Venezuela nach dem Referendum - Interview mit einem venezolanischen Sozialisten

Am vergangenen Sonntag fand in Venezuela ein Referendum über Verfassungsänderungen statt, die vom Präsidenten Hugo Chávez vorgeschlagen wurden. Zum ersten Mal seit seiner Wahl im Jahr 1999 verlor Chávez eine Abstimmung, wenn auch mit denkbar knapper Mehrheit (50,29% versus 49,59%, die mit „Ja" gestimmt haben). Sozialismus.info (die homepage der deutschen Schwesterorganisation der SLP) sprach mit Jara, Mitglied von Colectivo Socialismo Revolucionario, der venezolanischen Gruppe des CWI.

Wie hat sich die Situation für die venezolanischen Massen seit 1999, als Chávez seine erste Präsidentschaft antrat, verändert?

Es gab wichtige Veränderungen beim Zugang zu sozialen Diensten. Bis 1998 waren fast alle Bereiche privatisiert worden – nicht nur der Wirtschaft, sondern auch Schulen, Krankenhäuser etc. Seit 1998 hingegen wurden die sehr niedrigen Niveaus von Einschulungen und Zugang zu medizinischen Leistungen drastisch verbessert. Ein weiteres Beispiel ist das der Armut, welche bei über 80 Prozent der Bevölkerung lag – darunter fast 30 Prozent, die in extremer Armut lebten, also mit weniger als zwei US-Dollar pro Tag auskommen mussten. Insofern haben die „Missionen" genannten sozialen Reformen, die Chávez einführte – Alphabetisierungskampagnen, von denen 1,5 Millionen Menschen profitierten und durch die der Analphabetismus praktisch völlig verschwand, die Gesundheitsoffensive „barrio adentro", welche dazu führte, dass selbst in den entlegensten Winkeln des Landes Gesundheitsstationen mit Ärzten zur Verfügung stehen, Schulprogramme, von denen eines allein einer halben Millionen Menschen eine weiterführende Schulbildung ermöglichte, die ansonsten aus wirtschaftlichen Gründen darauf hätten verzichten müssen – einen großen Teil der Gewinne aus der Ölwirtschaft zugunsten der Bevölkerung genutzt. Heutzutage werden mehr als 30 Prozent des Haushaltes für Bildung, Gesundheit und Breitensport ausgegeben! Und das Niveau der extremen Armut fiel auf unter zehn Prozent!.

Ein anderer Bereich ist der der politischen Beteiligung. Seit 1999, aber insbesondere seit der Niederschlagung des Putschversuches im April 2002 durch die Massen, gab es ein großes Wachstum von Basiskomitees zu Themen wie Land, Gesundheit, Bildung etc.

Warum wurden die Verfassungsänderungen im Referendum abgelehnt?

Ein Hauptgrund waren die internen Widersprüche des „bolivarischen" Prozesses. Es ist ein Staatsapparat entstanden, der sich „sozialistisch" nennt, aber nicht mit den Grundlagen des kapitalistischen Systems gebrochen hat. Um ein Beispiel zu geben: In Venezuela haben fünf Familien einen großen Teil der Wirtschaft unter ihrer Kontrolle, mit so wichtigen Sektoren wie dem Lebensmittelsektor, der Medien, der Banken etc. Daher war es ihnen möglich, großen Druck auf die Regierung auszuüben – insbesondere in den letzten drei Monaten, als sie die Unzufriedenheit der Bevölkerung über den Anstieg der Lebenshaltungskosten geschürt und politisch benutzt haben.

Ein zweiter Grund liegt darin, dass die Massen, welche der Chávez"schen Politik treu gefolgt sind und den Prozess unterstützt haben, gemerkt haben, dass es zwar in der Vergangenheit große Fortschritte ihren Lebensbedingungen gegeben hat, aber dass die Bürokratie unfähig war, die Grundbedürfnisse der Menschen zu befriedigen, wie Armut, Sicherheit und Infrastruktur. Und diejenigen, die besonders von den Veränderungen profitiert haben, sind die Mittel- und Oberklasse.

Ebenso wichtig ist, dass es eine Art friedlichen Protest eines Teils der Chavistas gegeben hat – 44 Prozent Wahlenthaltung sind ein deutliches Zeichen.

Welche Auswirkungen wird das Ergebnis haben?

Ich würde drei mögliche Entwicklungen unterscheiden:

  • Es könnte eine Stärkung der Rechten bei den zukünftigen Wahlprozessen geben, denn der Sieg des „Nein" ist des erste Mal seit neun Jahren, dass die Opposition einen Wahlsieg erringen konnte.
  • Bestimmte Sektoren des Chávismus, insbesondere die Bürokratie, könnten glauben, dass ein Zurückweichen ansteht, d.h. bei progressiven Entscheidungen könnte der „bolivarische" Prozess konservativer werden.
  • Vielleicht ist dies der Anfang von heftigeren Kämpfen zwischen der politischen Rechten und der Linken um die Frage „Vertiefung des Prozesses oder Rückschritte bzw. Abweichungen."

Was auch nicht außer acht gelassen werden sollte, sind die internationalen Auswirkungen – und hier besonders in Bolivien und Ecuador. Das Ergebnis kann negative Effekte haben, wenn man bedenkt, dass die pro-imperialistische Rechte in allen lateinamerikanischen Ländern die gleiche ist.

Welche Vorschläge würden Sozialisten in der aktuellen Situation machen?

Erstens sollte man nicht glauben, dass die Ablehnung der Verfassungsänderungen automatisch einen Stillstand des „bolivarischen" Prozesses bedeutet, denn viele der Reformen können auch ohne sie gemacht werden: Die geplante Arbeitsrechtsreform [es ist geplant, den Arbeitstag von acht auf sechs Stunden zu verkürzen, AdÜ] könnte sofort umgesetzt werden, ebenso die verbesserte Sozialgesetzgebung und vieles mehr.

Wir arbeiten in der PSUV, der neuen Partei, die von Chávez gegründet wurde. Wir stimmten mit ihm überein, als er sagte, dass die PSUV eine demokratische, von unten aufgebaute Partei sein muss, die von der Basis kontrolliert wird. Chávez sagte, dass, wenn die neue Partei unter der Kontrolle der Führungen alten pro-Chávez-Parteien endet, das Projekt PSUV gescheitert sein würde. Es ist noch zu früh, um zu sagen, ob dies der Fall sein wird, aber unsere ersten Erfahrungen mit den Wahlen für Delegierte zur Gründungskonferenz zeigen, dass es eine große Gefahr gibt, dass die PSUV von Regierungsleuten gekapert wird, die nicht die Interessen der Arbeiterklasse verteten. Dies macht die Notwendigkeit deutlich, dass die Arbeiterklasse und die Armen für demokratische Kontrolle über die neue Partei kämpfen oder ihre eigenen Organisationen aufbauen müssen. Wir brauchen unsere eigene unabhängige Organisation, um für die Rechte und Bedürfnisse der ArbeiterInnen und der Armen zu kämpfen und um die positiven Reformen der Regierung zu verteidigen.

Der einzige Weg, die rechte Opposition zu bekämpfen und die Reformen zu retten, ist die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien, das Stoppen der wirtschaftlichen Sabotage und die Einführung eines landesweiten demokratischen Produktionsplans. Wir brauchen Arbeiterkontrolle und -demokratie, um die Korruption und die Bürokratie zu bekämpfen.

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