Mo 04.01.2016
Wie Krieg und Ausbeutung den Terror in die Welt brachten
Zur Geschichte des „Islamischen Staates“
Über 32.650 Menschen sind 2014 durch Terroranschläge getötet worden. Das sind 80 Prozent mehr als 2013. Dabei wurden die meisten Anschläge in Afghanistan, Irak, Nigeria und Syrien verübt. Direkt am Morgen nach den Pariser-Anschlägen sagte Frankreichs Präsident Francois Hollande: „Wir sind im Krieg“. Das weckt böse Erinnerungen an die Zeit nach den Anschlägen vom 11. September 2001 als George Bush zum Krieg gegen den Terror aufrief, und mit den Angriffen auf Afghanistan und Irak genau die politischen Bedingungen schaffte, die zum Anwachsen des so genannten Islamischen Staates (Daesh*) führte.
Daesh ist als Organisation vor allem aus dem irakischen Al-Qaida-Ableger entstanden. Dabei ist Al-Qaida das Frankenstein-Monster der USA aus Afghanistan.
1978 eroberte die Demokratische Volkspartei Afghanistans die Macht und errichtete unter der Führung der Sowjetunion eine bürokratisch geführte Regierung, die das Land der Feudalherren verteilte, Versuche der Industrialisierung startete, die Trennung von Staat und Religion einführte, und zumindest auf dem Papier die Gleichberechtigung von Mann und Frau durchsetzte. Im Zuge des Kalten Krieges sah die USA in dieser Regierung eine Gefährdung ihrer Interessen in der Region. Von den enteigneten und entmachteten Feudalherren wurden zusammen mit reaktionären Mullahs die Mudschaheddin gegründet, die sich zum Ziel setzten eine islamistische Diktatur zu errichten. Gemeinsam mit Pakistan und Saudi-Arabien unterstütze die USA die Mudschaheddin massiv mit Waffen und Finanzmitteln. Aus der ganzen Welt schlossen sich islamistische Kämpfer den Mudschaheddin an. Aus den Mudschaheddin entwickelten sich dann ab 1988 Al-Qaida, die 2001 den Anschlag auf das World-Trade-Center in New York verübten.
Der „Krieg gegen den Terror“ produziert Terror
Die Bush-Administration nutzte die Anschläge vom 11. September aus, um ihre geopolitische Vormachtstellung auf der arabischen Halbinsel und in Afghanistan zu sichern. Mit der Besetzung Afghanistans und des Iraks begann eine Spirale der Gewalt, die heute nach 14 Jahren „Krieg gegen den Terror“ den globalen Terrorismus nicht eindämmen konnte, sondern zu mehr Bürgerkriegen und Terrorismus geführt hat. Der Krieg der US-geführten „Koalition der Willigen“ gegen den Irak 2003 und die achtjährige Besatzung hat 650.000 Todesopfer im Irak gefordert und die ohnehin vorhandene Wut in der arabischen Welt auf den US-Imperialismus weiter angeheizt. Diese berechtigte Wut auf den Imperialismus konnten die Islamisten nutzen und in Wut und Hass auf die gesamte „westliche Welt“ umwandeln.
Bürgerkrieg im Irak: konfessionell und ethnisch
Saddam Hussein herrschte als sunnitischer Muslim mit brutaler Unterdrückung gegen die schiitische Mehrheit und die kurdische Minderheit im Irak. Gleichzeitig verhinderte er jegliche Möglichkeit von Arbeiterorganisationen sich für die grundlegendsten Rechte von ArbeiterInnen einzusetzen. Nach dem schnellen militärischen Sieg gegen die irakische Armee, setzten die US-Besatzer den Schiiten Nouri Al Maliki als Präsidenten ein. Die Machtverhältnisse wurden nun umgedreht: Sunniten wurden von der Macht ausgeschlossen und Schiiten übernahmen die wichtigsten Posten in der Gesellschaft. In der Folge stiegen die Spannungen zwischen den Konfessionen an. Der militärische Widerstand gegen die US-Besatzung war vor allem ein Widerstand von sunnitischen Milizen gegen die US-Koalition und die irakische Regierung. Für die Unterdrückung von Aufständischen nutzte das amerikanische und irakische Militär zunehmend auch die Hilfe von schiitischen Milizen.
