Mo 06.09.2021
Aktuelle Ergänzung:
Am 10. August, nachdem dieser Artikel bereits zum ersten Mal veröffentlicht wurde, hat der Vorstand der HKPTU die Gewerkschaft, die 1973 gegründet worden ist, formell aufgelöst. Dass es zu dieser katastrophalen Situation kommen würde, war – wie aus unserem Ursprungsartikel hervorgeht – leider schon klar, weil die Gewerkschaftsführung zuvor vor den ungeheuerlichen Angriffen und der Hetzkampagne der Regierung kapituliert hatte. Dieser neue Schritt bestätigt noch einmal, wie dringend nötig eine komplett neue Herangehensweise ist, will man die Gewerkschaftsarbeit und den Kampf gegen den Autoritarismus neu aufbauen. Es muss ein Ansatz sein, der auf der Solidarität und dem Klassenkampf aufbaut. Vor allen Dingen muss Solidarität zwischen den Arbeitnehmer*innen in Hong Kong und denen in Festland-China aufgebaut werden, wobei enge Verbindungen zur internationalen Arbeiter*innenbewegung eine entscheidende Rolle spielen müssen.
Am 31. Juli dieses Jahres haben die vom Regime in China kontrollierten Medien damit begonnen, Attacken gegen die HKPTU („Hongkong Professional Teachers Union“), die größte Gewerkschaft in Hongkong, zu fahren. Die wichtigste Tageszeitung der „Kommunistischen Partei Chinas“ (KPCh), die „People’s Daily“, verwendete eine faschistische Sprache und bezeichnete die HKPTU als „bösartigen Tumor“, der „herausgeschnitten“ werden muss. Die Anschuldigungen, die die KPCh gegen die Gewerkschaft ins Feld führte und die typisch sind für ihre Propaganda von „außenstehenden Provokateuren“, bestehen darin, dass die HKPTU vor allem während der Massenproteste von 2019 ihre Mitglieder und die Studierenden aufgestachelt habe, gegen die Diktatur zu revoltieren. Damals waren über zwei Millionen Menschen auf die Straße gegangen. Alle, die an diesen Protesten teilgenommen haben, wissen, dass die Führung der HKPTU keine besonders große Rolle dabei gespielt und im Gegenteil den Kampf sogar behindert hat.
Völlige Vereinnahmung durch Festland-China
Ganz den Vorgaben der Obrigkeit folgend vollstreckte das Bildungsministerium von Hongkong („Education Bureau“) den Willen des Regimes nur wenige Stunden, nachdem besagte Ausgabe der „People’s Daily“ erschienen war. Der Gewerkschaft, die 95.000 Mitglieder zählt und somit 90 Prozent der Lehrkräfte der Stadt organisiert, wurde faktisch die Anerkennung entzogen. Das „Education Bureau“ und die gesamte Marionetten-Regierung von Hongkong streben eine vollkommene Vereinnahmung durch Festland-China an. Das entspricht dem politischen Willen der Diktatur unter Xi Jinping. Sämtliche Spuren von demokratischen Rechten, die in Hongkong in den letzten Jahrzehnten und im Gegensatz zur Herrschaft in China jemals Bestand hatten, sollen abgeschafft werden. Abgesehen vom „Allchinesischen Gewerkschaftsbund“ (der die Bezeichnung „Gewerkschaft“ nicht verdient und den Methoden des Polizeistaats zuzurechnen ist) gelten sämtliche Arbeitnehmer*innenvereinigungen in China als illegal.
„Die HKPTU ist die einzige Gewerkschaft im pan-demokratischen Block, die über sehr große organisatorische Macht verfügt. Sie kann sehr wirkungsvoll Nachrichten unter ihren Mitgliedern verbreiten und unterstützt damit die Bewegung ganz wesentlich“, so die Charakterisierung des HKPTU-Mitglieds und politischen Kommentators Ivan Choy Chi-keung von der „Chinesischen Universität“ in Hongkong (aus: „South China Morning Post“, 4. August 2021).
