Fr 18.12.2020
Die SARS-Cov-2-Pandemie ist mit Sicherheit noch nicht vorbei, im Gegenteil: Eine dritte Welle steht bevor. Mit der Zulassung von Impfstoffen ist für westliche Industrieländer ein Ende zwar absehbar – bis dahin steht uns aber mindestens noch ein langer Winter bevor. Die Frage der Verteilung von Impfstoffen, nicht nur in Europa, ist noch alles andere als gelöst.
Noch länger als mit Covid19 werden wir allerdings mit der Wirtschaftskrise konfrontiert sein, die von der Pandemie ausgelöst – nicht verursacht – wurde. Diese Krise wäre so oder so gekommen, sie hat durch die Pandemie aber bezüglich Tempo und Tiefe einen Turbo erhalten.
Schon 2019 sind die Investitionen zurückgegangen. Das Wirtschaftsforschungsinstitut IHS schreibt bereits im Oktober 2020: „Im Vorjahr (also 2019, Anm.) ist der ungewöhnlich lange Investitionszyklus ausgelaufen…“ Das hat sich nun dramatisch beschleunigt: „Seit Ausbruch der Coronakrise brachen die Investitionen in Österreich doppelt so schnell ein wie zu Beginn der jünsten Wirtschaftskrise“ schreibt die Presse z.B. am 1.12.20. Die Unternehmen investieren nicht, was sich unter anderem an den Rekordsummen zeigt, die von den Banken gehortet werden: Die Europäische Zentralbank (EZB) gibt Banken – in einer intensivierten Form der Kapitalspritzen nach der Krise 2008 – enorm billiges Geld: Sie erhalten die Gelder von der Notenbank zu einem Zinssatz von minus 1%, um damit günstige Kredite zu vergeben. Nur will die keiner, also legen die Banken das Geld wieder bei der EZB an - zu minus 0,5%. 2015 hatten österreichische Banken Überschussreserven in der Höhe von sieben Milliarden bei der EZB gelagert; im Juni waren es 43,1 Milliarden; im November 93,8 Milliarden! Ein gutes Geschäft für die Banken - und das exponentielle Wachstum der Beträge, auf denen die Banken sitzen ist ein starker Indikator dafür, dass auch die Erwartungen des Kapitals auf eine wirtschaftliche Erholung im Minus sind.
Der Verlauf der Krise in Österreich hängt von verschiedenen Faktoren ab, in erster Linie vom weltweiten Verlauf und nochmal speziell jenem in Deutschland. Das österreichische Kapital hofft hier auf Nischen, verschiedene Kapitalfraktionen versuchen auch die Spannungen zwischen den imperialistischen Konfliktparteien (USA, China, Russland u.a. ) zu nutzen. Insgesamt kann die österreichische Regierung dem globalen Trend nur beschränkt gegensteuern, versucht aber dennoch durchaus intensiv, Nischen und kleine Vorsprünge für das österreichische Kapital heraus zu holen. Die rasche Öffnung nach dem 1. Lockdown war ein solcher Versuch, „Kauf in Österreich“ Initiativen ein anderer.
Staatliche Eingriffe in die Wirtschaft
Die rasche Wiedereröffnung der Wirtschaft nach dem 1. Lockdown war ein Versuch, sich einen Wettbewerbsvorteil zu holen. Auch das um-jeden-Preis bis Weihnachten offen halten – trotz hoher Infektionszahlen und Hilferufen aus dem überlasteten Gesundheitswesen – dienen demselben Zweck. Hier geht es v.a. darum, die Nachfrage in Form des Weihnachtsgeschäfts anzukurbeln. Die andere Seite der staatlichen Intervention sind hohe Direktzahlung: Die Kosten der Kurzarbeit werden aus Steuergeldern finanziert, außerdem werden Milliarden in die Wirtschaft gepumpt. Bis zu 80% des entgangenen Umsatzes, bis zu 90% für entstandene Verluste und bis zu 100% der Fixkosten übernimmt der Staat. Die verschiedenen Maßnahmen zögern einen noch tieferen Einbruch der Wirtschaft vor allem hinaus, sie „verschleiern die Tiefe des Einbruchs“ (Presse. 2.12.20).