Die weitgehende Zerstörung der Wirtschaft durch Krieg und Besatzung, und der andauernden Bürgerkrieg bedeuten für die sunnitischen Massen eine deutliche Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen im Vergleich zur Herrschaft Saddams. Das amerikanische Magazin „The Nation“ hatte die Möglichkeit Interviews mit IS-Kämpfern zu führen, die im Gefängnis der irakischen Armee saßen, und sie zu fragen, warum sie für Daesh kämpfen. Dabei war der Glaube an ein fundamentalistisches Zerrbild des Islam nicht das Hauptmotiv, das die Befragten angaben. Für viele ist der IS zunächst eine Organisation, die einen regelmäßigen Sold zahlen kann, und damit für die Ernährung der Familie sorgt. Neben den materiellen Gründen für Daesh zu kämpfen, war bei den Interviewten der Kampf gegen den US-Imperialismus und für eine bessere Stellung der Sunniten eine Hauptmotivation. Ein Gefangener wird zitiert: „Die Amerikaner kamen. Sie nahmen Saddam weg, aber sie nahmen uns auch unsere Sicherheit. Ich mochte Saddam nicht. Wir hungerten, aber wenigstens hatten wir keinen Krieg. Als ihr [die Amerikaner] kamt, hat der Bürgerkrieg begonnen.“
Ethnische und religiöse Konflikte in Syrien
Der Alavit Bashar Al Assad konnte seine Herrschaft vor dem Ausbruch des Bürgerkrieges vor allem auf die verschiedenen ethnischen und religiösen Minderheiten und auf ein starkes staatliches Sozialprogramm stützen. Durch die neoliberalen Reformen der 1990er und 2000er Jahre verschlechterten sich die Lebensbedingungen der einfachen Bevölkerung zunehmend. Dagegen und gegen die Unterdrückung durch den allgegenwärtigen Staats- und Polizeiapparat richtete sich der Massenaufstand von 2011. Der Aufstand wurde vor allem durch die arabisch-sunnitische Mehrheit, sowie durch die kurdische Minderheit im Norden getragen, hatte aber keinen starken ethnischen oder konfessionellen Charakter. Wegen der harten militärischen Antwort des Regimes entwickelte sich der politische Aufstand schnell in einen Bürgerkrieg, der zunehmend auch an ethnischen und religiösen Linien geführt wird. Mittlerweile basiert die verbliebene militärische Macht von Assad hauptsächlich auf zumeist alavitische Soldaten, der Unterstützung durch Russland, sowie der vom Iran unterstützten schiitischen Hisbollah-Miliz. Auch durch diese Konstellation kann Daesh sich in Syrien als Bewahrer des „wahren Islams“ und Verteidiger der Sunniten gegen alle Feinde von Assad, über die so genannten „Kreuzritter aus West und Ost“, dem schiitischen Iran und den Kurden inszenieren.
Das „Geschäftsmodell“ des IS
Daesh hat es geschafft im Irak und Syrien ein Gebiet mit etwa sechs Millionen Menschen unter seine Kontrolle zu bringen. In diesem Gebiet haben sie nach einer langen Periode des Bürgerkrieges begonnen, wieder staatliche Strukturen aufzubauen. Zum einen werden diese staatlichen Strukturen zur brutalen Unterdrückung jeglicher Opposition, sowie zur Durchsetzung einer frauenfeindlichen und totalitären Sharia, die jegliche persönliche, und kulturelle Entfaltung unterdrückt, genutzt. Zum anderen stellt der sogenannten islamische Staat mit seinen Verwaltungsstrukturen aber auch eine grundlegende öffentliche Infrastruktur zur Verfügung. Für die Kämpfer in seinen Reihen zahlt er einen regelmäßigen Sold, Heiratsprämien und kommt für die medizinische Versorgung auf.
Finanziert wird diese Infrastruktur zum einen durch Plünderungen von Finanzmitteln und Kriegsmaterialien aus den besetzten Gebieten: Bei der Eroberung von Mossul im Juni 2014 erbeuteten sie, neben einer großen Menge von Kriegsmaterialien, aus der örtlichen Filiale der irakischen Zentralbank 425 Millionen US-Dollar. Zum anderen verkauft Daesh geplünderte archäologische Funde und gefördertes Erdöl, das hauptsächlich über die Grenze zur Türkei geschmuggelt wird.
Auf dem G20 Gipfel Mitte November hat Putin eine von seinen Geheimdiensten erstellte Liste veröffentlicht, die die Finanzierung von Daesh aus vierzig Ländern, darunter auch G20-Mitgliedern darstellte. Eine Nachricht darüber war in beinahe keinem westlichen Mainstream-Medium zu finden. Das zeigt aber, wie der IS seinen Ölhandel und Verkauf von Antiquitäten auch nach Europa abwickeln kann, und wie sie auch finanzielle Unterstützung über Konten aus Europa bekommen können. Nach dem Gipfel gab es viele Absichtserklärungen westlicher PolitikerInnen die Finanzströme und den Ölhandel des so genannten Islamischen Staates zu stoppen. Dabei besteht das Problem des Ölschmuggels und der Finanzierung von Daesh aus Europa nicht erst seit den Anschlägen von Paris.
Wie Daesh stoppen?