Choys Beschreibung ist nicht ganz falsch. Die HKPTU hat bzw. hatte einen potentiell beträchtlichen Einfluss. Doch was dabei völlig außer Acht gelassen wird, ist die schreckliche Rolle, die die bürgerliche pan-demokratische Führung der Gewerkschaft immer wieder gespielt hat. Sie hat sowohl als Gewerkschaft als auch als einflussreiche Kraft innerhalb des pan-demokratischen Blocks ständig wie eine bürokratische und konservative Bremse auf den Kampf gewirkt. Beim pan-demokratischen Block handelt es sich um die Kräfte, die den Kampf für Demokratie in Hongkong traditionell dominiert haben. Die Feigheit und Unfähigkeit des Vorstands der HKPTU, irgendeine Form von organisiertem Widerstand zu leisten, tritt jetzt, da die KPCh ihre wüsten Angriffe durchführt, für alle offen sichtbar zu Tage. Die Gewerkschaft ist schlichtweg in sich zusammengefallen anstatt wenigstens zu versuchen, ihre Mitglieder zusammenzuholen und mit ihnen einen Verteidigungskampf zu führen.
Bei den bürgerlichen führenden Köpfen der pan-demokratischen Bewegung, für die die Führungspersonen der HKPTU ganz typisch sind, handelt es sich nicht um die glühenden Kämpfer*innen für die Demokratie, als die sie von der Propaganda in China (und übrigens auch in den USA) so gern dargestellt werden. Sie sind vielmehr als notorische Zögerer*innen zu bezeichnen, die immer darauf aus sind, den Kampf zu vermeiden. Die Reaktion der HKPTU-Repräsentant*innen auf diesen Frontalangriff gegen das Existenzrecht ihrer eigenen Gewerkschaft hat schlimme Folgen für die Lehrkräfte und die Zukunft der Gewerkschaften in Hongkong. Schließlich wird die HKPTU dort als größter „Dominostein [betrachtet], der unter die Räder der totalitären Gegen-Revolution der KPCh gekommen ist“. Diese Erfahrung bestätigt nachdrücklich und mit sehr tragischen unmittelbaren Folgen die Warnungen von Marxist*innen und echten Sozialist*innen, dass prokapitalistische Parteien unter der Führung kleinbürgerlicher liberaler und sogenannter moderater Kräfte nicht fähig oder willens sind, den nötigen Kampf der Massen für demokratische Rechte anzuführen, bestehende Rechte gegen Angriffe zu verteidigen und eine Diktatur herauszufordern, die von Großkapitalist*innen unterstützt wird. Eine Gewerkschaft mit einer derartigen Führung kann nur als „gefährdete Art“ bezeichnet werden.
Aufgabe von Positionen
Schon vor der Aberkennung des gewerkschaftlichen Status und ganz nach der Art weiterer Teile des „moderaten“ pandemokratischen Blocks sind die Spitzen der HKPTU vor jeglicher oppositioneller Rolle, die von Bedeutung gewesen wäre, zurückgewichen. Im Laufe des vergangenen Jahres ist man mit der diskutablen Behauptung, „die Gewerkschaft als solche zusammenzuhalten“, unter dem Druck des Regimes eingeknickt. Letzten Monat verließ man die „Hongkong Alliance“ (vollständige Bezeichnung: „Hongkong Alliance in Support of Patriotic Democratic Movements of China“), ein Bündnis aus diversen pandemokratischen Parteien und NGOs, das bis zum Verbot von vor zwei Jahren immer am 4. Juni die Gedenkveranstaltungen zum Jahrestag des Blutbads vom Tiananmen-Platz organisiert hatte. Das Bündnis selbst leistete nur symbolischen, verbalen Widerstand gegen die Repression des Regimes (dabei ist die politische Zusammensetzung dieses Bündnisses mit der des HKPTU-Vorstands identisch).Es gibt also unter den offiziellen Parteien und Gruppierungen des pan-demokratischen Lagers einen allgemeinen Trend zur Kapitulation. In den letzten 12 Monaten haben sich mehr als 20 Parteien und Gruppierungen aufgelöst.
Die führenden Köpfe der HKPTU haben die Gewerkschaft in der vergangenen Woche gewissermaßen als Kraft abgewickelt, die imstande wäre, für die Rechte der Lehrkräfte einzutreten und sich der reaktionären Agenda der Regierung zu widersetzen. Ein wesentlicher Aspekt dabei ist die Entschlossenheit des Regimes unter Xi, ultra-nationalistische „Bildung“ in den Schulen einzuführen und damit dem status quo in Festland-China zu folgen. Die HKPTU hat die Einrichtung einer Arbeitsgruppe angekündigt, die sich im Sinne ihrer Mitglieder und der Schülerschaft mit der Geschichte und Kultur Chinas befassen soll und mit der „Zuneigung zu Heimat und Staat“. Das ist eine Kehrtwende, mit der man auf die Propaganda der KPCh reagiert und hofft, den Vorwurf des „bösartigen Tumors“ wieder aus der Welt zu bekommen. Dieser Schritt wird jedoch nur zur Demoralisierung der Mitgliederbasis führen und Schüler*innen von der Gewerkschaft entfremden. Letztere stellen die übergroße Mehrheit derer, die die offizielle und als „Bildung“ verkleidete KPCh-Propaganda verabscheuen. Dieses Vorgehen hat nichts mit Taktik zu tun. Damit wird weder Zeit gewonnen noch hilft es, neue Angriffe zu verhindern. Erreicht wird nur das Gegenteil: Niemand im Regierungslager wird sich von diesem dürftigen Manöver beeindruckt zeigen. Stattdessen werden sich viele Lehrkräfte, denen die Regierungsmaschinerie zutiefst zuwider ist, verraten fühlen.
