Do 19.12.2019
Die Konferenz der SLP im Dezember 2019 findet vor dem Hintergrund von brisanten internationalen Entwicklungen statt, die auch Österreich nicht „kalt lassen“. An den Beginn unseres aktuellen Perspektivendokumentes wollen wir eine kurze Bilanz unseres letzten Perspektivendokuments von 2018 stellen. Wir haben damals korrekterweise auf die potentielle Instabilität der schwarz-blauen Regierung sowie der FPÖ hingewiesen und bezüglich der FPÖ geschrieben „dass die Partei weniger stabil ist, als sie gerne wirken möchte“. Auch haben wir damals bereits aufgezeigt, dass der „Aufschwung“ ein schwacher mit Ablaufdatum ist, von dem die Arbeiter*innenklasse kaum profitiert. 2018 haben wir analysiert „Die SPÖ sucht nach einer Rolle“ und sie hat diese bis heute nicht gefunden… Bezüglich der Grünen haben wir korrekterweise die Gründe für ihren Absturz analysiert, allerdings die Möglichkeit einer Rückkehr ins Parlament nicht behandelt. Wir haben auf das verwirrte Bewusstsein und die weitgehende Ablehnung des Establishments hingewiesen, ein Trend der durch die „Message Control“ von Kurz zwar eingedämmt, aber nicht aufgehoben wurde. Wir haben auf drohende Maßnahmen wie 12-Stunden-Tag und Schritte in Richtung Hartz 4 hingewiesen, die inzwischen (Stichwort: „Mindestsicherungsreform“) auch Realität geworden sind. Bezüglich Protesten haben wir analysiert, dass die „soziale Frage“ von Anfang an eine wichtige Rolle spielen wird, was sich auch gezeigt hat. Die „Donnerstagsdemos“ waren wesentlich stärker als 2000 auf soziale Themen fokussiert. Unsere Initiative im Bildungsbereich hat einen Ansatz in Richtung Vernetzung geschaffen, aber nicht wie erhofft abgehoben. Die Proteste unter Jugendlichen haben sich nicht im Bildungsbereich abgespielt, sondern – mit Verzögerung – um die Klimafrage. Bezüglich der Entwicklungen in den Gewerkschaften haben wir geschrieben: „Beschäftigte, die sich wehren (werden) auf sich alleine gestellt bzw. nur von Teilen der Gewerkschaft (eher unteren Strukturen) unterstützt“. Die Proteste bei der AUVA waren dafür ein Musterbeispiel. Und den Verrat der ÖGB-Führung in Bezug auf den 12-Stunden-Tag haben wir erwartet. Wir haben auf die Notwendigkeit des Aufbaus von gewerkschaftlicher Opposition hingewiesen und geschrieben: „Für den Aufbau von Basisstrukturen und einer gewerkschaftlichen Linken ist es weiters notwendig, dass die Gewerkschaft auch in Protestbewegungen außerhalb ihrer "klassischen" Kampffelder eine Rolle spielt, deren Forderungen aufgreift und mit sozialen und wirtschaftlichen Forderungen ergänzt. So z.B. bei antirassistischen oder Umweltschutz-Bewegungen. Kämpfe, in denen Mitglieder der Gewerkschaft aktiv sind, müssen zu gewerkschaftlichen Kämpfen werden.“ Wir haben hier erste Schritte rund um den ÖGB-Kongress 2018 gesetzt und die aktuellen Entwicklungen rund um Workers for Future geben uns recht. Wir haben auch einige nach wie vor gültige Punkte zum Thema Rassismus gemacht, auf die wir – da wir im aktuellen Dokument darauf keinen Schwerpunkt gelegt haben – nochmal verweisen möchten. Wir weisen auch auf die nach wie vor bestehende, aber geringer werdende Ablehnung gegenüber Organisierung hin – eine Entwicklung, die wir in gewissem Ausmaß auch bei gerade jenen Jugendlichen wahrnehmen, die sich im Rahmen von Fridays for Future nicht nur engagieren, sondern auch organisieren. Am Ende des Dokumentes von 2018 weisen wir auf die Möglichkeiten für eine Zunahme von Klassenkämpfen sowie die Notwendigkeit einer politischen Alternative hin. Beides sind Punkte, die nach wie vor Gültigkeit haben.
