Sieg des Sozialismus in der UdSSR“ klingt kaum sehr überzeugend für die Hausfrauen der Vorstädte!
Die Bauernfamilie, die nicht nur durch die Haus-, sondern auch durch die Ackerwirtschaft gebunden ist, ist noch viel zäher und konservativer als die der StädterInnen. Nur an Zahl kleine und in der Regel ungesunde landwirtschaftliche Gemeinden führten bei sich in der ersten Periode die Gemeinschaftsernährung und Krippen ein. Die Kollektivierung sollte, wie es anfangs hieß, eine entscheidende Umwälzung auch auf dem Gebiet der Familie bringen: nicht von ungefähr expropriierte man bei den Bauern nicht nur die Kühe, sondern auch die Hühner. An Meldungen über den Triumphzug der Gemeinschaftsernährung auf dem Lande war jedenfalls kein Mangel. Als aber der Rückzug begann, kam unter dem Schaum der Prahlerei sogleich die Wirklichkeit zum Vorschein. Vom Kolchos erhält der Bauer in der Regel nur Brot für sich und Futter fürs Vieh. Fleisch, Milchprodukte und Gemüse werden fast ausschließlich von der eigenen Parzelle bezogen. Wo aber die hauptsächlichen Lebensmittel durch die isolierten Arbeitsleistungen der Familie beschafft werden, kann von Gemeinschaftsernährung nicht die Rede sein. So laden die Zwergwirtschaften, die dem häuslichen Herd eine neue Grundlage geben, der Frau ein doppeltes Joch auf.
Die Zahl der 1932 in den Krippen verfügbaren ständigen Plätze war alles in allem 600.000; die der Saisonplätze, nur für die Zeit der Feldarbeiten, rund vier Millionen. 1935 wurden rund 5,6 Millionen Krippenstellen gezählt, aber die ständigen Plätze bildeten wie bisher lediglich einen unbedeutenden Teil der Gesamtzahl. Außerdem werden die bestehenden Krippen selbst in Moskau, Leningrad und anderen Zentren in der Regel auch den bescheidensten Anforderungen nicht gerecht. „Krippen, wo das Kind sich unbehaglicher fühlt als zu Hause, sind keine Krippen, sondern ein schlechtes Asyl“, klagt eine führende Sowjetzeitung. Kein Wunder, wenn die besser gestellten ArbeiterInnenfamilien die Krippen meiden. Für die Hauptmasse der Werktätigen ist aber auch die Zahl dieser „schlechten Asyle“ viel zu gering. In allerletzter Zeit erließ das Zentralexekutivkomitee eine Verfügung, dass Findlinge und Waisen Privaten zur Erziehung übergeben werden sollen: in der Person seines höchsten Organs gab der bürokratische Staat auf diese Weise sein Unvermögen in einer höchst wichtigen sozialistischen Funktion zu. Die von den Kindergärten erfasste Zahl der Kinder stieg in dem Jahrfünft 1930-1935 von 370.000 auf 1.181.000. Man erstaunt über die Winzigkeit der Zahl für 1930! Aber auch die Zahl für 1935 ist nur ein Tropfen im Meer der Sowjetfamilien. Eine eingehendere Untersuchung würde zweifelsohne den Nachweis erbringen, dass der größte und jedenfalls der beste Teil dieser Kindergärten auf die Familien der Verwaltungen, des technischen Personals, der Stachanowisten usw. entfällt.
