Di 01.12.2009
Wer von uns, liebe Leserin, lieber Leser, hat sich je gemütlich und verstanden gefühlt bei den Unterrichtsstunden zu "Fortpflanzung des Menschen" oder "Geschlechtlich übertragbare Krankheiten"? Hat man da je etwas später Nützliches gelernt, wenn man Beschreibungen hört von einem ominösen Objekt vom Namen "Glied", das Flüssigkeit an einen weiteren, ebenso seltsamen Ort, der "Gebärmutter" heißt, "schießt"? Das alles führt dazu, dass Menschen, sowas wie wir, entstehen, wachsen, so wie sich Moos an einem dunklen, feuchten Ort einfach mal so bildet.
Bei wem es nicht so war, der hatte Glück und war eine Ausnahme. Ich hatte das Privileg, mit 16 zwei Stunden nur mit den Mädchen aus meiner Klasse einen Sexualpädagogen befragen zu können. Einen lockereren Typen, der das alles sehr unverkrampft erklärt hat und auch nicht außen vor gelassen hat, das Sex (-> s.o.) auch schön ist, etwas mit Emotionen zu tun hat, nicht nur "Menschenproduktion" ist.
Dieser Experte war allerdings von Pfizer bezahlt, einem Pharmakonzern, der natürlich auch ein Interesse daran hat, seine Produkte zu verkaufen. Wenn Pfizer diese und jene Antibabypille herstellt, wird einE SexualpädagogIn, der/die von dieser Firma bezahlt wird, vorrangig diese Verhütungsmethode empfehlen und wenig auf ihre Gefahren und Nachteile eingehen.
Von der Schule selbst kommen selten gute Angebote. Die meisten LehrerInnen sind selbst zu verklemmt dafür und für unabhängige Beratung fehlen meist Geld, Zeit und Interesse.
Menschenproduktion statt Spaß
Und warum ist die Schule, eine staatliche Organisation für die Bildung junger Menschen, auch keine tolle Quelle für Information? Dort wird Sex und Liebe Großteils als "Geschlechtsakt" dargestellt, also eine Tätigkeit bei der man Menschen, Humankapital, produziert. Und das hat nicht nur etwas mit der Verklemntheit von PädagogInnen und LehrplanerstellerInnen zu tun.
Wenn Sex als etwas, das Freude, und nicht nur Kinder produziert, dargestellt wird, dann spricht das für eine ganz bestimmte Weltanschauung: Frauen sind nicht nur da um Humankapital zu produzieren; Sex ist nicht geheim und pervers, sondern eine natürliche Sache, bei der jedeR gleich respektiert wird - also eine sehr offene, menschenfreundliche Weltanschauung. Ist aber eine solche "praktisch" verwertbar und wirtschaftlich für eine Wirtschaftsordnung wie den Kapitalismus? Wohl kaum, wer selbstbewusst und selbstbestimmt beim Sex ist, der/die ist das auch bei anderen Dingen – z.B. auch dem Chef gegenüber. Im Kapitalismus wird alles zu Ware – Sexualität und auch der Mensch an sich. Also steht auch in der Wissensvermittlung die Menschenproduktion im Vordergrund.
Sex und Wirtschaftszyklen
In der Tat gibt es einen Zusammenhang zwischen Frauenrechten und dem Bild von Sexualität (insbesondere weiblicher) und den Konjunkturzyklen. In Krisenzeiten wird das „traditionelle“ Frauenbild in den Vordergrund gerückt, in Aufschwungzeiten ist Moderneres angesagt:
Das zeigt sich schon an der Rocklänge – je tiefer die Krise, desto länger die Röcke. Die Mode in den sogenannten goldenen Zwanzigern ist zum Beispiel viel weniger einengend, kürzer und emanzipierter. Sie drückt das auch in sexuellen Fragen gewachsene Selbstbewusstsein von Frauen, aus. Das war die Folge von revolutionären Bewegungen nach 1917, entsprach aber auch den Bedürfnissen der Wirtschaft, die in Boomzeiten mehr Arbeitskräfte (also auch Frauen) brauchte.
Der Zweite Weltkrieg setzte auf „praktische“ Mode – und dennoch „feminin“. Frauen mussten Männerarbeiten verrichten, die ihren Gatten vorbehalten gewesen waren. Aber besagte Gatten waren tot. Lange Röcke, eine stark betonte Taille, großer Busen und breite Hüften statuierten zusätzlich ein konservatives Frauenbild – Frauen sollten viele Kinder kriegen (weil sie gebraucht wurden, waren uneheliche weit weniger verpönt als vorher) und sich um Kranke und Verwundete kümmern.
Darauf folgte das „Wirtschaftswunder“ des Wiederaufbaus – und siehe da, der Minirock wurde in den 60ern geboren. Frauen demonstrierten für ihre Rechte und die neue Stärke von Frauen war ein wesentlicher Teil der „sexuellen Revolution“ der 1970er Jahre. Dazu gehörte auch der weltweit geführte Kampf um das Recht auf Schwangerschaftsabbruch.
Zu simpel?
Klar, ganz so simpel ist es nicht – die ArbeiterInnen- und die Frauenbewegung hat viel erreicht. Das Bild von Sexualität ist heute ein anderes als vor 100 Jahren. Dennoch müssen wir die Frage stellen: „Ist es im Sinne derer, die für unsere Bildung zuständig sind, uns über unsere Möglichkeiten und Rechte auf dem Gebiet der Sexualität aufzuklären? Wollen sie auch sexuell selbstbewusste Menschen?“ Anscheinend nicht, sonst wäre die Situation nicht so, wie sie momentan ist. In Anlehnung an ein berühmtes Zitat, das wohl auch beim Sex gilt: "Die herrschende Meinung ist immer die Meinung der herrschenden Klasse.“