Der Chef des Industriewissenschaftlichen Institutes (IWI) Schneider erklärt, dass die Staatshilfen zu einem Bild beitragen, bei dem “der Anschein besser ist als die Substanz”. Das bestätigt die Analyse der SLP, dass die Krise schon vor der Corona-Pandemie auf der Tagesordnung stand.
Diese massive staatliche Intervention spiegelt auch den durchaus flexiblen Kurs von bisher als neoliberale Dogmatiker*innen auftretenden Regierungs- und Kapitalvertreter*innen. Auf Grundlage der verschiedenen angekündigten Unterstützungen ist davon auszugehen, dass die unmittelbaren Kosten für die staatlichen Maßnahmen bei rund 61 Milliarden liegen werden. Der Jahresbericht des Fiskalrates von Anfang Dezember rechnet für 2020 mit einem Budgetdefizit von 10,1% des BIPs – das ist der tiefste Einbruch in der 2. Republik. Die Staatsverschuldung hat von 2019 auf 2020 einen Sprung von fast 15 Prozentpunkten von 70,5% auf 84,8% gemacht - dramatisch ist hierbei nicht die Höhe (die schon mal höher war), sondern das explosive Wachstum dessen Ende nicht in Sicht ist.
Es ist davon auszugehen, dass wir auch künftig einen Mix an Maßnahmen (einerseits Einsparungen, andererseits Staatshilfen) sehen werden. Die Zusammensetzung und Schwerpunktsetzung (mehr „neoliberale“ Kürzungen zur Schuldeneindämmung oder mehr „keynesianische“ Ausgaben um die Nachfrage zu stimmulieren) wird zu Konflikten bis hin zu politischen Bruchlinien in der herrschenden Klasse bzw. verschiedenen Kapitalfraktionen führen. Die stärkere Rolle des Staates auf wirtschaftlicher Ebene wird auch politische Konsequenzen haben die von zunehmendem Populismus über keynesianische Illusionen bis hin zu bonapartistischen Tendenzen der Regierungen führen werden.
Der Chef der Österreichischen Beteiligungs AG (ÖBAG) Thomas Schmid – einer Staatsholding, in der die staatlichen Anteile an Firmen wie OMV, Verbund, Post, Casinos und anderen zusammengefasst sind – bezeichnet die ÖBAG als “stabilen Anker”. Er erklärt warum in Krisenzeiten dem Staat wieder eine größere Rolle in der kapitalistischen Wirtschaft zukommt wenn er sagt: “Als Staatsholding denken wir breiter und langfristiger als andere institutionelle oder private Investoren”.
Mix aus Maßnahmen im Sinne der herrschenden Klasse
Es wäre ein Fehler, zu glauben, es gäbe eine ideologische Veränderung bei den verschiedenen Vertreter*innen des Kapitals. Egal ob das Kapital seinen Notwendigkeiten entsprechend einen neoliberalen Rückzug des Staates will oder mit keynesianischen Mitteln versucht, die Nachfrage zu stimulieren: die Zeche soll in beiden Fällen – und allem, was sich dazwischen abspielt – die Arbeiter*innenklasse bezahlen.
Genau so ist es auch hier:
- die Einkommensverteilung ist in Österreich historisch sehr ungerecht und nähert sich der extrem ungleichen Verteilung in den USA an. Vor Allem Menschen unter 30 und gering qualifizierte sind negativ betroffen. Besonders Frauen und junge Menschen haben – zu Recht – Angst vor der Zukunft.
- bis zu 46,9% der Beschäftigten waren 2020 im Homeoffice - mit allen finanziellen und psychischen Belastungen (Mehrfachbelastung durch Homeoffice und Homeschooling, zusätzliche Ausgaben für Internet, PCs etc) und ohne jede staatliche Unterstützung dafür.