Als Marxist*innen analysieren wir den aktuellen Zustand, ausgehend von der wirtschaftlichen Lage und eingebettet in die internationale Entwicklung. Wir stellen Perspektiven – also wahrscheinliche Entwicklungen – auf, um daraus konkrete nächste Handlungsschritte abzuleiten. Da eine neue Wirtschaftskrise in greifbare Nähe rückt, haben wir einen Schwerpunkt auf die wirtschaftliche Entwicklung gelegt. In anderen Dokumenten haben wir uns ausführlich mit der Krise der Arbeiter*innenbewegung unter dem Gesichtspunkt ihrer Parteien auseinandergesetzt. Die großen Bewegungen unter Jugendlichen machen einen weiteren Schwerpunkt in dieser Resolution aus, ebenso wie die Perspektiven im gewerkschaftlichen Bereich, da die Konflikte in und um die Gewerkschaften sich in der kommenden Periode zuspitzen werden.
Der wirtschaftliche Rahmen für die politische Entwicklung
Österreich ist „Teil der Welt“ und aufgrund seines kleinen Binnenmarktes und der Exportorientierung besonders abhängig von den Entwicklungen der Weltwirtschaft. Vor diesem Hintergrund wird jede künftige Regierung agieren müssen. Und hier gilt es, ganz im Sinne des österreichischen Kapitals, die heimische Wirtschaft angesichts des am Vorabend der Krise zunehmenden internationalen Wettbewerbes konkurrenzfähig zu machen. Im Fokus stehen hier steuerliche Entlastungen für Unternehmen und die Verbilligung des „Faktors Arbeit“.
Die Weltwirtschaft steuert auf die nächste Krise zu, das ist inzwischen auch Thema in den bürgerlichen Medien. Die Indikatoren sind eindeutig: Verlangsamung des Wirtschaftswachstums und des Welthandels, Anzeichen von Rezession in der industriellen Produktion, niedrige Investitionen trotz niedriger Zinsen und vieles mehr. Und das alles nicht nur in einzelnen Ländern oder Regionen, sondern gleichzeitig in bis zu 90% der Weltwirtschaft.
Schon jetzt sehen wir Rückgänge in der Industrieproduktion, nicht nur im fernen Japan, sondern auch im wichtigsten Wirtschaftspartner, Deutschland. In Rüsselsheim (bekannt als zentraler Standort von Opel) ist bereits Kurzarbeit angemeldet. Insgesamt gab es im September 19 in 5,5% der deutschen Unternehmen Kurzarbeit – gleichviel wie am Höhepunkt der Krise 2012/13. Für 2020 wird eine Zunahme an Pleiten für Deutschland erwartet.
Noch schlagen sich die Rückgänge bei Welthandel und Industrie nicht in vollem Umfang in der restlichen Wirtschaft nieder, zeigen sich z.B. noch nicht in steigender Arbeitslosigkeit bzw. stehen die Pleiten und Schließungen insbesondere bei den Autozulieferern noch bevor. Aber das ist nur die Ruhe vor dem Sturm.
An welchem Glied die Kette reißen wird, also was der unmittelbare Auslöser für die kommende Krise sein wird, ist noch unklar. Möglichkeiten dafür gibt es allerdings zahlreiche:
- Der Brexit bzw. seine weitere Verzögerung
- Die zunehmenden Handelskonflikte zwischen China und den USA, die zwar immer wieder durch Verträge und Deals abgefedert werden – nur um dann an anderer Stelle wieder aufzubrechen, da es ja um tiefer gehendes, nämlich um die Frage „Wer ist wo die Nr. 1“ geht.
