Do 06.09.2007
Dies ist ein Rückbericht zum Lateinamerika-Arbeitskreis der CWI-Sommerschulung 2007, zu der sich jedes Jahr hunderte AktivistInnen aus aller Welt in Gent, Belgien einfinden. Auf der Schulung wird über die aktuelle politische Entwicklungen und die Perspektiven für die Zukunft diskutiert. Dieser Bericht umfasst nicht nur die Beiträge, die im Lateinamerika-Arbeitskreis gemacht wurden, sondern bezieht auch die Diskussionen, die außerhalb des Arbeitskreises in den Plenardiskussionen geführt wurden, mit ein und versucht so einen Eindruck der aktuellen Lage in Lateinamerika zu geben. Es ist jedoch unmöglich hier alle Entwicklungen im Detail zu beleuchten, deshalb liegt der Fokus auf Brasilien, Bolivien und Venezuela.
Lateinamerika ist ein Kontinent im Aufruhr, Klassenkämpfe nehmen zu und unter dem Druck der Massen gehen viele Regierungen nach links, und das nicht nur in Venezuela und Bolivien. In Peru gingen am 5. Juli 2007 30.000 Menschen gegen Verschlechterungen im Lehrbereich auf die Straße. In Paraguay deklarierte sich ein Ex-Bischof und Befreiungstheologe als „Sozialist“, Duarte, der Präsident des Landes spricht von sich ebenfalls als „Sozialist“. In Ecuador bekennt sich der Präsident Correa zum „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“.
In Nicaragua ist Daniel Ortega dieses Jahr wieder zum Präsidenten gewählt worden. Ortega ist der führende Kopf der Sandinisten, die Ende der 70er-Jahre im Zuge einer Revolution gegen die Somoza-Diktatur an die Macht kamen, jedoch nicht mit dem Kapitalismus brachen und stattdessen durch Verstaatlichungen ein System der Mischwirtschaft einführten. In den 90er-Jahren gingen die Sandnisten nach rechts: Ortega bildete eine Allianz mit den Contras und trat z. B. für die Abschaffung des Rechtes auf Abtreibung ein. Deshalb ist die Abtreibung in Nicaragua heute verboten – selbst, wenn das Leben der Frau gefährdet ist. 35% des Budgets Nicaraguas ist von den USA abhängig. Um Nicaragua aus dem Würgegriff des IWF zu befreien, liefert Venezuela billiges Öl und versprach, in Nicaragua eine Ölraffinerie um 400 $ zu bauen.
Brasilien wird vom ehemaligen Gewerkschafter Lula regiert, der jedoch nun mit dem IWF kooperiert und Kürzungen und Privatisierungen umsetzt. Hier bekam die P-Sol-Kandidatin 7 Millionen Stimmen! Die P-Sol ist eine neu entstandene ArbeiterInnenpartei, die aus Abspaltungen von der PT (Arbeiterpartei, Partei Lulas) entstand, und der sich mittlerweile viele linke Aktivisten und Gruppen angeschlossen haben. Die brasilianische Sektion des CWI arbeitet sowohl innerhalb der P-Sol, behält aber auch ihr eigenständiges Profil bei.
Lula wurde 2002 zum ersten Mal Präsident, und 2006 trotz seiner neoliberalen Politik wiedergewählt: Viele Menschen sahen keine andere Alternative, allerdings wurde Lula wegen der Kandidatur der P-Sol erst im 2. Wahlgang gewählt. Das Ansehen der Lula-Regierung in der Bevölkerung ist untergraben. So lud beispielsweise die MST (Landlosenbewegung) Lula nicht zu ihrem Kongress ein. Der öffentliche Dienst wurde demontiert, der Zugang zur Gesundheitsvorsorge wird immer schwieriger, und es werden Angriffe auf das Streikrecht im öffentlichen Dienst diskutiert. Auf der anderen Seite sind die brasilianischen Banken die profitabelsten Banken weltweit. Als Reaktion auf Kürzungen an den Universitäten kam es dieses Jahr zu einem gemeinsamen Streik von StudentInnen und ProfessorInnen. Daraufhin musste die Regierung zwei neue Aufenthaltsräume und eine Kantine bauen. Im Mai kam es zu spontanen Demonstrationen gegen die Regierung, die auch von der Gewerkschaft und der MST unterstützt wurden.