- Trotz Kurzarbeit erreicht die Arbeitslosigkeit neue Rekordwerte: über 450.000 sind arbeitslos gemeldet. Ein starkes Wachstum gibt es nicht nur in der Gastronomie und im Handel, sondern auch in der Warenproduktion (+ 23,6%). Dazu kommen noch knapp 280.000 Beschäftigte in Kurzarbeit. Viele Firmen werden bankrott gehen und die jetzt noch Kurzarbeitenden direkt weiter in die Arbeitslosigkeit schicken. Der Gläubigerschutzverband Creditreform schätzt dass es rund 50.000 „Zombies“ (also Firmen die ohne Staatshilfe schon Pleite wären) gibt. Die Krise in der Automobilindustrie wird auch mit einer E-Auto-Offensive wie sie Von der Leyen und das Deutsche Kapital pushen (bis 2030 sollen nach ihrem Plan 30 Millionen E-Autos gebaut werden) nicht gelöst werden. In Österreich hängen rund 82.000 Beschäftigte (und ihre Familien) an der Automobilindustrie. Schon in den letzten Monaten gab es eine Welle von Schließungen und Stellenabbau: MAN Steyr – 2.300 Jobs; 270 bei Opel Aspern; über 500 bei KTM; Agrana streicht 150 stellen; Bei ATB in Spielberg gehen 300 Jobs verloren; Mayr-Menlhof, der im Parlament zum beten eingeladen war, streicht 150 Stellen; der Grazer Motorenbauer AVL streicht 220; 650 bei FACC in Ried; Die Voest Alpine kündigt in der Steiermark 580 Beschäftigte; Svarovski 1.600; Sacher 140 – die Liste lässt sich fortsetzen. Viele dieser Betriebe zählen zur Autoindustrie. Besonders betroffen sind industriell geprägte Gebiete in Oberösterreich und der Steiermark. Die Zahlen von Schließungen und Stellenabbau werden in den nächsten Monaten noch zunehmen.
- Das soziale und gesundheitliche Risiko, an Covid-19 zu erkranken, tragen vor Allem die Beschäftigten. Das zeigt sich unter anderem in der Debatte über Schulöffnungen. Dass es kein Recht darauf gibt, zu Hause beim Kind bleiben, ist nur eines der Probleme. Die Arbeiterkammer (AK) Oberösterreich hat aufgezeigt, dass Beschäftigte zwar auf Anordnung zuhause bleiben müssen, aber in dieser Zeit nicht bezahlt werden. Hier gibt es massive bürokratische Hürden, die leidtragenden sind die Beschäftigten. Dazu kommen noch Firmen die Beschäftigte dazu drängen, sich für eine Quarantäne Urlaub oder Zeitausgleich zu nehmen. Firmen, die Kurzarbeitsgelder kassieren, aber trotzdem in größerem Umfang weiterarbeiten lassen, sind da nur das Tüpfelchen aus dem i.
Es ist offensichtlich: Die Krise ist alles andere als vorbei, das sprichwörtliche “Dicke Ende” kommt noch. Alle der mehr oder weniger unterschiedlichen angebotenen “Lösungen” im Rahmen des Kapitalismus sind keine. Das gilt für eine Rückkehr zu den Mastrichtkriterien, wie sie Finanzminister Blümel angedacht hat, ebenso wie für die Vorschläge die vom Österreichischen Gewerkschaftsbund (ÖGB) und AK kommen.
ÖGB/AK-Schulterschluss mit der Regierung nützt nur dem Kapital
Letztere arbeiten in enger Koordination mit der Regierung – das ist nicht verwunderlich: Die Wirtschaft braucht “mehr Staat” um zu überleben und die Gewerkschaftsbürokratie glaubt, dass “mehr Staat” eine Lösung für die kapitalistische Krise ist. Es sind also ähnliche Interessen - es geht um die Stabilisierung der heimischen Wirtschaft und das gemeinsame Dogma ist “Gehts der Wirtschaft gut, gehts uns allen gut”. Der ÖGB schrieb anlässlich des Amazon Black Fridays: „Kauft regional und unterstützt jetzt heimische Unternehmen und ihre Beschäftigten!“ Das ist ein typisches Beispiel für die gefährliche (und noch nicht mal funktionierende) nationalistische Schiene, in die eine solche Herangehensweise automatisch führt.