- Die unsichere Lage in Nordafrika und im Nahen Osten, mit Erhebungen einerseits wie in Ägypten, Marokko oder dem Sudan und die wachsende (regionale) Kriegsgefahr in der ganzen Region um Syrien, Türkei, Irak etc. Insbesondere zweitere kann den Ölpreis nach oben treiben und damit dem schwachen Wachstum den Todesstoß verpassen.
- Die Schuldenkrise in Argentinien (Argentinien hat jüngst einen IWF-Kredit über 57 Milliarden Dollar bekommen und vereinigt 61% des gesamten IWF-Kreditvolumens auf sich!).
- Eine entstehende Immobilienblase. Immobilien gehören zu den dynamischen „Märkten“, also jenen, die wachsen und Profite versprechen. Die EZB sieht in elf europäischen Ländern bereits eine Immobilienblase und eine gefährliche Überhitzung in Deutschland, Frankreich, Zypern, Island und Norwegen. 2008 platzte eine ebensolche und war ein wichtiger Faktor in der Krise.
Im Unterschied zu 2007/08 ist aber die Ausgangssituation, um zu reagieren eine weit schwierigere:
- die Verschuldung ist weit höher
- politisch ist ein koordiniertes Vorgehen von Staaten und Banken weit schwieriger als damals da die inner-imperialistischen Konflikte zugenommen haben (Stichwort: Trump-China-EU)
- die chinesische Wirtschaft ist schwächer und verschuldeter als damals und kann daher auch weniger als Rettungsanker dienen (2007/8 hat die massive Nachfrage nach Rohstoffen durch
- China die Wirtschaft in den BRICS-Staaten angefeuert, diesmal ist ein synchrones Eintreten viel wahrscheinlicher).
Österreich am Weg in die Krise – Ursachen und Indikatoren
Die österreichische Wirtschaft ist in extremem Ausmaß von internationalen Entwicklungen, insbesondere von jenen in der EU und hier speziell jenen in Deutschland abhängig:
Österreich hat eine Exportquote von 54,6% des BIP. Bei den Pro-Kopf-Exporten der Waren liegt Österreich auf Platz 7 in der Weltrangliste (Ranking innerhalb der TOP-Export-Länder). Knapp 80% aller Exporte gehen nach Europa, knapp 70% in die EU, jene in andere Teile der Welt entwickelten sich zwar in den letzten Jahren weit dynamischer, machen insgesamt aber nur einen kleinen Teil aus (Asien ca. 9%, Amerikas zusammen ca. 10%...). Deutschland ist der bei weitem wichtigste Handelspartner, das Exportvolumen von Deutschland allein ist so groß wie jenes der nächsten sechs großen Handelspartner zusammen. Über 50% der Exporte sind in den Bereichen Maschinen, Eisen, Stahl, Metallwaren und Fahrzeuge. Hier schlägt der Bereich „Zulieferung an die Autoindustrie“ zu: Jeder 9. Arbeitsplatz hängt daran. Insgesamt 600.000 Menschen arbeiten in auslandskontrollierten Unternehmen – hier gibt es generell in Krisen den Trend zum Rückzug auf die homebase.
Ähnlich das Bild bei den Dienstleistungsexporten: Mit 31% ist der größte Teil hier Reiseverkehr/Tourismus und davon wieder über 40% Tourismus aus Deutschland. Trübt sich die Konjunktur ein, haben Menschen weniger Geld für Urlaub.
Die WKO schreibt: „Der Export ist unsere Wohlstandsquelle und die internationalen Handelsbeziehungen unsere Lebensadern.“ Das bedeutet aber im Umkehrschluss auch, dass bei sinkenden Exporten die österreichische Wirtschaft rasch Probleme bekommt.