Das Zentralexekutivkomitee war unlängst ebenfalls gezwungen, offen zu gestehen, dass „der Beschluss über die Liquidierung der Kinderverwahrlosung und -nichtbeaufsichtigung nur in geringem Maße verwirklicht wird“. Was verbirgt sich hinter diesem kühlen Geständnis? Nur zufällig erfahren wir aus in kleiner Schrift gedruckten Pressenotizen, dass sich in Moskau mehr als tausend Kinder „in außerordentlich schweren Familiendaseinsbedingungen“ befinden, dass es in den sogenannten Kinderheimen der Hauptstadt 1,500 Halbwüchsige gibt, die nirgendwo Zutritt haben und denen nur die Straße übrig bleibt, dass in zwei Herbstmonaten des Jahres 1935 in Moskau und Leningrad „7.500 Eltern, die ihre Kinder ohne Aufsicht gelassen hatten, zur Verantwortung gezogen wurden“. Von welchem Erfolg waren diese gerichtlichen Verfolgungen begleitet? Wie viel tausend Eltern entgingen diesem Schicksal? Wie viel Kinder, die sich in „außerordentlich schweren Bedingungen“ befinden, blieben unerfasst? Worin unterscheiden sich die außerordentlich schweren von den einfach schweren Bedingungen? Das sind Fragen, die ohne Antwort bleiben. Die gewaltigen Ausmaße der Kinderverwahrlosung, nicht nur der sichtbaren und offenen, sondern auch der verschleierten, sind ein unmittelbares Resultat der großen sozialen Krise, in der die alte Familie viel rascher weiterverfällt, als die neuen Einrichtungen imstande sind, sie zu ersetzen.
Aus denselben zufälligen Pressenotizen. aus den Episoden der Kriminalchronik kann der Leser von der Existenz der Prostitution in der UdSSR, erfahren, d.h. der tiefsten Degradierung der Frau im Interesse des zahlungsfähigen Mannes. Im Herbst vergangenen Jahres meldete die Iswestija beispielsweise überraschend aus Moskau die Verhaftung von „an die 1.000 Frauen, die sich auf den Straßen der proletarischen Hauptstadt heimlich verkauften“. Unter den Verhafteten waren: 177 Arbeiterinnen, 92 Angestellte, 5 Studentinnen usw. Was trieb sie aufs Trottoir? Unzureichende Entlohnung, Not, die Notwendigkeit „sich nebenher Kleider und Schuhe zu verdienen“. Vergebens versuchten wir auch nur annähernd den Umfang dieses sozialen Übels kennen zu lernen. Die züchtige Bürokratie befiehlt der Statistik Schweigen. Aber gerade das erzwungene Schweigen ist ein einwandfreies Zeugnis für den großen Umfang der „Klasse“ der Sowjetprostituierten. Hier kann es sich aus der Natur der Sache heraus nicht um „Überreste der Vergangenheit“ handeln: die Prostituierten rekrutieren sich aus der jungen Generation. Keinem vernünftigen Menschen wird es natürlich einfallen, diese Plage, die so alt ist wie die Zivilisation, dem Sowjetregime speziell zur Last zu legen. Doch unverzeihlich ist es, vom Triumph des Sozialismus zu reden, wo Prostitution besteht. Die Zeitungen behaupten zwar – soweit es ihnen überhaupt gestattet ist, dies heikle Thema anzurühren – dass „die Prostitution sich verringert“:
Möglich, dass dem wirklich so ist, im Vergleich mit den Jahren des Hungers und Zerfalls (1931-1933). Aber die danach erfolgte Wiederherstellung der Geldverhältnisse, die alle Naturalformen der Ernährung verdrängte, führte unvermeidlich zum Wiederaufleben der Prostitution und der Kinderverwahrlosung. Wo Privilegierte, sind auch Parias!
Die massenhafte Kinderverwahrlosung ist zweifellos das unfehlbarste und tragischste Zeichen für die schwere Lage der Mütter. In dieser Hinsicht ist selbst die optimistische Prawda gezwungen, zuweilen bittere Geständnisse zu machen. „Die Geburt eines Kindes ist für viele Frauen eine ernste Bedrohung ihrer Lage...“ Eben deshalb hatte die Revolutionsmacht der Frau das Recht auf Abtreibung gebracht, das, wo Not und Familienjoch bestehen, eines der bedeutendsten politischen und kulturellen Bürgerrechte ist, was darüber auch die Eunuchen und alten Jungfern beiderlei Geschlechts sagen mögen. Allein, auch dies an sich traurige Recht der Frau verwandelt sich bei faktischer sozialer Ungleichheit in ein Vorrecht. Vereinzelte in die Presse gedrungene Angaben über die Abtreibungspraxis sind wahrhaft erschütternd. So waren 1935 allein in einem einzigen Dorfkrankenhaus eines Bezirks im Ural „195 von den Engelmacherinnen verstümmelte Frauen“ gelegen, davon 33 Arbeiterinnen, 28 Angestellte, 65 Kolchosbäuerinnen. 58 Hausfrauen usw. Der Uralbezirk unterscheidet sich von den meisten anderen Bezirken nur dadurch, dass von ihm Kunde in die Presse drang. Wie viel Frauen werden tagtäglich auf dem gesamten Territorium der UdSSR verstümmelt?...