Die katastrophalen Lohnabschlüsse der letzten Monate, die bestenfalls die Inflation abdecken, teilweise ohne irgendwelche Verhandlungen, geschweige den Kampfmaßnahmen, sind die logische Konsequenz einer Gewerkschaft, die sich am “gesamtstaatlichen” Interesse orientiert und damit als Stütze für die kapitalistische Wirtschaft dient. Gleichzeitig spürt die Gewerkschaftsbürokratie aber auch den Druck von unten – das drückt sich in der inflationären Verwendung des Begriffes „Kampf“ auf gewerkschaftlichen Facebook-Seiten aus (denen aber keine Taten folgen).
Bei den “fortschrittlichen” Vorschlägen von AK und ÖGB wie Forderungen nach Erhöhung des Arbeitslosengeldes, nach Arbeitszeitverkürzung und einer höheren Besteuerung von multinationalen Konzernen ist das vorrangige Ziel die Erhaltung der Massenkaufkraft – eine klassisch keynesianische Herangehensweise, die zunehmend auch von weitsichtigeren Vertreter*innen des Kapitals geteilt wird. Eine befristete Vermögensabgabe der Superreichen könnte selbst von dieser Regierung kommen - bei gleichzeitigen Einsparungen beispielsweise im Bildungsbereich.
ÖGB und AK machen Vorschläge, aber führen keinen Kampf um ihre Forderungen. Bei einem solchen Agieren der Gewerkschaften fühlen sich viele völlig zu Recht alleingelassen. Der Verrat der Gewerkschafter*innen ist um so stärker, je näher sie am Staatsapparat bzw. den Regierungen sind - also beispielsweise bei der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst (GÖD) oder der younion im Bereich der Gemeinden.
Bewusstseinsentwicklung unter schwarz-grüner Coronapolitik
Es gibt gewisse Ähnlichkeiten zwischen der Bewusstseinsentwicklung in der Pandemie und der Bewusstseinsentwicklung in Kriegen: Anfangs eine hohe Zustimmung zur Regierung, eine gewisse Euphorie und ein nationaler Schulterschluss aus einem Wunsch nach Stabilität heraus. Dann wird immer deutlicher, wessen Interessen gewahrt werden und auf wessen Rücken die Krisenpolitik betrieben wird. Die Unterstützung für die Regierung bricht immer mehr ein.
Es gibt einerseits immer schwerer erträgliche Maßnahmen im Privatleben, besonders für Menschen mit Betreuungspflichten – und auf der andern Seite einen de facto Freibrief für Unternehmen, am Arbeitsplatz Sicherheitsvorkehrung zu ignorieren. Im Sommer ist monatelang nichts passiert, um das Land auf die zweite Pandemiewelle vorzubereiten. Der Zick-Zack-Kurs der Regierung von Pressekonferenz zu Pressekonferenz was die Maßnahmen betrifft macht deutlich: Sie hat keinen Plan, der sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse stützt. Sie reagiert immer nur sehr kurzfristig auf die Entwicklung der Infektionszahlen – und selbst dann entlang politisch-wirtschaftlicher, nicht wissenschaftlicher Kriterien (wie z.B. bei der Schul-Ampel). Die Maßnahmen sind immer schlecht oder gar nicht vorbereitet und verfehlen ihre Ziele (Infektionszahlen mit dem harten Lockdown auf unter 2.000/Tag zu drücken, 60% Beteiligung bei den Massenstests,…).Und sie sind offensichtlich so ausgelegt, dass die Interessen des Kapitals so weit wie möglich gewahrt werden, wie mit bis zu 80% Umsatzersatz für geschlossene Betriebe. Zig Milliarden an Steuergelden fließen durch die COVID-19-Finanzierungsagentur des Bundes GmbH (COFAG) völlig intrasparent an Unternehmen, aber es gibt keinen Plan und kein Geld für notwendige Investitionen im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich, für Contact-Tracing, eine ernsthafte Teststrategie und andere Dinge, die die Bevölkerung entlasten und die Ausbreitung der Pandemie eingrenzen würden. Corona-Ampel, Corona-App und Kaufhaus Österreich sind Beispiele für einen Dilettantismus, der hart an Satire grenzt.