Österreich ist am Vorabend der Krise in einer relativ schlechten Ausgangslage: Die OECD hat festgestellt, das Land sei „stabil“ durch die Krise gekommen – d.h. aber auch, dass die normale kapitalistische Marktbereinigung nicht ausreichend stattgefunden hat, dass die normale kapitalistische Senkung der Lohnkosten nicht ausreichend stattgefunden hat und dass in Folge der Nach-Krisen-Investitionsschub nicht ausreichend stattgefunden hat. Schon 2016 schrieb die WKO: „Die Bruttoanlageinvestitionen Österreichs lagen im Jahr 2015 real noch 1,9 % unter dem Niveau von 2008. Prinzip Hoffnung für 2016: 2016 sollten die Bruttoanlageinvestitionen Österreichs voraussichtlich wieder das Niveau vor der Krise erreichen. In anderen Ländern der EU wurde hingegen das Vorkrisenniveau bereits wieder deutlich überschritten.“ (Zur Erklärung: wirklich aussagekräftig sind die Netto-Investitionen, dass sind Brutto-Investitionen minus Abschreibungen, sinken erstere so bedeutet ein hoher Wert bei den Investitionen nur, dass mehr abgeschrieben wird. Es gibt Berechnungen, dass die Investitionsquote zu 80% aus Abschreibungen zustande kommt, dh kaum in Neues investiert wird – damit veraltet aber der Kapitalstock.)
Die Frage von Investitionen ist im Zusammenhang mit Wettbewerbsfähigkeit zu sehen. Wir nehmen die von Politik und Wirtschaft gerührte Werbetrommel für „Industrie 4.0“, „Start-ups“ (die eine wesentliche Externalisierung von Forschungskosten bedeuten), „Technologie-Cluster“ etc. wahr. Dahinter steckt die Angst, abgehängt zu werden im internationalen Wettbewerb. Diese Angst hat eine reale Grundlage.
Zwar haben die Investitionen nach einem Tiefpunkt 2010 wieder zugelegt, doch die Rate der privaten Netto-Investitionen hat seit den 1970er Jahren die Tendenz zu sinken (mit Ausreißer-Jahren) und liegen bei unter 6% des BIPs (Höhepunkt 1972:12,8%). Die staatlichen Netto-Investitionen sind überhaupt bei mageren 0,5% des BIPs gelandet (1972: 4,1%).
Zwar wird ein im europäischen Umfeld relativ hohes Investitionswachstum bejubelt, aber gleichzeitig verlangsamt sich dieses seit 2016 wieder. Nur 14% der österreichischen Warenexporte können als „hochtechnologisch“ eingestuft werden. Österreich liegt bei der Technologieexportquote unter dem europäischen Mittelfeld. Vor uns liegen z.B. Deutschland (15%), Frankreich (22%), UK (17%) und Luxemburg mit 20%. Besonders in einer angespannten wirtschaftlichen Lage aber bedeutet das Verharren in „traditionellen“ Bereichen tendenziell einen Wettbewerbsnachteil.
Das drückt sich in Kombination mit im internationalen Vergleich hohen Lohnkosten in einem Rückgang der österreichischen Wettbewerbsfähigkeit aus. Hier sind laut internationalem Wettbewerbsranking der Schweizer Wirtschaftshochschule IMD seit 2010 insgesamt 14 Plätze (von 63) verloren gegangen, Österreich liegt 2019 auf Platz 19.
Alle Versuche der öffentlichen Hand oder auch der EU, private Investitionen ausreichend zu steigern, scheitern – und das obwohl die Zinsen kaum existent sind. Neue Technologien kommen v.a. im Telekommunikationsbereich zum Einsatz, aber viel weniger in der Industrie. D.h. dass entgegen aller Propaganda von „weniger Staat“ dem Staat spätestens seit 2007 wieder eine zentralere Rolle in der Wirtschaftspolitik zukommt.
