Do 20.07.2006
Jesse Díaz ist Mitbegründer des Bündnisses für den Marsch am 25. März, das eine Demonstration für MigrantInnen-Rechte mit mehr als einer Million TeilnehmerInnen organisierte. Über dieses Bündnis gab Jesse auch den Aufruf „Gran Paro Americano 2006“ für einen landesweiten Boykott der Arbeiterinnen mit Migranten-Hintergrund am 1. Mai heraus, wo Millionen auf die Straße gingen, die Arbeit niederlegten und nicht zur Schule kamen. Hank Gonzalez von Justice führte mit Jesse jüngst ein Interview über die Anfänge der Bewegung für MigrantInnen-Rechte und die zukünftige Entwicklung dieses historischen Kampfes.
Hank Gonzalez (HG): Kannst du die Kampagne für die Demo am 25. März kurz vorstellen?
Jesse Díaz(JD): Am Ende dieser Kampagne haben wir gesehen, wie sich die Leute eigenständig organisierten und mobilisierten. Es war eine echte Massenmobilisierung.
Als die Mainstream-Medien zu unserer Pressekonferenz kamen und wir unsere Einschätzung abgaben, dass wir mit einer Million TeilnehmerInnen rechnen würden, wurde uns nicht geglaubt. Die Polizei schätzte die Teilnehmerzahl auf 500.000, allerdings sprach eine Nachrichtensendung auch von 1,7 bis 2 Millionen Menschen – und diese Zahl basiert auf den Luftaufnahmen von der Demo.
Als ich auf die Bühne ging und einige Worte sagte, reagierten die Leute auf die Idee des Boykotts. Ein wahrer Aufschrei ging daraufhin durch die Menge, die den Boykott wollte.
HG: Wie kam es dazu, dass die Demoleitung in LA eine solch kühne Forderung aufstellte?
JD: Vergangenen Sommer arbeitete ich in dem Bündnis La Tierra es de Todos mit. Daran waren weder größere Organisationen noch PolitikerInnen beteiligt. Wir handelten buchstäblich ohne die Unterstützung des Establishments. Dennoch organisierten wir Leute, die in die Wüste fuhren und dort die Minutemen (Freiwillige, die die Südgrenze der USA sichern und „illegale Einwanderer“ einfangen) erfolgreich konfrontierten.
Nachdem das Gesetz HR 4437 im Dezember 2005 das Repräsentantenhaus passiert hatte, kam ich in Kontakt mit der Placita Olvera Pro-Immigrant Working Group. Diese organisierte Aktionen, Kundgebungen, Mahnwachen und veröffentlichte Petitionen. Ich kam dann dazu und sagte, dass sie eine Massenmobilisierung beginnen sollten.
Zuerst dachten die Leute, wir seien verrückt. Niemand beteiligte sich und keineR unterstützte unsere Gruppe. Einige glaubten auch nicht wirklich an so eine Massenmobilisierung. Schließlich brachte die Kampagne für den Marsch am 25. März die etablierten Medien, aber auch langjährige AktivistInnen und WortführerInnen aus der Community dazu, mit an Bord zu kommen.
Etliche linke Gruppen traten dem Bündnis bei. Unter ihnen auch MAPA, die Mexican American Political Association (Mexikanisch-amerikanische politische Vereinigung). Es handelt sich immer noch um eine alternative, linke Gruppe. Aus diesem Grund wurden wir auch von Seiten der extremen Rechten und diesen ganzen Leuten stark angegriffen. Sie sehen, dass wir ArbeiterInnen sind und dass wir erfolgreich sind. Auch wissen sie, dass die Biografien einiger unserer Mitglieder in den Auseinandersetzungen von 1986 eingebettet sind, als sie die letztmalige Amnestie durchführten. Deshalb profitiert auch unsere Gruppe von dieser Geschichte und führt dazu, dass wir eine gewisse Autorität genießen.
HG: Welches Denken stand hinter dem 1. Mai?
JD: Voraussetzung für den Boykott war die Erkenntnis, dass die US-amerikanische Wirtschaft extrem von der Arbeitskraft der MigrantInnen abhängig ist. Als wir gegen die Minutemen in Aktion traten, machten wir die Erfahrung, dass die ImmigrantInnen scheinbar der Bodensatz der Ökonomie sind. Untersuchungen haben aber gezeigt, dass ImmigrantInnen stetig mehr in die Gesellschaft einfließen lassen als sie heraus bekommen.
Darüber erkannte ich, dass die einzige Möglichkeit diesen Fakt klar zu machen darin besteht, alle MigrantInnen zu einem Boykott und dazu aufzurufen ihre Arbeit niederzulegen. Als dann die Lastwagenfahrer aus dem Hafen von LA zu uns stießen, wussten wir, dass es eine große Sache in Bezug auf die Arbeiterschaft werden würde. Vielfach waren die ArbeiterInnen mit dem drohenden Verlust ihrer Arbeitsplätze konfrontiert. Und trotzdem gingen sie nicht zur Arbeit. Du konntest somit überall, wo du hinsahst, eine Art landesweiten Ferientag erleben. So etwas habe ich niemals vorher irgendwo erlebt. Es kam einem wie Zauberei vor.