Nachdem der Staat seine Unfähigkeit bewiesen hatte, den Frauen, die zur Abtreibung Zuflucht nehmen mussten, die notwendige medizinische Hilfe und hygienischen Einrichtungen zur Verfügung zu stellen, änderte er jäh den Kurs und beschritt den Weg der Verbote. Wie auch bei anderen Gelegenheiten macht die Bürokratie aus der Not eine Tugend. Eines der Mitglieder des Obersten Sowjetgerichtshofs Solz, Spezialist in Ehefragen, begründet das bevorstehende Abtreibungsverbot damit, dass in der sozialistischen Gesellschaft, wo es keine Arbeitslosigkeit gibt. usw. usf., die Frau kein Recht habe, auf die „Mutterschaftsfreuden“ zu verzichten. Philosophie eines Pfaffen, der zudem die Macht des Gendarmen ausübt! Soeben erst vernahmen wir aus dem Zentralorgan der regierenden Partei, dass die Geburt eines Kindes für viele Frauen – richtiger wäre zu sagen, für die erdrückende Mehrheit – eine „Bedrohung ihrer Lage“ ist. Soeben erst hörten wir aus dem Munde der höchsten Sowjetinstitution: „Die Liquidierung der Kinderverwahrlosung und -nichtbeaufsichtigung wird schwach verwirklicht“, was zweifellos ein neues Wachstum der Kinderverwahrlosung bedeutet. Und da kündigt uns ein hoher Sowjetrichter an, im Lande wo es „eine Lust ist zu leben“ müssten Abtreibungen mit Gefängnis bestraft werden, genau ebenso wie in den kapitalistischen Ländern, wo das Leben eine Trübsal ist. Es ist von vornherein klar, dass in der UdSSR ebenso wie im Westen hauptsächlich Arbeiterinnen Dienstbotinnen, Bäuerinnen dem Kerkermeister in die Fänge geraten werden, da es für sie schwer ist, ihren Zustand zu verbergen. Was „unsere Frauen“ betrifft, die es nach guten Parfums und anderen schönen Dingen verlangt, so werden sie nach wie vor tun, was ihnen beliebt vor der Nase einer wohlwollenden Justiz. „Wir brauchen Leute“, ergänzt sich Solz vor den Besprisornyje die Augen verschließend. „Dann gebt euch nur Mühe und macht selber welche“, möchten die Millionen werktätiger Frauen dem hohen Richter antworten, hätte die Bürokratie ihnen nicht den Mund versiegelt, Diese Herren haben offenbar vollends vergessen, dass der Sozialismus die Ursachen, welche die Frau zur Abtreibung treiben, beseitigen und nicht ihr durch gemeines Eingreifen der Polizei in ihr intimstes Leben „Mutterfreuden“ aufzwingen soll.
Der Gesetzentwurf über das Abtreibungsverbot wurde zur sogenannten Volksdiskussion gestellt. Selbst durch das feine Sieb der Sowjetpresse drangen nicht wenig bittere Klagen und verhaltene Proteste. Die Diskussion wurde ebenso plötzlich eingestellt, wie sie begonnen worden war. Am 27. Juni machte das Zentralexekutivkomitee aus dem unverschämten Gesetzentwurf ein dreifach unverschämtes Gesetz. Selbst unter den geschworenen AdvokatInnen der Bürokratie geriet so manch einer in Verlegenheit. Louis Fischer erklärte diesen gesetzgebenden Akt für eine Art bedauerliches Missverständnis. In Wirklichkeit ist das neue Gesetz gegen die Frauen – mit Ausnahmen für die Damen – eine ganz gesetzmäßige Frucht der thermidorianischen Reaktion!
