Mi 07.07.2021
In rechtsextremen Organisationen toben Richtungskämpfe. Es ist unerlässlich, sich einen Überblick für die Beurteilung der vielfältigen autoritären, rechtspopulistischen bis neo-faschistischen Gefahren zu verschaffen. Vergleichen wir dazu die 1930er mit heute.
Die Klassengesellschaften der Zwischenkriegszeit waren von einem sehr großen Kleinbürgertum in Stadt und Land geprägt. Dennoch dominierte in der Phase von Revolution und Gegenrevolution nach dem 1. Weltkrieg die Polarisierung zwischen den Hauptklassen: Arbeiter*innen und Besitzbürgertum. Der Faschismus trat als neues Phänomen dieser Verfallsepoche des Kapitalismus auf. Er verkörperte mehr als jene (groß)bürgerliche Unmenschlichkeit, die bereits im 1. Weltkrieg durchbrach. Die schweren Niederlagen der Arbeiter*innenbewegung seit 1914 waren für das Kapital nicht ausreichend zur Festigung seiner Macht. Die strukturelle Krise verlangte nach einem noch größeren Weltkrieg. Es durfte keinen Ansatz einer Opposition durch die Arbeiter*innenklasse mehr geben. Da das Bürgertum für diese Aufgabe allein auf Dauer zu schwach ist (trotz Polizei und diktatorischer Maßnahmen), brauchte es das in Rage versetzte Kleinbürgertum, welches ungeachtet seiner eigenen Illusionen im Wesentlichen zwei Aufgaben zu erfüllen hatte: die in der Defensive befindliche organisierte Arbeiter*innen-Bewegung zu zertrümmern und im ideologischen Wahn als Kanonenfutter für die anstehenden imperialistischen Schlachten bereit zu stehen. Beides konnte nicht mehr mit den bisherigen Parteien und Programmen erreicht werden.
Hier scheinen Ähnlichkeiten zum aktuellen Rechtspopulismus durch. Doch populistische „Anti-System-Haltung“ ist für eine Gleichsetzung mit Faschismus zu wenig. Entscheidend ist die Fähigkeit zu Massenmobilisierungen auf der Straße und nicht bloß Stimmabgabe bei Wahlen. Genau dieser scheinbare Anti-System-Kurs ist eine Quelle für Richtungskämpfe in rechtsextremen Parteien, die in sich auch Elemente neo-faschistischer Ideologie tragen; inkl. in Leitungs-Gremien. Hier sei auf die Lage der deutschen AfD (sowie FPÖ) hingewiesen. Selbst mit einer Spaltung oder Mehrheitsentscheidung weg von der Orientierung auf Regierungsbeteiligung und damit Töpfen voller Privilegien ist eine faschistische (Massen)bewegung noch nicht formiert. Welche Umwandlungsschritte braucht es von „Wutbürger*innen“ und „Protestwähler*innen“ hin zu jenem Abschaum, der keinerlei Hemmungen kennt, andere als minderwertig angesehene Menschen aktiv zu verletzen und zu töten? Dies ist nicht bloß durch Propaganda zu erreichen. Es hängt mit der weiteren Entwicklung des Krisen-Kapitalismus und den unvermeidlichen sozialen Kämpfen zusammen.
Sicherlich gibt es auch heute Kleinbürgertum bzw. Mittelschichten (im weiteren Sinn). Doch das Kleinbürgertum ist deutlich kleiner als vor einem Jahrhundert. Die Mittelschichten sind stärker „proletarisiert“, also zu einem guten Teil unselbständig oder schein-selbständig erwerbstätig. Dies ist ungeachtet der Tatsache, dass sich in Ermangelung einer starken kämpferischen Arbeiter*innen-Bewegung die wenigsten als Teil der Arbeitnehmer*innenschaft definieren. Dennoch: Das Klassengefüge entspricht nicht mehr jenem der Zwischenkriegszeit. Dies bedeutet nicht automatisch, dass es keine faschistischen Massenbewegungen mehr geben kann. Doch zumindest bedeutet es, dass die Spielräume dafür kleiner sind als damals ODER Faschismus heute in anderer Form auftreten und sich entfalten müsste. Jedenfalls ist zwischen „faschistisch“ (Ideologie sowie relativ kleine Organisationen) und „Faschismus als Massenbewegung des verzweifelten Kleinbürgertums“ zu unterscheiden.
