So 16.08.2020
Zum Zeitpunkt dieses Artikels scheinen sich die Proteste in Belarus gegen die offensichtliche Fälschung der gestrigen Präsidentschaftswahlen auszubreiten. Sie stoßen auf zunehmende Repression. In Minsk, Brest, Grodno und einem Dutzend anderer Städte sind Tausende auf die Straße gegangen und haben an vielen Orten Barrikaden errichtet. Als Reaktion darauf setzt das Regime die Bereitschaftspolizei und jetzt sogar die Elite der Anti-Terror-Truppen "Almaz" ein.
Videos zeigen, wie die Polizei Demonstrant*innen gewaltsam schlägt, während Tränengas und Betäubungsgranaten eingesetzt werden. Viele sind durch Gummigeschosse verwundet worden. Es wird berichtet, dass bereits Tausende festgenommen wurden, darunter mindestens 17 (hauptsächlich russische) Journalist*innen. In einer Szene, die an jene auf dem 'Platz des Himmlischen Friedens' in China erinnert, wurde ein Demonstrant von einem Polizeiwagen überfahren.
Autofahrer in Minsk fahren hupend durch die Stadt zur Unterstützung der Opposition. In vielen Fällen versuchen sie, Verkehrssperren zu bilden, um den Transit von Polizeifahrzeugen zu stoppen. An anderen Orten umkreisen Fahrer Polizeifahrzeuge, um sie zu behindern. Die Bereitschaftspolizei benutzt Taxis und Krankenwagen, um in die Menge der Demonstrant*innen zu gelangen.
Arbeiter*innen betreten die Bühne
Vor allem die Beschäftigten der Belarussischen Metallurgischen Fabrik (BMZ) haben einen Streik ausgerufen, mit dem sie sagen, sie wollen „leben, nicht nur existieren“. Sofort nach der Ankündigung näherte sich die Bereitschaftspolizei der Fabrik. Es wird berichtet, dass mindestens 60 Arbeiter*innen festgenommen wurden. Es wurde aufgerufen, dass sich die Streiks ausbreiten. In der Zwischenzeit wurde berichtet, dass Svetlana Tikhanovskaya, die einzige zugelassene Oppositionskandidatin, fünf Stunden nach ihrem Besuch bei der Wahlkommission nicht gesehen wurde.
Diese Proteste wurden durch die Ankündigung provoziert, dass Alexandr Lukaschenko ca. 80% der Stimmen bei den Wahlen 'gewonnen' habe. Diese klar erfundene Zahl steht im völligen Gegensatz zur Stimmung der Bevölkerung, die sich zunehmend über Lukaschenko ärgert, der seit 1994 an der Macht ist. Im Land hat sich nicht nur eine verheerende Wirtschaftskrise entwickelt. Er ist auch ein 'Virusleugner' und behauptet, dass ein Glas Wodka pro Tag das Virus in Schach hält. Folglich sind die Infektionsraten pro Kopf viermal höher als in der benachbarten Ukraine.
Oppositions-Vakuum
Die traditionelle Opposition hat bei dieser Wahl keine Alternative geboten und behauptet, sie sei besorgt um die Sicherheit der Menschen während der Pandemie. Angesichts der wachsenden Opposition in der Gesellschaft kündigte jedoch ein Teil der herrschenden Elite (ein ehemaliger Botschafter und ein Bankier) an, dass sie antreten würden. Dies führte zu einer Massenbeteiligung von Menschen, die für ihre Kandidatur unterschreiben wollten. Um zu verhindern, dass diese Unterstützung in Stimmen umgewandelt werde, wurde einer verhaftet und der andere ins Exil gezwungen. Ein dritter Kandidat, ein bekannter Blogger, wurde ebenfalls verhaftet. Es war seine Frau, Swetlana Tichanowskaja, die daraufhin ihre Kandidatur ankündigte.
Diese zufällige Oppositionelle sah bald Mobilisierungen von Tausenden von Menschen zur Unterstützung ihres Wahlkampfs, in dem sie einfach versprach, bei ihrer Wahl alle politischen Gefangenen freilzuassen und neue demokratische Wahlen zu organisieren. Lukaschenko glaubte, dass sie als Frau nicht Präsidentin werden könne. Alle Anzeichen sprechen jedoch dafür, dass die Bevölkerung nicht einverstanden war. Wo Abstimmungszahlen von einzelnen Stationen bekannt wurden, zeigen diese, dass nicht Lukaschenko, sondern Tichanowskaja 80% der Stimmen erhielt.