Im Wahlkampf ging die P-Sol jedoch nach rechts und es kam zu einer polarisierten Diskussion zwischen verschiedenen Gruppen der P-Sol. Der erste Kongress der P-Sol war ein Schritt zurück, weil z.B. die ursprüngliche Forderung nach Nicht-Zahlung der Schulden zur schwammigen Forderung nach einer Revision des Budgets umgemodelt wurde und das Antreten bei Wahlen zur obersten Priorität erklärt wurden. Es gab jedoch auch Schritte nach vorne, wie z. B. die Forderung nach Legalisierung der Abtreibung. Heloísa Helena (die Hauptfigur der P-Sol) hat alles unternommen um diese Schritte nach vorne zu verhindern. Im Gewerkschaftsbereich haben sich zwei Gewerkschaftsinitiativen, die mit der PT gebrochen haben und im Einflussbereich der P-Sol stehen, vereint.
Die P-Sol hatte zu Anfang ein Programm, das den Sozialismus forderte. Nur Heloísa Helena vertritt die Etappentheorie (dass der Kampf für Sozialismus keinen Sinn mache, solange keine bürgerliche Gesellschaft erichtet worden ist und eine Landreform durchgeführt wurde). Die Frage ist jedoch vielmehr, wie dieses Programm in der Praxis umgesetzt wird. Wenn es in der Praxis zu konkreten Fragen kommt, werden dehnbare Forderungen aufgestellt. Es zeigt sich hier eine Kluft zwischen radikalen Reden einerseits, und einem Rechtsruck in der praktischen Politik der P-Sol andererseits. Diese Situation hat Debatten innerhalb der P-Sol ausgelöst, in die die brasilianische Sektion des CWI interveniert und sich dadurch auch schon verbreitern konnte.
Bolivien kann als das explosivste Land auf dem Kontinent bezeichnet werden. 62% der Bevölkerung sind Indigene und Morales ist der erste Präsident, der selbst aus dieser Bevölkerungsschicht kommt. Zu seiner Wahl haben zwei Hauptforderungen geführt: Die Verstaatlichung der Öl- und Gasvorkommen und die Bildung einer konstituierenden Versammlung um ein „neues Bolivien“ zu schaffen. Bereits nach den ersten 100 Tagen seiner Regierung gab es Demonstrationen, um Druck aufzubauen, dass er seine Wahlversprechen auch einhält. Die Massen in Bolivien haben eine lange historische Tradition an Kämpfen und daher einen hohen Bewusstseinsgrad: Sie sind bereit für ihre Forderungen zu kämpfen. Diese Situation gibt Morales wenig Spielraum in seiner Politik. In Cochabamba sagte Morales, dass der Besitz der Fabriken durch eine Minderheit nicht gut ist und er bezeichnete den Kapitalismus als ärgsten Feind der Menschheit. Garcia, der ideologisch führende Kopf der MAS (Bewegung für den Sozialismus, Partei von Morales) strebt programmatisch jedoch ein kapitalistisches System mit staatlichem Einfluss in weiten Bereichen der Wirtschaft an.
2006 war Morales gezwungen die Gas- und Ölvorkommen zu verstaatlichen, es handelte sich dabei jedoch nicht um eine wirkliche Verstaatlichung, sondern um eine Neu-Verhandlung der Verträge mit den Firmen. Weiters kündigte er die Verstaatlichung der Bahn an. Obwohl die ArbeiterInnenklasse in Bolivien in der Minderheit ist, hat sie – v. a. die Bergarbeiterschaft – eine militante Tradition an Kämpfen. Die Bergarbeiter führten voriges Jahr einen Kampf für die Verstaatlichung aller Minen. Nachdem es im Oktober zu blutigen Auseinandersetzungen kam, versprach die Regierung die Verstaatlichung.
Die konstituierende Versammlung setzt sich aus allen politischen Parteien zusammen, auch die rechte Opposition kann durch ein Veto die Sitzung blockieren. Morales unterschätzte die rechte Opposition und auch ihre Möglichkeiten im Osten des Landes, der die meisten Rohstoffe besitzt, die Bevölkerung durch eine autonomistische Hetze gegen Morales aufzubringen. In Bezug auf die konstituierende Versammlung fordert die bolivianische Sektion des CWI, dass demokratisch gewählte Komitees der Bevölkerung mit jederzeitiger Wähl- und Abwählbarkeit über die weiteren Schritte in Bolivien entscheiden sollten. Durch die autonomistische Hetze der Rechten im Osten des Landes ist die Situation momentan äußerst instabil und es ist möglich, dass ein Bürgerkrieg ausbricht. Die Opposition versucht, die Regionen gegeneinander auszuspielen. So begann sie z. B. eine Kampagne, dass die Regierungsgebäude, die sich in La Paz (im Norden) befinden, in die Hauptstadt Sucre (im Osten) verlegt werden sollen. Morales reagierte auf die Provokation, indem er die Bevölkerung zu einer Demonstration für La Paz aufrief. Die Demonstration zählte ca. 1 Millionrn TeilnehmerInnen. Bei einer EinwohnerInnenzahl von ca. 9 Millionen Menschen, ist dies eine beachtliche Größe.