Darüber hinaus hat die HKPTU ihre Abkehr vom Hongkonger Gewerkschaftsbund (HKCTU) beschlossen. Sie geht also noch einen Schritt weiter und verabschiedet sich hiermit von grundlegenden gewerkschaftlichen Prinzipien. Der HKCTU ist der wichtigste Dachverband.
Auch scheidet man mit sofortiger Wirkung aus der weltweit 32 Millionen Mitglieder zählenden Bildungsinternationale „Education International“ aus (der auch die GEW aus Deutschland angehört; Anm. d. Übers.). Die Führung der HKCTU, die auch zu den pandemokratischen Gruppen zählt, äußerte, dass die Entscheidung der HKPTU „nachvollziehbar“ sei. Die HKPTU ist/war die mit weitem Abstand größte Mitgliedsgewerkschaft des Dachverbands. So lange das Regime der KPCh es mit einer derartigen „Opposition“ zu tun hat, wird sie in ihrem harten Durchgreifen nicht aufzuhalten sein. Gewerkschaftliche Arbeit ist in Gefahr.
Die Rolle der Jugend
Der Angriff auf die HKPTU sollte in einem größeren Zusammenhang betrachtet werden: Der gesamte Bildungssektor in Hong Kong ist ein wesentlicher Bereich für den Kampf gegen die antidemokratische Gegen-Revolution. Plötzlich soll überall die Flagge Chinas geehrt werden, und es soll eine „patriotische Bildung“ zum Tragen kommen. Das ist der neue Ausdruck, den Peking für die Gehirnwäsche, die in der Schule stattfinden soll nutzt. In Klassen und Kursen, denen „patriotische Bildung“ zuteil wird, existieren weder die große Hungersnot von 1958 bis 1962 („Der Große Sprung nach vorn“) noch das Blutbad auf dem Tiananmen-Platz in Peking 1989 und auch nicht die Gefangenenlager in Xinjiang oder der kulturelle Genozid an den Uigur*innen. All dies hat plötzlich nicht mehr stattgefunden.
Die Diktatur in China fürchtet sich vor der Rolle, die die jungen Leute bei den Massenprotesten eingenommen haben, und geht fälschlicher Weise davon aus, dass es weiteren Aufruhr verhindert, indem die Schulen mit Propaganda überhäuft werden. 2.500 von den mehr als 10.000 Personen, die wegen ihrer Teilnahme an den Protesten von 2019 inhaftiert worden sind – also ein Viertel – war minderjährig. Die Kapitulation der HKPTU wird, was das angeht, weitreichende Reaktionen jenseits der Gewerkschaftsmitglieder hervorrufen. Das gilt vor allem für die jüngere Generation, die Gefahr läuft, terroristischen Ideen zu folgen. Doch das wäre für den weiteren Kampf nur eine Sackgasse.
Lange bevor man gegen die HKPTU hart durchgegriffen hat sind Lehrkräfte bereits ins Visier geraten. Ihre Beiträge in den sozialen Medien wurden durchleuchtet. Eine Umfrage vom Mai hat gezeigt, dass 40 Prozent der Lehrkräfte in Hongkong ihren Beruf aufgeben möchten. Dieser Trend wird nach der Kapitulation der HKPTU weiter zunehmen. Hinzu kommt, dass kleinere Organisationen von Lehrkräften (darunter auch eine Basisgruppe, die innerhalb der HKPTU existierte) sich schon selbst aufgelöst haben, weil sie Repressalien fürchten.