Sowohl die Geschichte kolonialer und imperialistischer Politik von Frankreich, den USA und dem Rest des NATO-Blocks zeigt, dass eine Ausweitung der altbekannten Interventionspolitik nicht zu einem politischen, ideologischen oder militärischen Sieg über Daesh führen kann. Weitere Luftangriffe auf Städte die vom IS kontrolliert werden, führen nur zu weiteren Opfern unter der Zivilbevölkerung. Damit wird die einfache Bevölkerung weiter in die Arme von Daesh getrieben, die sich dadurch wieder als die Verteidiger gegen imperialistische Aggressionen darstellen können. Das gleiche gilt noch drastischer für NATO-Bodentruppen. Sowohl die NATO-Staaten, als auch Russland und die lokalen Machthaber aus dem Iran, der Türkei oder Saudi-Arabien vertreten ihre jeweils eigenen ökonomischen und geopolitischen Ziele in Syrien und stellen keine Perspektive für einen Frieden im syrischen und irakischen Bürgerkrieg dar. Auch kann keiner dieser Staaten oder Machtblöcke ein Modell für eine ökonomische und politische Entwicklung der Region darstellen, weil sie alle nur für unterschiedliche Modelle von kapitalistischer Abhängigkeit stehen.
Die einzige Kraft, die in der Region die Terrorbande des sogenannten Islamischen Staates stoppen kann, sind die Opfer der imperialistischen und islamistischen Barbarei: die Arbeiter-Innen, Bauern und Ausgebeuteten in der Region selber. Dafür ist ein Programm notwendig, dass sich gegen die Spaltung in verschiedene ethnische und religiöse Gruppen wendet und für die Einheit der Arbeiterklasse und aller Unterdrückten steht. Wegen dem eskalierten Bürgerkrieg ist eine positive Entwicklung in Syrien und dem Irak aber auch abhängig von der Entwicklung von sozialen Kämpfe in den Nachbarländern, die eine Perspektive für eine Zukunft jenseits von islamistischem Terror und kapitalistischer Ausbeutung weisen kann. Dafür ist der Aufbau von multiethnischen Arbeiterorganisationen und Gewerkschaften notwendig, die sich gegen die Ausbeutung durch internationale Konzerne und die Herrschaft des Imperialismus, aber auch gegen die lokalen Herrscher wenden. Daraus kann die Perspektive einer friedlichen sozialen, politischen und ökonomischen Entwicklung entstehen: Eine freiwillige sozialistische Föderation der Länder des Nahen und Mittleren Ostens.
* Wir benutzen hier für den sogennanten „Islamischen Staat“ auch das arabische Akronym für Islamischer Staat in Irak und Sham (Syrien) – Daesh um deutlich zu machen, dass Daesh keinesfalls als Staat für alle Muslime sprechen kannn. Außerdem gibt es Berichte, dass Daesh damit droht, Menschen die diesen Namen benutzen die Zunge herauszuschneiden.
Kolonialismus und die Anschläge in Paris
Nachdem Frankreich in den 1960er Jahren die direkte Kontrolle über seine Kolonien aufgegeben hat, konnten die ehemaligen Kolonien nie eine vollständige Unabhängigkeit vom französischen Imperialismus erreichen. So gibt es in 14 ehemaligen afrikanischen Kolonien noch immer ein Abkommen, das französischen Konzernen ein Vorkaufsrecht für neu entdeckte Rohstoffvorkommen sichert, Rüstungsimporte sind nur von französischen Produzenten möglich, und militärische Allianzen dürfen nur mit der Zustimmung der französischen Regierung eingegangen werden. Um diese imperiale Herrschaft zu sichern, gab es seit Anfang der 1960er Jahre insgesammt 45 von Frankreich unterstütze Militärcoups gegen unliebsame Regierungen. Während des ersten Weltkriegs teilte das britische und das französische Kolonialreich die arabische Welt mit dem Sykes-Picot-Abkommen von 1916 unter sich auf. Die Gebiete vom heutigen Syrien, Libanon und Teilen der Türkei fielen unter die Herrschaft Frankreichs. Der große Teil des Iraks wurde durch die Briten kontrolliert. Dadurch entstand die mit dem Lineal gezogenen Grenze in der Wüste zwischen Syrien, Irak und Jordanien. Als der IS die Grenze zwischen Syrien und dem Irak eroberte, nutzten sie dies auch propagandistisch und erklärten diese Aufteilung der Welt durch die Kolonialherren für ungültig. Kurz vor den Anschlägen hat Frankreich die Luftschläge auf syrische Städte, die von Daesh beherrscht wurden ausgeweitet und nach den Anschlägen noch weiter intensiviert. Diese Geschichte des Kolonialismus und die aktuelle imperialistische Politik Frankreichs sind, neben dem antimuslimischen Rassismus und der Perspektivlosigkeit von großen Teilen der muslimischen Jugend, der Nährboden auf dem der IS Kämpfer für Syrien und Attentäter in Europa rekrutieren kann.