Di 06.09.2022
„Jetzt stehen wir vor der ehernen Tatsache des Krieges.“, erklärte Hugo Haase, Parteivorsitzender der SPD, am 4. August 1914 vor dem deutschen Parlament: „Für unser Volk und seine freiheitliche Zukunft steht bei einem Sieg des russischen Despotismus, der sich mit dem Blute der Besten des eigenen Volkes befleckt hat, viel, wenn nicht alles auf dem Spiel. Es gilt diese Gefahr abzuwehren, die Kultur und die Unabhängigkeit unseres eigenen Landes sicherzustellen. […] Von diesen Grundsätzen geleitet, bewilligen wir die geforderten Kriegskredite.“
Die SPD war damals das Flaggschiff der internationalen Arbeiter*innenbewegung, die sich das Ende von Krieg und Ausbeutung auf die Fahnen geschrieben hatte. Mit der Erklärung von Haase warf sie all das über Bord und gab grünes Licht für das Massenschlachten des 1. Weltkriegs. Auf Kritik oder gar den Kampf gegen die eigenen Herrschenden verzichtete man – das nannte man „Burgfrieden“ (wenn die Burg von außen angegriffen wird, müssen alle im Inneren zusammenhalten).
Für manche mag Haases Argumentation – insbesondere heutzutage – gar nicht so absurd klingen. War das zaristische Regime in Russland nicht tatsächlich ein durch und durch reaktionäres und brutales? Unterdrückte es nicht ganze Nationen – nicht zuletzt die Ukraine – und hielt sein eigenes Volk entrechtet und in Armut? Und muss man nicht auch heute sich gegen Putins Regime und den kriegerischen russischen Imperialismus stellen? Auf jeden Fall, antworteten damalige und heutige revolutionäre Sozialist*innen – doch wer ist „man“, und welche Ziele verfolgt „man“ tatsächlich?
1914 erhob der deutsche Sozialist Karl Liebknecht als einer von ganz wenigen die Stimme gegen die Kriegskredite. War Liebknecht ein „Zaren-Versteher“? Keineswegs. Als revolutionärer Sozialist stand er an der Seite der deutschen und der russischen Arbeiter*innenbewegung und der Bolschewiki, die gegen das Regime kämpften. Doch Liebknecht erkannte, dass es dem deutschen Staat (und dem österreichischen) keineswegs um Freiheit und Menschenrechte ging. In seiner Rede gegen Kriegskredite hielt er fest: „Dieser Krieg, den keines der beteiligten Völker selbst gewollt hat, ist nicht für die Wohlfahrt des deutschen oder eines anderen Volkes entbrannt. Es handelt sich um einen imperialistischen Krieg, einen Krieg um die kapitalistische Beherrschung des Weltmarktes“. Und das ist der zentrale Punkt: Wenn im Kapitalismus große Machtblöcke aneinandergeraten – etwa Russland (bzw. im Hintergrund China) und die NATO – dann ist keiner davon der „Gute“, auf dessen Seite Sozialist*innen sich stellen könnten. Den Herrschenden auf beiden Seiten geht es um Marktanteile, Ressourcen, Anlagemöglichkeiten und Stützpunkte für ihre jeweiligen imperialistischen Blöcke, egal, ob sie ihre Kriege im Namen „historischer nationaler Ansprüche“ oder von „Freiheit und Demokratie“ führen.