Die feierliche Rehabilitierung der Familie, die – welch ein Wunder der Vorsehung! – mit der Rehabilitierung des Rubels zusammenfiel, war durch ein materielles und kulturelles Versagen der Staates verursacht. Statt offen zu sagen: es zeigte sich, dass wir noch zu arm und zu roh sind, um sozialistische Beziehungen zwischen den Menschen zu schaffen, diese Aufgabe werden unsere Kinder und Enkel erfüllen, verlangen die FührerInnen, nicht bloß die Scherben der zerbrochenen Familie wieder zusammenzuleimen, sondern sie auch, unter Androhung schlimmster Strafen, als geheiligte Urzelle des siegreichen Sozialismus zu betrachten. Schwerlich ist das Ausmaß dieses Rückzugs mit bloßem Auge zu ermessen!
Alles und alle werden in den neuen Kurs mitgerissen: GesetzgeberInnen und BelletristInnen, RichterInnen und MilizionärInnen, Presse und Schule. Wenn ein naiver und aufrichtiger Jungkommunist sich erkühnt, an seine Zeitung zu schreiben: „Ihr tätet besser, euch mit der Lösung der Frage zu befassen, wie die Frau aus dem Schraubstock der Familie herauskommen soll“, so erhält er zur Antwort ein paar tüchtige Fausthiebe und – schweigt. Das ABC des Kommunismus wird für eine „ultralinke Abweichung“ erklärt. Die stumpfsinnigen und beschränkten Vorurteile des kulturarmen Spießertums erstehen wieder auf im Namen der neuen Moral. Und was geht im Alltagsleben in allen Ecken und Winkeln des unermesslichen Landes vor? Die Presse gibt nur in ganz winzigem Maße ein Bild von der Tiefe der thermidorianischen Reaktion auf dem Gebiet der Familie.
Da die edle Leidenschaft der Prediger zusammen mit den Lastern wächst, erlangt das siebente Gebot große Popularität in der herrschenden Schicht. Die Sowjetmoralisten brauchen die Phraseologie nur leicht aufzufrischen. Ein Feldzug hat begonnen gegen die allzu häufigen und leichten Scheidungen, Das schöpferische Denken des Gesetzgebers ersann bereits eine so „sozialistische“ Maßnahme wie die Erhebung einer Gebühr bei der Eintragung einer Scheidung, mit Zuschlägen im Wiederholungsfall. Nicht umsonst wiesen wir weiter oben darauf hin, dass die Wiedergeburt der Familie Hand in Hand geht mit einer Steigerung der erzieherischen Rolle des Rubels. Die Steuer erschwert zweifellos die Eintragung für alle, denen das Zahlen schwer fällt. Für die Spitzen bildet die Gebühr ja hoffentlich kein Hindernis. Außerdem regeln Leute, die gute Wohnungen, Automobile und andere schöne Sachen besitzen, ihre persönlichen Angelegenheiten ohne überflüssige Bekanntmachungen und folglich auch ohne Eintragungen. Ist ja die Prostitution nur am Bodensatz der Gesellschaft Bürde und Erniedrigung – an den Spitzen der Sowjetgesellschaft, wo Macht sich mit Komfort paart, nimmt die Prostitution die elegante Form kleiner gegenseitiger Gefälligkeiten und selbst die Gestalt der „sozialistischen Familie“ an. Von Sosnowski erfuhren wir bereits die Bedeutung des „Auto-Harem-Faktors“ in der Entartung der herrschenden Schicht.
Die lyrischen, akademischen und anderen „Freunde der Sowjetunion“ haben Augen, um nichts zu sehen. Unterdessen wird die Ehe- und Familiengesetzgebung der Oktoberrevolution, auf die man einst mit Fug und Recht stolz war, auf dem Wege umfassender Anleihen aus dem Gesetzesarsenal der bürgerlichen Länder umgestaltet und verkrüppelt. Wie um den Verrat noch den Stempel des Hohns aufzudrücken werden dieselben Argumente, die früher für die unbedingte Scheidungs- und Abtreibungsfreiheit ins Feld geführt wurden – „Befreiung der Frau“, „Verteidigung der Persönlichkeitsrechte“, „Schutz der Mutterschaft“ – heute für ihre Einschränkung oder völlige Aufhebung wiederholt.
