Di 06.10.2009
CDU/CSU und SPD verloren circa acht Millionen WählerInnen im Vergleich zu den Bundestagswahlen 2005. Die Gründe für die Abkehr der Parteien der großen Koalition liegen auf der Hand. Die zentralen politischen Inhalte und die Richtung der Politik von Merkel und Steinmeier werden von einer Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt, das geht aus vielen Umfragen hervor. Agenda 2010 und Hartz IV, Privatisierung der Bahn und Rente ab 67, Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr und Abbau demokratischer Rechte haben keine Mehrheit in der Bevölkerung. Aber Demokratie funktioniert im Kapitalismus so, dass die neue Regierung mit dieser Politik nicht nur weiter machen, sondern sie sogar intensivieren wird.Die Wahlbeteiligung ist um über sechs Prozentpunkte auf 70,9 Prozent gefallen und damit die niedrigste in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bei einer Bundestagswahl. Damit ist die Gruppe der NichtwählerInnen größer als jede Wählergruppe einer der Parteien. Das führt dazu, dass weder die neue schwarz-gelbe Regierung noch eine Große Koalition eine Mehrheit der wahlberechtigten Bevölkerung repräsentieren ( der Gesamtbevölkerung ohnehin nicht, da Millionen MigrantInnen und Jugendliche unter 18 Jahren kein Wahlrecht haben). Auch die Parteien der neuen Regierung zusammen haben, trotz des Zuwachses für die FDP, Stimmen verloren. Von einem Rechtsruck in der Gesellschaft kann also nicht die Rede sein. Die Legitimations- und Vertrauenskrise der bürgerlichen Institutionen und Parteien geht weiter.
Während die CDU/CSU zwei Millionen WählerInnen verloren hat und nicht gestärkt in die neue Regierung geht, hat die SPD ein historisches Desaster erlebt. Niemals zuvor seit Ende des Zweiten Weltkriegs stimmten weniger Menschen für die Sozialdemokratie. Der Politologe Franz Walter wies auf SPIEGEL Online darauf hin, dass “gewissermaßen in das Jahr 1893 zurückgefallen” ist. Damals erzielt sie 23,4 Prozent, was allerdings Teil des Aufstiegs der einst mächtigen Arbeiterpartei war. Seit 1998 hat die SPD gut die Hälfte ihrer WählerInnen verloren! Walter spricht von einem Personal in der SPD, dass “Hunderttausende von Mitgliedern verprellt, Millionen von Wählern vertrieben und das Selbstbewusstsein von einst berufsstolzen Arbeitern und Angestellten nahezu zerstört” hat. Der Niedergang der SPD zeichnet ihre Entwicklung von einer Arbeiterpartei (wenn auch mit bürgerlicher, pro-kapitalistischer Führung) zu einer durch und durch bürgerlich-kapitalistischen Partei, die in den elf Jahren ihrer Regierungsbeteiligung ein Motor von Sozialabbau und neoliberaler Politik war.
Dass DIE LINKE mit 11,9 Prozent zur viertstärksten Partei geworden ist und eine Million WählerInnen mehr als im Jahr 2005 mobilisieren konnte, ist ein Erfolg, aber fünf Sechstel der WählerInnen, die der SPD den Rücken gekehrt haben, und das Gros der NichtwählerInnen konnte sie nicht erreichen. Das zeigt, dass sie ihr Potenzial bei weitem nicht ausschöpft, aber auch dass es nur eingeschränktes Vertrauen in die Partei gibt (mehr dazu auf Seite 5).
Die stärksten Zugewinne hatte die FDP zu verbuchen. Westerwelle grinst nun noch breiter und arroganter in die Kameras und hat “harte Koalitionsverhandlungen” angekündigt. Noch nie war der Juniorpartner in einer Regierungskoalition so stark. Die so genannten Liberalen sind stärker als die CSU-Landesgruppe im Bundestag und stellen immerhin ein Drittel der künftigen Regierungsabgeordneten.
Dass ausgerechnet die FDP in Zeiten der Weltwirtschaftskrise zu legt erscheint auf den ersten Blick paradox. Ihr neoliberales Programm weiterer Deregulierung geht selbst den intelligenteren VertreterInnen des Bürgertums zu weit. So wollte selbst die Financial Times Deutschland nicht zur Wahl der FDP aufrufen, weil diese keine ausreichenden Vorschläge zur Regulierung der Finanzmärkte mache. Aber die FDP war, neben der LINKE, die einzige Partei, die elf Jahre an keiner Bundesregierung beteiligt war. Ihre Propaganda für Steuersenkungen und die Tatsache, dass Westerwelle sich sozialpolitisch etwas geläutert gegeben hat, mögen ihr in den Augen von manchen WählerInnen auch ein Image haben zukommen lassen, was nicht zutrifft. So sollen in einer Meinungsumfrage fünfzig Prozent der Befragten geäußert haben, diese ‘kleine Partei des großen Kapitals’ stehe für höhere Löhne! Aber das Wachstum der FDP auf Kosten der CDU/CSU ist auch ein bewusstes Signal von Teilen der Bürgertums und des Mittelstands, dass die Umverteilung von unten nach oben zur Sanierung ihrer Profitraten verschärft werden soll.
Letztlich hat aber das Stillhalteabkommen zwischen Unternehmern und Regierung ein solches Wahlergebnis möglich gemacht. Um Arbeitskämpfe und soziale Proteste vor den Bundestagswahlen zu vermeiden haben die Bosse gegen eine Ausweitung der Kurzarbeiterregelungen auf Entlassungen weitgehend verzichtet - bis zum Wahltag. So sind die Folgen der Weltwirtschaftskrise bisher abgefedert worden und hat sich in einem langweiligen und inhaltsleeren Wahlkampf die soziale Polarisierung, die sich ohne dieses Stillhalteabkommen entwickelt hätte, nicht in eine politische Polarisierung verwandeln können. Dies kann sich nun nach den Wahlen umso schneller entwickeln.