Die Regierung verliert in der Folge Unterstützung. Bei Wahlumfragen liegt die ÖVP zwar weiterhin über ihrem Wahlergebnis. Aber vom 1. Lockdown zur 2. Welle haben ÖVP und Grüne insgesamt 11% Stimmenanteil eingebüßt. [1] Im gleichen Zeitrum sind die Vertrauenswerte von Kurz, Anschober und Kogler jeweils um ungefähr die Hälfte eingebrochen – aber: ohne dass andere Politiker*innen davon profitiert hätten. [2] Im September gab in einer research-affairs-Umfrage nur noch jede*r zehnte ÖVP-Wähler*in an „sehr zufrieden“ mit der Regierungspolitik zu sein. [3] Bei einer Unique-research-Umfrage zur Kanzler*innenfrage hat Kurz von April bis November 16 Prozentpunkte verloren und liegt nun bei unter 40%, die meisten wechseln ins Lager „Keine Angabe“. [4] Im Umkehrschluss heißt das, viele würden jetzt noch Kurz wählen, weil sie auch in den anderen Parlamentsparteien keine Alternative sehen, aber die Begeisterung für Kurz ist nicht mehr da – das alles schon vor dem zweiten harten Lockdown. Bei einer Gallup-Umfrage geben nur mehr 49% an, dass sie denken, dass die österreichische Regierung mit dem Corona-Virus richtig umgeht – der niedrigste Wert bisher. Das Chaos rund um Weihnachten – Schulen bleiben bis zum 23. Dezember offen, ein sicheres Feiern am 24. ist also nicht möglich, ein späteres durch einen neuerlichen Lockdown aber auch nicht – wird diesen Unmut weiter verstärken.
Ende einer kurzen Phase politischer Stabilität
Mit dem Hype um Kurz geht auch eine vorübergehende relative politische Stabilisierung in Österreich zu Ende. Diese beruht darauf, dass die ÖVP auf Kurz zugeschnitten neu organisiert wurde und so kurzfristig einen Hype erzeugen konnte (ähnlich wie wir es bei Macron in Frankreich oder Trudeau in Kanada gesehen haben). Doch auch bei Kurz beginnt der Lack zu bröckeln und die aktuell noch vergleichsweise hohen Zustimmungswerte spiegeln mehr Pragmatismus als Begeisterung wieder. Dass die ÖVP an Zuspruch verliert, drückt sich auch nicht in eine Stimmung für eine andere Partei aus. Unterm Strich sind alle relevanten Parlamentsparteien in einer Krise oder auf dem Weg dorthin. Die Auswirkungen von Pandemie und Wirtschaftskrise auf das Bewusstsein werden die politische Instabilität weiter vertiefen. Das kann auch für Umgruppierungen und Neuformierungsprozesse in der bürgerlichen Parteilandschaft sorgen.
Die von Ibiza ausgelöste Krise der FPÖ wird vertieft durch die Verschiebung der Hauptsorgen in der Bevölkerung weg vom Migrationsthema, hin zur Corona-Pandemie. Hier kommt die FPÖ mit dem Liebäugeln mit Corona-Leugner*innen nach der Kürzungspolitik in ihrer Regierungszeit schon wieder in Konflikt mit den Interessen potentieller Wähler*innen aus der Arbeiter*innenklasse. Denn die brauchen Schutz vor Corona und Unterstützung in der Krise. Eine Strategiedebatte in der FPÖ um die Frage, lieber wieder zurück in die Fundamentalopposition und näher an Identitäre und andere Gruppierungen rechts der FPÖ gehen, oder besser wieder regierungsfit werden als zuverlässige Partnerin für das Kapital, ist im Gange. Verschiedene auch vorübergehende Allianzen und Umgruppierungen in der extremen Rechten können auf der Tagesordnung stehen. Das reduziert vorübergehend zwar die Gefahr, die direkt von der FPÖ ausgeht, gewaltbereite Rechtsextreme bleiben aber weiterhin brandgefährlich, wie der spektakuläre Waffenfund Mitte Dezember deutlich gezeigt hat.