Der Rückzug kleidet sich nicht nur in abscheuliche Heuchelei, sondern geht im Grunde viel weiter, als die eiserne Notwendigkeit der Wirtschaft es erfordert. Zu objektiven Ursachen, die durch die Rückkehr zu bürgerlichen Normen wie der Zahlung von Alimenten hervorgerufen sind, gesellt sich das soziale Interesse der herrschenden Schicht an der Ausweitung des bürgerlichen Rechts. Das gebieterischste Motiv für den heutigen Familienkult ist zweifelsohne das Bedürfnis der Bürokratie nach einer stabilen Hierarchie der gesellschaftlichen Beziehungen und nach der Disziplinierung der Jugend durch 40 Millionen Stützpunkte der Autorität und der Macht.
Als die Hoffnung noch lebendig war, die Erziehung der jungen Generationen dem Staat in die Hand zu geben, kümmerte sich die Macht nicht nur nicht darum, die Macht der „Alten“, insbesondere von Vater und Mutter, aufrechtzuerhalten, sondern trachtete im Gegenteil danach, die Kinder so viel wie möglich von der Familie zu trennen, um sie so vor den Traditionen der althergebrachten Lebensart zu bewahren. Noch ganz vor kurzem, während des ersten Fünfjahresplans, bedienten sich Schule und Komsomol weitgehend der Kinder, um den trunksüchtigen Vater oder die religiöse Mutter zu entlarven, zu beschämen, überhaupt „umzuerziehen“; mit welchem Erfolg, ist eine Frage für sich. Jedenfalls bedeutete diese Methode, die elterliche Autorität in ihren Grundfesten zu erschüttern. Heute ist auch auf diesem nicht unwichtigen Gebiet ein jäher Wechsel eingetreten: neben dem siebenten ist auch das fünfte Gebot wieder vollständig in seine Rechte eingesetzt, allerdings noch ohne Berufung auf Gott; aber auch die französische Schule kommt ohne dies Attribut aus, was sie nicht hindert, mit Erfolg Konservatismus und Routine zu züchten.
Die Sorge um die Autorität der Erwachsenen führte übrigens bereits auch zu einer Änderung in der Religionspolitik. Die Leugnung Gottes, seiner Gehilfen und seiner Wunder war von allen Keilen, welche die revolutionäre Macht zwischen Kinder und Eltern trieb, der spitzeste. Der Kampf gegen die Kirche überholte das Wachstum der Kultur, der ernsten Propaganda und wissenschaftlichen Erziehung und artete unter der Leitung von Leuten wie Jaroslawski oft in Mummenschanz und Unfug aus. Heute ist es mit der Himmelsstürmerei ebenso wie mit der Familienstürmerei vorbei. Besorgt um die Reputation ihrer Tüchtigkeit, wies die Bürokratie die jungen Gottlosen an, das Waffengeschirr abzulegen und sich hinter die Bücher zu setzen. In Bezug auf die Religion greift allmählich ein Regime ironischer Neutralität Platz. Doch das ist nur eine erste Etappe. Die zweite und die dritte wären unschwer vorherzusehen, wenn der Gang der Ereignisse nur von der obersten Gewalt abhinge.
Die Heuchelei der herrschenden Anschauungen entwickelt sich stets und überall im Quadrat oder in der dritten Potenz zu den sozialen Widersprüchen; so ungefähr lautet das historische Gesetz der Ideologien, übersetzt in die Sprache der Mathematik. Sozialismus, wenn er überhaupt diesen Namen verdient, bedeutet: menschliche Beziehungen ohne Gewinnsucht, Freundschaft ohne Neid und Intrigen, Liebe ohne niedrige Berechnung. Die offizielle Doktrin erklärt diese Idealnormen um so nachdrücklicher für bereits verwirklicht, je lauter die Wirklichkeit gegen diese Behauptungen protestiert. „Auf der Grundlage der tatsächlichen Gleichheit von Mann und Frau“, sagt zum Beispiel das neue Komsomolprogramm, das im April 1936 angenommen wurde, „bildet sich die neue Familie, um deren Blühen der Sowjetstaat bemüht ist“. Ein offizieller Kommentar ergänzt das Programm „Unsere Jugend kennt bei der Wahl des Lebensgefährten – Mann oder Frau – nur ein Motiv, einen Trieb: die Liebe. Die bürgerliche Interessen- oder Geldheirat existiert für unsere heranwachsende Generation nicht“. (Prawda, 4. April 1936). Soweit von einfachen Arbeitern und Arbeiterinnen die Rede ist, ist dies mehr oder weniger wahr. Aber die „Interessenheirat“ ist auch bei den ArbeiterInnen der kapitalistischen Länder verhältnismäßig wenig im Brauch. Ganz anders steht die Sache bei den mittleren und höheren Schichten. Die neuen sozialen Gruppierungen unterwerfen sich automatisch das Gebiet der persönlichen Beziehungen. Die Laster, die von Macht und Geld um die sexuellen Beziehungen geschaffen werden, blühen in den Kreisen der Sowjetbürokratie so üppig, als hätte sie sich in dieser Hinsicht zum Ziel gesetzt, die Bourgeoisie des Westens zu überholen.