Ich denke, dass wir die Tragfähigkeit unserer Gedanken bewiesen haben. Samstags standen dann Kardinal Mahoney und Bush auf der Titelseite der Los Angeles Times – gegen den Boykott. Sie brachten das ganze Zeug von „Gastarbeitern“, dem „Weg in die Staatsbürgerschaft“ und den ganzen B.S. (=Bullshit; Anm. d. Übers.). In der Folgewoche änderte dann Bush sein Verhalten. Er besuchte Orange County, die Geburtsstätte der Minutemen und eine der konservativsten Gegenden Kaliforniens und sagte, dass „es realistisch betrachtet keine Möglichkeit gibt, 12 Millionen Menschen ohne Papiere abzuschieben“.
Am 24. März, dem Tag vor dem Marsch, war das „Sensenbrenner-Gesetz“* noch in Kraft. Nach dem Marsch, am 27. März, begann dann die Debatte im Senat. Diese ließ die Ansichten von George Bush von „Gastarbeitern“ zum „Weg in die Staatsbürgerschaft“ ändern. Sind wir damit nun zufrieden? Nein. Das war nicht unser Ziel – es ist nichts als ein Programm, das das Gastarbeiter-Dasein verherrlicht. Einer unserer Ansätze zur Geschlossenheit steht vollkommen gegen alles, was auch nur den Anschein hat, ein Gastarbeiter-Programm zu sein. Also haben wir die bundesweite Diskussion durch die Massenmobilisierung des Bündnisses für den Marsch am 25. März in LA zugespitzt.
Wir treten weiterhin für die sofortige, volle, bedingungslos Anerkennung der Illegalisierten ein – das ist die Crux der Bewegung. Schon jetzt führt die INS* hier und da Razzien durch und du merkst, dass die Mainstream-Medien nichts davon berichten. Die Community sammelt die Berichte darüber. Die Razzien haben tiefe Folgen für unsere Communities. Die Leute gehen nicht mehr zum Arzt oder ins Krankenhaus, Eltern schicken ihre Kinder nicht länger zur Schule. In den kommenden Monaten steht noch ein harter Weg vor uns.
HG: Unterstützt die Bewegung für Migranten-Rechte in Kalifornien irgendeine unabhängige Wähler-Gemeinschaft?
JD: Einige in unserer Gruppe unterstützen die Grüne Partei (deren Kandidat Ralph Nader bei den Präsidentschaftswahlen war). Andere stehen immer noch hinter der Demokratischen Partei, allerdings handelt es sich bei diesen um fortschrittlichere Demokraten. Ich denke, dass du nicht beides haben kannst. Du kannst nicht Mitglied der Bewegung für Migranten-Rechte sein und gleichzeitig eine gemäßigte Position einnehmen. Von Zeit zu Zeit musst du dich dafür entscheiden, der Bewegung gegenüber loyal zu bleiben. Du musst den Leuten gegenüber aufrichtig sein und kannst deine Ziele nicht einfach verkaufen.
Es gibt Menschen, die auf der Suche nach alternativen Parteien sind. Ich glaube, dass das weiter zunimmt. Meiner Meinung nach wird sich der Wind drehen. Ich denke, dass die Debatte um den Aufbau einer dritten Partei (neben Republikanern und Demokraten; Anm. d. Übers.) den ArbeiterInnen sehr nahe kommen wird – von daher wird diese dritte Kraft eine Partei der ArbeiterInnen oder eine Arbeiterpartei sein. Das ist die Vorstellung, die jedeR in der Unterschicht, der Arbeiterklasse, hat. Und die Mittelschicht würde wirklich dabei sein, wenn sie den Schaden realisiert, den Demokraten und Republikaner anrichten.
Die ausführliche Fassung dieses Interviews findet ihr auf der Website www.SocialistAlternative.org unter dem Originaltitel: „Interview with Jesse Díaz of the L.A. March 25th Coalition“.
* Sensenbrenner bill = Nach dem Vorsitzenden des Justizausschusses des Repräsentantenhauses, James Sensenbrenner, benanntes Gesetz, das im Dezember 2003 in Kraft trat und vorsieht, „illegal“ in den USA lebende MigrantInnen strafrechtlich zu verfolgen. Zudem soll eine 1.100 Kilometer lange Mauer an der mexikanisch-US-amerikanischen Grenze Menschen an der Einwanderung hindern. Außerdem soll kriminalisiert werden, wer MigrantInnen bei ihrem Grenzübertritt in die USA Unterstützung leistet.
Selbst konservative Kommentatoren kritisierten damals das „Sensenbrenner-Gesetz“ als rassistisch.
* INS = United States Immigration and Naturalization Service; US-Behörde für Migration und Einbürgerung.