Das schlechte Wahlergebnis für die faschistischen Kräfte, die ja auch bei den Landtagswahlen in Brandenburg aus dem Parlament geflogen sind, zeigt, dass soziale und wirtschaftliche Fragen zur Zeit im Mittelpunkt des Denkens der Menschen stehen und gerade beim Thema soziale Gerechtigkeit DIE LINKE punktet und dadurch Proteststimmen für Faschisten bremst. In den Ländern, in denen Nazi-Parteien im Landtag saßen oder sitzen, haben sie sich aber auch selber entzaubert und hat sich gezeigt, dass sie keine stabile soziale Basis haben. Trotzdem ist das schlechte Abschneiden der Rechtsextremen kein Grund zur Entwarnung. Eine Folge kann auch sein, dass die gewalttätigen ‘Stiefelfaschisten’ in der rechten Szene wider mehr Einfluss gewinnen.
Die Piratenpartei konnte mit immerhin 1,9 Prozent ein beachtliches Ergebnis für eine erste Kandidatur bei Bundestagswahlen erzielen. Die Stimmen für sie sind ein diffuser Proteste gegen Entdemokratisierung der Gesellschaft. Weil die Piraten aber in Wirklichkeit kein Programm haben, ist es kaum zu erwarten, dass sie in den nächsten Jahren eine Parteistruktur aufbauen können, die sie zu einer langfristig ernst zu nehmenden politischen Kraft werden lässt.
Wie weiter nach den Wahlen?
Die neue Regierung wird als Sachverwalterin der Banken und Konzerne den Auftrag aus den Chefetagen erhalten, Bedingungen zu schaffen, um die Profitraten für die Kapitalisten zu steigern. Die Produktivität der deutschen Wirtschaft ist im Verlauf der Krise im Vergleich zu den USA deutlich gesunken. Hier gibt es aus Sicht der deutschen Kapitalisten erheblichen Nachholbedarf, das heißt Einsparungsbedarf.
Die Regierung wird außerdem mit der höchsten Staatsverschuldung in der Geschichte des Landes konfrontiert sein. Viele Kommunen sind schon jetzt wegen des Rückgangs der Gewerbesteuereinnahmen mit massiven Haushaltslöchern konfrontiert. Das ist ein Rezept für massive Angriffe auf den Lebensstandard und die Rechte von Lohnabhängigen, Erwerbslosen, RentnerInnen und Jugendlichen. Das Gerede über Steuersenkungen und "mehr netto vom brutto" wird sich herausstellen als Steuersenkungen fürs Kapital und steigende Belastungen für ArbeitnehmerInnen – wenn nicht bei der Lohnsteuer, dann über Mehrwertsteuer, Gesundheitsausgaben, Gebührenerhöhungen etc.
Merkel und Westerwelle sprechen davon, dass sie die Regierung schnell bilden wollen, um ‘an die Arbeit’ gehen zu können. Das spricht dafür, dass es auch schnell zu ersten Maßnahmen gegen die Masse der Bevölkerung kommen kann. Dies wird einher gehen mit dem Auslaufen der Kurzarbeit in vielen Betrieben und einem deutlichen Anstieg der Erwerbslosigkeit.
An welchen Punkten die Regierung losschlagen wird und ob sie versuchen wird mit dem großen Hammer bis nach den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen im Frühjahr 2010 zu warten, ist nicht sicher vorherzusagen. Die Landtagswahlen sind für die Bundesregierung von größter Bedeutung, weil eine Abwahl der schwarz-gelben Koalition in Düsseldorf mit dem Verlust der schwarz-gelben Mehrheit im Bundesrat einher gehen würde. Dies wiederum kann ein Grund sein, vor den Landtagswahlen schon möglichst viele Maßnahmen durchzupeitschen. In jedem Fall ist der Druck aus kapitalistischer Perspektive hoch: die Agentur für Arbeit steht vor einem riesigen Defizit, generell gehen die Einnahmen in die sozialen Sicherungssysteme aufgrund wachsender Arbeitslosigkeit zurück. Die Unternehmer drängen auf weitere Steuererleichterungen, was nur durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer und Kürzungen im Sozialen kompensiert werden könnte. Hinzu kommen Forderungen nach Abschaffung der, ohnehin wenigen, Mindestlöhne oder nach einer Aufweichung des Kündigungsschutzes aus dem Unternehmerlager. Sicher ist, dass die Laufzeiten für die Atomkraftwerke verlängert werden, kein Wunder also, dass die Aktienkurse von Eon und RWE am Tag nach der Wahl in die Höhe schnellten.
Das Kapital hat mit der Merkel-Westerwelle-Regierung seine Wunschregierung bekommen. Sie werden versuchen daraus den maximalen Nutzen zu ziehen. Das bedeutet aber auch, dass diese Regierung eine Administration der Krise sein wird und innerer und äußerer Druck zu einer hohen Instabilität beitragen werden. Äußerer Druck sollte von den Gewerkschaften kommen. Doch Michael Sommer kündigte an, mit der Regierung zusammen arbeiten zu wollen. Die angemessene Reaktion wäre es gewesen, noch am Wahlabend zu Demonstrationen und Arbeitsniederlegungen als Warnung an schwarz-gelb aufzurufen und die Vorbereitung eines eintägigen Generalstreiks anzukündigen.