Ganz im Widerspruch zu der soeben zitierten Behauptung der Prawda ist die „Interessenheirat“, wie die Sowjetpresse selber in Stunden zufälliger oder erzwungener Offenheit es zugibt, heute im vollen Umfange wiedererstanden. Befähigung, Verdienst, Stellung, Zahl der Tressen an der Militäruniform erlangen immer größere Bedeutung, denn damit verbunden sind Fragen wie Schuhe, Pelz, Wohnung, Badezimmer und höchster aller Träume – das Auto. Einzig und allein der Kampf ums Zimmer vereint und trennt täglich in Moskau keine geringe Anzahl Paare. Zu außerordentlicher Bedeutung gelangte die Verwandtenfrage: es ist nützlich, einen Militärkommandeur oder einflussreichen Kommunisten zum Schwiegervater oder die Schwester eines hohen Beamten zur Schwiegermutter zu haben. Soll man sich darüber wundern? Könnte dem anders sein?
Ein sehr dramatisches Kapitel im großen Sowjetbuch bildet die Erzählung von der Zwietracht und dem Zerfall der Sowjetfamilien, wo der Mann als Parteimensch, Gewerkschaftler, Militärkommandeur oder Verwalter emporstieg. sich entwickelte, neuen Geschmack am Leben fand, die von der Familie unterdrückte Frau aber auf dem alten Niveau blieb. Der Weg zweier Generationen der Sowjetbürokratie ist mit Tragödien zurückbleibender und verstoßener Frauen besät! Dieselbe Erscheinung ist heute in der jungen Generation zu beobachten. Die größte Rohheit und Grausamkeit ist wohl gerade an den Spitzen der Bürokratie anzutreffen, wo ein hoher Prozentsatz aus unkultivierten Emporkömmlingen besteht, die meinen, ihnen sei alles erlaubt. Die Archive und Memoiren werden einmal zu Tage fördern, welch geradezu kriminelle Verbrechen an den Ehefrauen und Frauen überhaupt begangen wurden von Seiten der gerichtlich nicht belangbaren Priester der Familienmoral und der obligatorischen „Mutterfreuden“.
Nein, die Sowjetfrau ist noch nicht frei, Die völlige Gleichberechtigung brachte bisher unvergleichlich größere Vorteile für die Frauen der oberen Schichten, die Vertreterinnen der bürokratischen, technischen, pädagogischen, überhaupt geistigen Arbeit, als für die Arbeiterinnen und besonders die Bäuerinnen. Solange die Gesellschaft nicht imstande ist, die materiellen Familiensorgen zu übernehmen, kann eine Mutter nur dann mit Erfolg eine gesellschaftliche Funktion ausüben, wenn ihr eine weiße Sklavin zu Diensten steht – als Kinderwärterin, Dienstmädchen, Köchin usw. Von 40 Millionen Familien, die die Bevölkerung der Sowjetunion bilden, gründen 5%, vielleicht auch 10% ihren „Herd“ direkt oder indirekt auf die Arbeit von Haussklavinnen und -sklaven. Die genaue Anzahl der Sowjetdienstboten wäre von nicht geringerer Bedeutung für eine sozialistische Beurteilung der Lage der Frauen in der UdSSR als die gesamte Sowjetgesetzgebung, so fortschrittlich sie auch sein mag. Aber eben deshalb versteckt die Statistik die Dienstboden in der Rubrik „Arbeiterinnen“ oder „Diverse“!