Kommende Kämpfe in Betrieben…
Im Sozial- und im Gesundheitsbereich gibt es aus den letzten Jahren wichtige Erfahrungen mit Klassenkämpfen und Basisstrukturen (https://www.slp.at/artikel/eine-streikbewegung-9956) . In Verbindung mit der extremen Belastung, aber auch dem nochmal gestiegenen Selbstvertrauen vieler Beschäftigter die nun als Held*innen der Pandemie gefeiert werden (aber nicht besser bezahlt werden) ist damit zu rechnen, dass es zu weiteren Auseinandersetzungen kommt - besonders, wenn Regierungen anfangen, aufgrund der Kosten der Krise in diesen Bereichen einzusparen. In anderen Bereichen ist es schwieriger, die Entwicklung von Kämpfen vorauszusagen, zum Beispiel im Handel: Im Lebensmittelhandel gibt es Umsatzsteigerungen, erhöhten Arbeitsdruck, aber keine Verbesserungen für Beschäftigte, die als Heldinnen und Helden gefeiert werden – also einen größeren Kuchen und ein gesteigertes Selbstvertrauen; in anderen Bereichen gibt es Umsatzeinbrüche, die die Beschäftigten eher in die Defensive bringen. Neue Vorstöße Richtung Ausweitung der Öffnungszeiten und weiterer Prekarisierung, wie sie vom Rewe-Chef im Standard-Interview am 11. Dezember gefordert werden, können in verschiedenen Zweigen der Branche zu unterschiedlichen Reaktionen der Beschäftigten führen. [5] Auch Lieferservices haben im Lockdown profitiert, die Beschäftigten aber nicht. Sie arbeiten unter nochmal prekäreren Bedingungen als im Handel. Eine Frage ist, ob hier höhere Profite zu Kämpfen führen können, wie es sie in der Vergangenheit z.B. in Italien schon gegeben hat, oder ob die miese Arbeitsmarktsituation der größere Druck ist und Beschäftigte sich deshalb eher nichts fordern trauen. Es ist wohl beides richtig, doch selbst bei den prekären Fahrradbot*innen regt sich aktuell Widerstand.
Es gibt eine Schicht von hochqualifizierten Industriearbeiter*innen, die sich vor einem Jahr wegen Fachkräftemangel noch Löhne weit über KV-Niveau aushandeln konnten, vielleicht Kurz oder FPÖ gewählt haben, aber bald schon realisieren müssen, sie bleiben jetzt für lange Zeit arbeitslos. Kann es zum Beispiel in einem Dorf im Bezirk Amstetten zu Hausbesetzungen gegen Delogierungen kommen, wenn das MAN-Werk schließt und die Häuslbauer*innen-Familien ihre Kredite nicht mehr zurückzahlen können? In anderen Ländern gab es solche Bewegungen bereits im Zuge der letzten Wirtschaftskrise.
Das sind nur ein paar Beispiele, die zufällig gewählt wirken, gerade das ist aber ein wichtiger Punkt: Das Fehlen bzw. die Schwäche von Massenorganisationen der Arbeiter*innenbewegung machen es sehr schwer abschätzbar, wo wann welche Bewegungen losbrechen werden. Klar ist aber: es brodelt.