Wenn die HKPTU-Führung es abgelehnt hätte zu kapitulieren und ihre Mitglieder stattdessen zu Massenversammlungen zusammengerufen hätte, um sich über den Angriff der „People’s Daily“, wonach man als „Tumor“ bezeichnet werden müsse, auszutauschen, dann hätte das die Gegen-Revolution durchaus zum Nachgeben zwingen können. Selbst das unheimlich schwammige und eigentlich auf alles anwendbare „Nationale Sicherheitsgesetz“ wäre auf eine harte Probe gestellt worden, da der Protest gegen den Vorwurf, ein „Tumor“ zu sein, erst noch als Straftat hätte ausgelegt werden müssen. Das hätte zum Kulminationspunkt für weitere Aktionen und Versammlungen gemacht werden können, um eine Verteidigungslinie für die HKPTU und gewerkschaftliche Arbeit allgemein aufzubauen. Doch die Führung hat kapituliert und damit die Annahme bestärkt, wonach der Gegen-Revolution und dem harten politischen Vorgehen der KPCh nichts entgegenzusetzen ist.
Solidarität der Arbeiter*innenklasse
Die Kampagne SARCHK („Solidarität gegen die Repression in China und Hong Kong“) und die ISA haben wiederholt gewarnt, dass die anhaltende Gegen-Revolution sich auch gegen die Gewerkschaften richten wird. Es ist nicht ausgeschlossen, dass demnächst der politische Streik verboten und auf dieser Basis künftig jede Arbeitsniederlegung für illegal erklärt wird. Das Ziel der Diktatur in Peking besteht darin, Hongkong vollständig einzuverleiben. Das bedeutet: keine Gewerkschaften, kein Streikrecht sowie Repression und Einschüchterung in den Betrieben.
In Hongkong, wie auch in China, sind Klassenfragen, gewerkschaftliche und demokratische Fragen untrennbar miteinander verknüpft. Die Gewerkschaften werden attackiert, weil es sich bei ihnen um die potentiell mächtigste Waffe im Kampf gegen die Diktatur handelt. Das wissen wir spätestens seit den Erfahrungen mit dem Kampf gegen die Apartheid in Südafrika. Aber auch in Südkorea und fast allen anderen Kämpfen für Demokratie haben sie in der Geschichte eine ganz wesentliche Rolle gespielt. Die Arbeiter*innenklasse ist die am beständigsten demokratische und revolutionäre Klasse in der Gesellschaft. Trotz aller Propaganda (sowohl von Seiten bürgerlicher wie auch stalinistischer Politiker*innen), dass die kapitalistische Klasse oder die „Mittelschichten“ im Kampf für Demokratie die wesentlichen Protagonist*innen seien, kommt in Wirklichkeit immer der Arbeiter*innenklasse diese Rolle zu.
In Hongkong stehen die Pan-Demokrat*innen nicht für die kapitalistische Klasse, die vollends in das System der KPCh-Herrschaft integriert ist. Die liberalen Pan-Demokrat*innen können noch am ehesten als „Möchtegern-Revoluzzer*innen“ klassifiziert werden, die in einem Klassen- und Wirtschaftssystem, das sie selbst fürchten aber niemals in Frage stellen, als Vertreter*innen der kapitalistischen Klasse gelten wollen. Der Wunsch nach etwas führt aber noch längst nicht dazu, dass es sich dabei auch um einen realen Umstand handelt. Für Sozialist*innen ist dies ein ganz entscheidender Punkt, an dem wir zwischen der Rolle der wirklichen kapitalistischen Kräfte, die die Repression und die Diktatur voll und ganz unterstützen, und den „Möchtegern-Vertreter*innen“ eines demokratischen Kapitalismus (den es nicht gibt und wahrscheinlich auch nie geben wird) unterscheiden müssen.
Die Gruppe SARCHK und die ISA rufen die weltweite Arbeiter*innen- und Gewerkschaftsbewegung dazu auf, Alarm zu schlagen und mit solidarischem Handeln gegen die brutalen Angriffe des Regimes auf die Gewerkschaften zu reagieren. Das muss die Lehrkräfte von Hongkong mit einschließen, die nun auf brutale Weise von der bürokratischen Führung ihrer bisherigen Gewerkschaft im Stich gelassen worden sind. Daraus müssen wir die Lehren ziehen: Kapitulation kann keine Taktik oder gar Teil einer Strategie sein. Kapitulation heißt Aufgabe! Wir rufen die internationale Arbeitnehmer*innenschaft dazu auf, Solidaritätskampagnen für diejenigen zu unterstützen, die für wirklich unabhängige Gewerkschaften und demokratische Rechte für die Arbeiter*innen in Hong Kong und China kämpfen.