Die Lage einer Familienmutter, die eine geachtete Kommunistin ist, ihre Köchin hat, Bestellungen in den Kaufläden per Telefon erledigt, Auto fährt usw., hat wenig mit der Lage einer Arbeiterin gemein, die von Laden zu Laden laufen, selbst die Mahlzeiten zubereiten, die Kinder zu Fuß aus dem Kindergarten abholen muss – wenn überhaupt einer da ist. Keine sozialistischen Etiketten können diesen sozialen Kontrast verdecken der nicht geringer ist als der Kontrast zwischen einer bürgerlichen Dame und der Proletarierin in einem beliebigen Lande des Westens.
Die wirklich sozialistische Familie, der die Gesellschaft die Last der unerträglichen und erniedrigenden Alltagssorgen abnimmt, wird keiner Reglementierung bedürfen, und die bloße Vorstellung von Abtreibungs- oder Scheidungsgesetzen wird ihr nicht schöner erscheinen als die Erinnerung an Freudenhäuser oder Menschenopfer. Die Oktobergesetzgebung tat einen kühnen Schritt zu einer solchen Familie hin. Wirtschaftliche und kulturelle Zurückgebliebenheit erzeugten eine heftige Reaktion. Die thermidorianische Gesetzgebung geht zu den bürgerlichen Vorbildern zurück und verhüllt ihren Rückzug mit falschen Reden über die Heiligkeit der „neuen“ Familie. Das Versagen des Sozialismus verbirgt sich auch in dieser Frage hinter frömmelnder Respektabilität.
Es gibt aufrichtige Beobachter, die, besonders in der Frage der Kinder, erschüttert sind von dem Widerspruch zwischen den hohen Prinzipien und der hässlichen Wirklichkeit. Allein, eine Tatsache wie die grausamen Kriminalstrafen gegen verwahrloste Kinder kann einen denken lassen, dass die sozialistische Gesetzgebung zum Schutze der Frau und des Kindes nichts weiter ist als eine einzige Heuchelei. Es gibt den umgekehrten Typ von Beobachtern, die sich von der Weite und Großzügigkeit der Absicht bestechen lassen, wie sie in den Gesetzen und Verwaltungsorganen sich äußert; beim Anblick der mit dem Elend ringenden Mütter, Prostituierten und Besprisornyje sagen sich diese Optimisten, dass das weitere Wachsen des materiellen Reichtums allmählich den sozialistischen Gesetzen Fleisch und Blut verleihen wird. Es ist nicht leicht zu entscheiden, welche von diesen beiden Denkweisen falscher und schädlicher ist. Die Weite und Kühnheit des sozialen Plans die Bedeutsamkeit der ersten Etappen seiner Erfüllung und der eröffneten gewaltigen Möglichkeiten können nur Leute übersehen, die mit historischer Blindheit geschlagen sind. Doch andererseits kann man auch nicht umhin, sich über den passiven, im Grunde gleichgültigen Optimismus derer zu empören, die die Augen vor dem Wachsen der sozialen Widersprüche verschließen und sich mit Ausblicken auf eine Zukunft vertrösten, deren Schlüssel sie ehrerbietig in den Händen der Bürokratie zu belassen vorschlagen. Als ob die Rechtsgleichheit von Mann und Frau nicht bereits zur Gleichheit ihrer Rechtlosigkeit vor der Bürokratie geworden wäre! Und als ob es ein für allemal feststünde, dass die Sowjetbürokratie statt der Befreiung nicht auch ein neues Joch bringen könne.
Wie der Mann die Frau versklavte, wie der Ausbeuter sie sich alle beide unterwarf, wie die Werktätigen sich um den Preis ihres Bluts aus der Sklaverei zu befreien versuchten und nur ihre Ketten gegen andere vertauschten – von all dem weiß die Geschichte uns viel zu erzählen; ja im Grunde erzählt sie gar nichts anderes. Wie aber tatsächlich das Kind, die Frau, der Mensch befreit werden, davon gibt es noch keine positiven Beispiele. Die gesamte, durch und durch negative historische Vergangenheit fordert von den Werktätigen vor allen Dingen unversöhnliches Misstrauen gegen ihre privilegierten und unkontrollierten Vormünder!