Imperialistische Kriege sind die Fortsetzung imperialistischer Wirtschaftspolitik mit anderen Mitteln. Deswegen ist es auch zu wenig, bei einem abstrakten Pazifismus stehen zu bleiben und „die Waffen nieder!“ zu rufen. Appelle an die Herrschenden, doch bitte „zum Verhandlungstisch zurückzukehren“ ignorieren die strukturelle Krise des Kapitalismus, welche die Herrschenden überhaupt erst dazu gebracht hat, übereinander herzufallen - und legen die Verantwortung für den Frieden in deren Hände, an denen noch das Blut der Kriegsopfer klebt. Solche Appelle sind deshalb auch zur Wirkungslosigkeit verdammt. Aus diesen Gründen kritisierte Liebknechts Verbündete Rosa Luxemburg bereits 1915 jene Kriegsgegner*innen, die Illusionen in „diplomatische Abmachungen über ‚Abrüstung‘“ sowie „nationale Pufferstaaten und dergleichen“ hatten – unter ihnen übrigens der „geläuterte“ Hugo Haase. Gibt ihr nicht die heutige Situation recht, die das jahrzehntelange Gerede über Abrüstung angesichts blitzschneller Rekord-Rüstungsausgaben als hohle Phrase entlarvt? Ist nicht gerade der „Pufferstaat“ Ukraine zum Auslöser dieses weltweiten Konflikts geworden?
Luxemburgs Alternative ist klar: „Imperialismus, Militarismus und Kriege sind nicht zu beseitigen oder einzudämmen, solange die kapitalistischen Klassen unbestritten ihre Klassenherrschaft ausüben. Das einzige Mittel, ihnen erfolgreich Widerstand zu leisten, und die einzige Sicherung des Weltfriedens ist die politische Aktionsfähigkeit und der revolutionäre Wille des internationalen Proletariats, seine Macht in die Waagschale zu werfen.“
Der einzige Ausweg aus dem Teufelskreis imperialistischer Konflikte heißt Sozialismus.
Diese Perspektive schien 1915 nicht weniger utopisch als heute – die großen Organisationen der Arbeiter*innenklasse hatten sich allesamt vor den nationalistischen Karren spannen lassen, die Sozialistische Internationale war de facto zusammengebrochen. Die Kriegsgegner*innen passten, als sie sich zu einer geheimen Konferenz im Schweizer Zimmerwald trafen, in vier Pferdekutschen. Sie wussten, dass sie gegen den Strom schwimmen mussten – sie wussten aber auch, dass die Strömung sich früher oder später umkehren würde. Egal wie groß die Begeisterung anfangs war – bislang hat noch jeder imperialistische Krieg Unmut, Widerstand, Massenbewegungen und sogar Revolutionen der „eigenen“ Bevölkerung provoziert. Diese Perspektive hatten auch die damaligen revolutionären Sozialist*innen, allen voran Lenin, Trotzki und die Bolschewiki. Wie Liebknecht und Luxemburg in Deutschland kämpften sie gegen den Krieg, indem sie den „Burgfrieden“ bekämpften. Lenin propagierte die „Fraternisierung (Verbrüderung) der Frontsoldaten aller kriegführenden Nationen“ und den Sturz des Zaren sowie der russischen herrschenden Klasse. Je kriegsmüder die Bevölkerung wurde, desto mehr stieg die Unterstützung für das bolschewistische Friedensprogramm. Schließlich gelang der russischen Arbeiter*innenklasse unter der Führung der Bolschewiki durch die Russische Revolution das, was die deutschen und österreichischen Imperialist*innen vorgegeben hatten erreichen zu wollen: Der Sturz des „russischen Despotismus“. Die gerade noch verfeindeten imperialistischen Kriegsparteien verbündeten sich übrigens rasch gegen die Revolution und zur Unterstützung der alten russischen Herrschenden. Doch zu ihrem Schrecken beendete die Revolution 1917 nicht nur die Zarenherrschaft, sondern gemeinsam mit den von ihr inspirierten revolutionären Bewegungen in Mitteleuropa 1918 auch den Weltkrieg und das deutsche und österreichische Kaiserreich.
Wenn heute der neue Zar Putin vom Wiederauferstehen des russischen Kaiserreichs träumt und der neue Hugo Haase Olaf Scholz 100 Milliarden Euro für die Aufrüstung des westlichen Imperialismus locker macht, dann kämpfen heute die neuen Liebknechts, Luxemburgs und Lenins für ein neues 1917.