Linke Alternative nötig
Tatsächlich war die einzige Oppositions-Kandidatin eine zufällige. Und selbst diejenigen, die ursprünglich zu kandidieren bereit waren, stammen aus den herrschenden Eliten. Das zeigt die dringende Notwendigkeit, eine echte linke Alternative der Arbeiter*innenklasse mit demokratisch gewählten Aktions-Komitees aufzubauen. Diese müssen in solche Proteste mit Forderungen eingreifen, die die wirklichen Interessen der Werktätigen aufzeigen: für demokratische Rechte und ein Ende des diktatorischen Regimes, für angemessene Löhne, kostenlose Gesundheitsversorgung und Bildung, letztlich für ein demokratisches und unabhängiges sozialistisches Belarus. Natürlich sollte der im BMZ begonnene Streik in einen landesweiten Streik unter der Führung demokratisch gewählter Arbeiterinnen-Komitees umgewandelt werden.
Dies ist eine Lehre aus den Ereignissen in der benachbarten Ukraine, als während des 'Euromaidan' aufgrund des Fehlens einer linken Alternative die Sorgen der einfachen Menschen von der bürgerlichen Opposition und der äußersten Rechten ausgenutzt wurden.
Imperialistische Heuchelei
Wie erwartet haben die Westmächte das Wahlergebnis schnell öffentlich kritisiert. Noch vor wenigen Monaten hat die EU natürlich nicht Lukaschenkos Autoritarismus beachtet, als sie versuchte, ihn von Russland wegzuholen. Nun fordert die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, Minsk lediglich auf, „dafür zu sorgen, dass die Stimmen korrekt gezählt und veröffentlicht werden“. Dies ignoriert natürlich die Tatsache, dass der gesamte Wahlprozess von Anfang an manipuliert wurde, was in einem undemokratischen autoritären Staat nicht anders sein kann.
Autoritäre Führer anderer Länder wie China und Kasachstan haben Lukaschenko schnell gratuliert. Und natürlich wurden auch aus Russland rasch Grüße verschickt. Die Reaktion Russlands scheint jedoch nuancierter zu sein. Das Letzte, was Russland will, ist eine Wiederholung des ukrainischen Euromaidan vor der Haustüre, als der pro-russische Präsident in Kiew zugunsten einer pro-EU-Regierung gestürzt wurde.
Die Botschaft des Kremls an Lukaschenko sieht einer Zusammenarbeit innerhalb des 'Unionsstaates' (einer Fortsetzung der Union zwischen Russland und Belarus) erwartungsvoll entgegen. Lukaschenko hat seit Euromaidan einen zunehmend von Russland unabhängigen Kurs eingeschlagen. Dies spiegelt sich bis zu einem gewissen Grad in der Zahl der derzeit inhaftierten russischen Journalist*innen sowie in einem Skandal zur Vorwahlzeit um die Verhaftung einer Gruppe russischer Söldner wider. Im normalerweise Kreml-loyalen russischen Parlament wurden auch Stimmen laut, die Lukaschenkos Unterdrückung kritisieren. Sie erwecken den deutlichen Eindruck, dass die Unterstützung für Lukaschenko nur so weit gehen wird: Wenn er nicht bereit ist, vollständig in die russische Umlaufbahn zurückzukehren, wird der Kreml erforderlichenfalls einen anderen Kandidaten unterstützen. Vielleicht Viktor Babariko, den ehemaligen Bankier im Nahbereich der russischen Gasprom? Um den Druck zu erhöhen, ist in einer der Regionen Weißrusslands ein fadenscheiniges Komitee aufgetaucht, das behauptet, Russland beitreten zu wollen, genau wie 2014 in der Ukraine.
'Sotsialisticheskaya Alternativa' in Russland und der Ukraine stehen natürlich in voller Solidarität mit dem Kampf der belarussischen Arbeiter*innen und Jugendlichen gegen das diktatorische Regime von Lukaschenko. Wir haben Proteste vor den belarussischen Botschaften in Kiew sowie Moskau mit der Forderung „Lukaschenko soll gehen – für Demokratie für Arbeiter*innen und alle Unterdrückten“ organisiert.