2006 deklarierte die Gewerkschaft der Industriearbeiter, dass es für Bolivien nur zwei Optionen gebe: Barbarei, Krieg und Elend oder der Sieg des Sozialismus. Morales sei nicht das geeignete Instrument um Sozialismus durchzusetzen, sondern dafür brauche es eine unabhängige ArbeiterInnenpartei. Dies ist ein Ausdruck für das vorhandene Potential in Bolivien.
In Venezuela entwickelte sich Chavez seit seiner Wahl nach links. So verstaatlichte er z. B. die Elektrizität. Die Armut konnte von 55% auf 34% reduziert werden, der Anteil für Sozialausgaben am Sozialprodukt stieg von 7,8% auf 14,6% an. Analphabetismus ist so gut wie beseitigt und die Infrastruktur wurde verbessert. Unter der Bevölkerung gibt es deshalb große Unterstützung für Chavez. Trotzdem muss betont werden, dass Chavez die fundamentalen Interessen der Kapitalisten nicht angetastet hat. Der Privatsektor in der Ölwirtschaft, beispielsweise, expandiert noch immer (2005: 11% Wachstum, 2006: 10%). Bei den durchgeführten Verstaatlichungen – z. B. bei der Verstaatlichung der Telekommunikation – kaufte die Regierung die Firmen um teures Geld zurück. Bei der Telekommunikation geschah dies durch geheime Verhandlungen zwischen Staat und Unternehmen ohne Miteinbeziehung der ArbeiterInnen. In den verstaatlichten Firmen gibt es keine ArbeiterInnendemokratie und –kontrolle.
Die venezuelanische Sektion des CWI fordert die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien und ihre Weiterführung unter ArbeiterInnenkontrolle. Auch Chavez’ Modell der „Cogestion“, was so viel bedeutet wie „Co-Management“ bietet hier keine radikale Alternative, sondern ist im Grunde mit dem europäischen Mitbestimmungsmodell durch BetriebsrätInnen vergleichbar.
Chavez hat nun das Projekt der „Vereinigten Sozialistischen Partei“ oder (je nach Übersetzung) der PSUV, der "Sozialistischen Einheitspartei" begonnen. Nach offiziellen Angaben sind ihr bereits ca. 5 Millionen Menschen beigetreten. Es gab bereits Massentreffen, aber keine lokalen Treffen, wo Menschen diskutieren können. Im Gegenteil, es gibt keine demokratischen Strukturen, sondern die Partei wird von oben kontrolliert.
Die venezuelanische Sektion des CWI arbeitet innerhalb der PSUV, hat sich jedoch nicht in ihr aufgelöst, wie dies andere linke Gruppen taten. Im Gewerkschaftsbereich arbeitet das venezuelanische CWI in der UNT (Dachverband der Chavisten) mit den „Classistas“ (linker Flügel) zusammen und setzt sich für demokratische Strukturen von unten nach oben ein.
Dieses Jahr entzog Chavez dem Sender RCTV die Lizenz. In den Medien weltweit war daraufhin ein Aufschrei zu vernehmen, dass in Venezuela die Meinungsfreiheit bedroht sei. Das CWI betont einerseits die Scheinheiligkeit des Imperialismus, der kein Problem damit hat, Diktaturen zu unterstützen, wenn sie in seinem Interesse stehen. Andererseits ist das CWI der Ansicht, dass es ein bürokratischer Schritt und taktischer Fehler von Chavez war, dem Sender die Lizenz zu entziehen. Denn es geht auch um die Frage wie und zu welchem Zeitpunkt solch ein Schritt gesetzt wird. Chavez hat diese Entscheidung ohne eine vorangegangene breite gesellschaftliche Debatte getroffen und für viele Menschen ist sie nicht nachvollziehbar. Für das CWI ist hier die Frage der ArbeiterInnenkontrolle der Medien zentral. RCTV hat den Putschversuch gegen Chavez unterstützt und dabei eine manipulierende Berichterstattung betrieben, indem er Bilder in den falschen Zusammenhang stellte. RCTV war jedoch in der momentanen Situation kein wichtiger Punkt für die Opposition, jetzt aber hat die Opposition die Möglichkeit für sich nutzen können, um z. B. unter StudentInnen in Venezuela populärer zu werden und ihre Position in der Gesellschaft zu stärken. Abgesehen davon kann RCTV zwar nicht mehr über den staatlichen Kanal, aber trotzdem über andere private Kanäle weitersenden.