Die Gewerkschaften organisieren die Arbeiter*innenklasse im Wesentlichen in Form von Mitgliedsformularen. Eine Reihe von Werkschließungen und Entlassungen in der Industrie, wo die Organisierungsrate sehr hoch ist, zeigen, dass der ÖGB nicht bereit ist, über symbolische Aktionen hinauszugehen, wenn er nicht durch Druck von unten gezwungen wird. Wenn der ÖGB selbst bei der Schließung vom MAN-Werk in Steyr, an dem 5.000 Jobs in einer Region mit 100.000 Einwohner*innen hängen, das schwarze Zahlen schreibt und wo Streiks ein echtes Druckmittel sind, weil der Konzern mit der Produktion nicht auf andere Standorte ausweichen kann, nichts passiert außer eine SPÖ-Wahlkampfveranstaltung in Form eines Warnstreiks – wenn der ÖGB selbst hier nicht fähig ist,die Interessen der Kolleg*innen ernsthaft zu vertreten, wo soll er dazu fähig sein?
Ein anderes Problem, dass sich aus dem Schulterschluss des ÖGB mit der Regierung ergibt, ist: Er setzt keine Initiativen, an denen sichtbar wird, wo das Bewusstsein der Kolleg*innen steht und wie weit die Klasse momentan überhaupt mobilisierbar ist, um sich zu verteidigen.
Das heißt, die Veränderungen im Bewusstsein passieren oft unter der Oberfläche, und werden immer wieder hochkommen – in Form von spontanen und vielleicht explosionsartigen Mobilisierungen und Bewegungen: Weil der Leidensdruck zu hoch ist, aus reiner Verzweiflung weil der Betrieb schließt oder weil ein neuer Angriffe den Arbeitsdruck noch höher treiben soll. Es ist davon auszugehen, dass sich solche Bewegungen auch am ÖGB vorbei entwickeln. Als Sozialist*innen treten wir hier sowohl für einen Kurs- und Führungswechsel in den Gewerkschaften ein als wir auch Organisierung an der Basis außerhalb unterstützen.
…und neue Jugendbewegungen
Ähnlich ist es auch bei Jugendbewegungen: Es gibt keine Strukturen, aus denen die Stimmung herauszulesen ist, es ist schwer abzuschätzen, um welches Thema Bewegung losbrechen. Wir sehen eine starke Orientierung an internationalen Bewegungen wie Black Lives Matter und Fridays for Future, die auch in Österreich viele Jugendliche auf die Straße gebracht haben. Dieser Internationalismus steht durchaus auch im Gegensatz zum Rückzug des Kapitals auf die eigene Homebase, zum zunehmenden Nationalismus (präsentiert als Patriotismus) der Herrschenden. Außerdem ist deutlich, dass Frauen*unterdrückung und LGBTQ+-Themen und Rassismus im Bewusstsein vieler Jugendlicher eine wichtige Rolle spielen. Es findet eine generelle Politisierung statt: Jugendliche die auf eine Demo gegen Umweltzerstörung gehen, werden in vielen Fällen auch bei der nächsten Black-Lives-Matter-Mobilisierung auf der Straße sein. Wie auch in vielen betrieblichen Auseinandersetzungen spielen Frauen* eine zentrale Rolle in allen Bereichen von Jugendmobilisierungen. Die Unterdrückung im Kapitalismus und die immer härteren Angriffe in der Krise treffen Frauen* doppelt und dreifach. Die Lebensrealität vieler (junger) Frauen aus der Arbeiter*innenklasse steht im krassen Gegensatz zum Versprechen der Gleichberechtigung, das staatliche Institutionen, EU & Co hinausposaunen – und bringt sie auf verschiedenen Ebenen zunehmend und schneller in Konflikt mit dem System.