In der Zwischenkriegszeit wurde von bürgerlichen Kräften inkl. den Führungen der Arbeiter*innen-Parteien das Konzept der „Volksfront“ durchgesetzt. Ein oberflächliches und falsches Argument war, dass die Arbeiter*innenklasse allein zu schwach wäre. Eine 'Volksfront' ist ihrem Wesen nach ein Bündnis, das sich zwar formal gegen den Faschismus stellt, jedoch nicht seine Ursachen bekämpft. Leo Trotzki nannte es eine “Koalition des Proletariats mit dem imperialistischen Bürgertum“. Während die politischen Kräfte dieses Bürgertums volle Handlungsfreiheit behalten, wird die der Arbeiter*innen brutal begrenzt. All das half letztlich dem Faschismus auf seinem Weg zur Macht. War damals schon die wirtschaftliche und gesellschaftliche Rolle einer geeinten und anti-kapitalistisch positionierten Arbeiter*innenschaft riesig, führen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte zu einem noch klareren Bild. Blicken wir auf das ländliche Kleinbürgertum Frankreichs: damals wie heute machen die landwirtschaftlich bestellten Flächen 55% des Staatsterritoriums aus. Der Anteil am BIP beträgt jedoch heute magere 1,6 %, in den 30ern über 30%. Die Anzahl landwirtschaftlicher Betriebe drittelte sich 1970 bis 2007 von 1,6 Mio. auf 527.000. Die potentielle Dominanz der Arbeiter*innenklasse (inkl. ihrer Randschichten in den „Mittelklassen“) drückt sich auch durch die Erwerbsquote aus: obwohl sie in Frankreich im EU-Vergleich relativ niedrig ist, liegt sie dennoch bei ca. 72% (+ 10% Erwerbsarbeitslose)!
Ungeachtet des geschrumpften Kleinbürgertums gibt es Ansätze in neo-faschistischer Richtung, wie die Organisation „Génération Identitaire“. Elemente des Terrorismus sind bereits sichtbar (z.B. Schießerei bei einer rassistischen Attacke in Nizza 2020). Doch für neofaschistischen Terror sind die führenden Kapital-Fraktionen noch nicht zu erwärmen. Jegliches Durchwinken brachialen Rechtsterrorismus auf den Straßen würde auf eine Arbeiter*innen-Bewegung treffen, die trotz bisheriger Schwäche am aufsteigenden Ast sitzt. Die Anzeichen für eine Radikalisierung junger und besonders dynamischer Schichten gegen die Wirkungen der sozialen Krise UND die Gefahr von Autoritarismus und Neo-Faschismus häufen sich. Die Herrschenden können (noch) nicht jene Instabilität riskieren, die Neo-Faschismus für das gesamte System mit sich brächte. Das darf uns jedoch niemals in falscher Sicherheit wiegen.
Trotz der Gefahren, die durch Kräfte wie AfD (auch nach einer Spaltung), FPÖ und die bereits vorhandene Nazi-Terror-Szene ausgehen: über die letzten 30 Jahre war die organisierte Arbeiter*innen-Bewegung nur schwach präsent. Ihre Schwächen sind allerdings anderer Art als die schweren konterrevolutionären Niederlagen der Zwischenkriegszeit. Die Rückkehr einer internationalistischen und sozialistischen Stimmungslage kann in Verbindung mit der Mobilisierungsfähigkeit die Umwandlung von rechtsextremen Wahlparteien in neo-faschistische Bewegungs-Experimente entscheidend hemmen. Letztlich läuft jedoch alles auf einen direkten Kampf mit der herrschenden und besitzenden Klasse um die Eigentumsverhältnisse hinaus. Diese besitzt ihrerseits aufgrund globaler Widersprüche und dem Zusammenbruch etablierter Politik-Landschaften keineswegs die langfristige Stärke, die sie gegenwärtig in Form autoritärer Tendenzen zu zeigen versucht. Der im Kern völlig ausgehöhlte Kapitalismus kann tatsächlich pulverisiert werden, sobald sich die potentielle Stärke einer solidarischen globalen Bewegung mit klarem Programm und Handlungsanleitung formiert haben wird. Vom sozialen Fundament her kann sie sich auf etwa ¾ der Gesellschaft stützen.