Die Krise schlägt sich stark im Bewusstsein von Jugendlichen nieder – es ist eine Generation, die nie einen wirklich „funktionierenden“ Kapitalismus erlebt hat sondern mit und in der letzten Krise aufgewachsen ist und nun bereits die nächste erlebt. Corona/Gesundheit ist das wichtigste Thema für Jugendliche. [6] Das zweite ganz große Thema bleibt Umwelt- und Klimaschutz. Laut einer Studie des Instituts für Jugendkulturforschung haben 85% der 11- bis 18-jährigen Angst, dass „wir drauf und dran sind, den Planeten zu zerstören“. [7] Eine neue Welle von Klimaprotesten ist nur eine Frage der Zeit. Auf Grund der Erfahrungen, dass „reden mit der Politik“ nichts geändert hat (siehe EU-Klimaziele bis 2030, denen auch die Grünen zustimmen), steht hier eine Radikalisierung auf der Tagesordnung. Im Zusammenhang mit Corona ist die größte Sorge, dass die Armutsschere weiter auseinandergeht – und zwar bei knapp 70%. Die zweitgrößte sind mit knapp 60% Wirtschaft und Job. Das deutet an, dass mit der Krise auch bei Jugendlichen soziale Fragen in den Vordergrund rücken.
Diese Entwicklung drückt sich international beispielsweise auch in der neuen Black Lives Matter-Bewegung in den USA aus: hier sind soziale Forderungen viel präsenter als in der ersten BLM-“Welle“. Bei vier von zehn Jugendlichen haben sich die psychische Gesundheit und die finanzielle Situation durch die Corona-Pandemie verschlechtert. 55% der Jugendlichen glauben, dass das Leben in der Zukunft schlechter sein wird. [6] Diese Zukunftsangst und Perspektivlosigkeit könnte auch in Österreich ihren Ausdruck auch in kleineren Riots/Aufständen finden.
Kapitalismus funktioniert nicht – sozialistische Alternative aufbauen!
Dass Kapitalismus nicht funktioniert, ist heute für viele eine offensichtliche Tatsache. Das Bewusstsein ist weiter als noch vor fünf, zehn, oder fünfzehn Jahren. Was eine Alternative sein könnte, ist nicht so klar. Es ist nicht so, wie in den Sechzigern oder Siebzigern, dass Sozialismus von breiten Schichten, die aktiv werden, als Systemalternative gesehen wird. Für Sozialist*innen tun sich aber immer mehr Möglichkeiten auf, mit sozialistischen Ideen eine Alternative anzubieten, die auch ernst genommen wird. Daraus geht vor allem auch eine große Verantwortung hervor.
Wir müssen darauf gefasst sein, dass es jederzeit einen Tropfen geben kann, der das Fass zum Überlaufen bringt und Mobilisierungen oder Bewegungen auslöst. Das kann ein Racial-Profiling-Video sein, auf dem Polizeigewalt zu sehen ist, ein brutaler homophober Übergriff auf offener Straße, der Vorwurf von Vergewaltigung einer Mitarbeiterin durch einen ÖVP-Abgeordneten der öffentlich wird, ein Angriff auf das Recht auf Schwangerschaftsabbruch oder eine kommende Kürzungsmaßnahme im Sozialbereich. Einstellen können wir uns als Marxist*innen darauf im Wesentlichen, indem wir versuchen, möglichst viel in Diskussion zu treten mit Jugendlichen Beschäftigten aller möglicher Bereiche, um mehr über die Stimmung in Belegschaften und Branchen herauszufinden. Und indem wir die Zeit nutzen, uns vorzubereiten und zu schulen, aus vergangenen und internationalen Erfahrungen zu lernen – um bereit zu sein, wenn es zu Bewegungen kommt und ihnen eine antikapitalistische, sozialistische Perspektive aufzeigen zu können.
Der Artikel basiert auf den Einleitungsreferaten auf der Konferenz der SLP.
[2] https://www.ogm.at/wp-content/uploads/2020/11/APAOGM-Vertrauensindex-Bundespolitiker-November-2020-484x1024.jpg; https://www.ogm.at/wp-content/uploads/2020/09/APA-OGM-VIndex-Bundespolitiker-Juli-2020.png
[3] https://www.oe24.at/oesterreich/politik/zufriedenheit-mit-regierung-im-sinkflug/447598237
[4] https://www.profil.at/oesterreich/umfrage-oevp-corona-11452832; https://www.profil.at/oesterreich/umfrage-tuerkis-gruene-regierung-mit-stabiler-mehrheit/401120226)