Konkret springt der Staat ein, wo die Privaten auslassen. Es gibt von der Öffentlichen Hand finanzielle Unterstützung von Start-ups etc. Diese „schwimmen im Geld“ in der Hoffnung, durch Investitionen in neue(re) Technologien Anlagefelder zu finden, in denen Teile der heimischen Wirtschaft die nächste Krise durchtauchen können. Auch bei der staatlichen Risikokapitalanlage liegt Österreich im europäischen Spitzenfeld, nur in Irland und Ungarn liegt der Wert höher. Es kann sein, dass eine neue Regierung hier „Umweltschutz“ mit Investitionen bzw. Steuererleichterungen unterstützt und hier eine neue Sparte für einen Teil des heimischen Kapitals gefördert wird. Ein Rettungsanker für die Gesamtwirtschaft ist „Green Capitalism“ aber nicht – weil das Volumen zu gering ist und in Krisenzeiten Umweltschutz wieder verstärkt zum „Luxus“ wird.
Aber weil auch staatliche Finanzspritzen die strukturelle Krise des Kapitalismus nicht überwinden können, sind die Ergebnisse mangelhaft – nur 1% der Beschäftigten arbeiten im „innovativen Sektor“. Gemeint sind hier schnell wachsende Sektoren und natürlich gibt es hier Zusammenhang mit neuen Technologien (sogar in Italien liegt der Wert höher, in Deutschland bei 4%, in Ungarn und der Slowakei sogar 8%). Österreich ist hier Schlusslicht.
Wenn aber der Kapitalstock, also Maschinen, Technologie etc. veraltet ist, sinkt die Konkurrenzfähigkeit, was in der kommenden Krise durchschlagen wird. Natürlich sind sich auch die Kapitalist*innen dieser Gefahr bewusst und daher wird auch von hard-line-Neoliberalen (z.B. „Agenda Austria“) gefordert, dass der Staat die Wirtschaft mehr unterstützen muss. Indirekt, durch Steuersenkungen bzw. erhöhte Abschreibungsmöglichkeiten und direkt „für mehr staatliche Investitionen“ auch mit dem Ziel, Infrastruktur für das Kapital bereitstellen.
Die unzureichenden Investitionen führen zu einem schwachen Wachstum der Arbeitsproduktivität. In Verbindung mit aus Sicht des Kapitals zu hohen Lohnabschlüssen führt das zu einem relativ starken Wachstum der Lohnstückkosten. Tatsächlich wird von verschiedenen Seiten des Kapitals wieder verstärkt über die hohen Lohnstückkosten geklagt (die tatsächlich wesentlich aussagekräftiger sind als „Lohnkosten“, da hier unter Einbeziehung verschiedener Kostenfaktoren sowie der Produktivität verglichen wird, was die Produktion einer Einheit/Stück kostet). Während Österreich hier in der Periode 2000-09 hinter der Eurozone zurücklag, als die Wettbewerbsfähigkeit sich verbesserte, fällt Österreich seit 2010 zurück, dh die Wettbewerbsfähigkeit sinkt.
Aus Sicht des Kapitals ist es also nötig, die Lohnstückkosten zu senken (durch Lohnsenkung, längere Arbeitszeit, Senkung der Lohnnebenkosten, Steuersenkungen, Verdichtung der Arbeit etc.).
Die andere Seite der Medaille ist allerdings, dass das Wirtschaftswachstum in Österreich aktuell stark von der Inlandsnachfrage abhängig ist. Wirtschaftsforscher*innen gehen schon jetzt davon aus, dass der private Konsum aktuell und in den nächsten Jahren die wichtigste Stütze der Konjunktur ist. Der Effekt der Steuerreform 2016 ist allerdings schon wieder vorbei. Maßnahmen wie der von schwarz-blau eingeführte Familienbonus sowie die Erhöhung der Negativsteuer (beschlossen im September 2019, wirksam ab 2020) haben daher nicht nur populistische Wähler*innenfang-Aufgabe, sondern sollen auch die Inlandsnachfrage stärken.
Hier zeigt sich deutlich der Widerspruch zwischen der Notwendigkeit für jedes einzelne Unternehmen als Produzent (Lohnstückkosten senken) und als Verkäufer (bzw. bei der Realisierung des Mehrwertes durch Verkauf – Notwendigkeit zahlungskräftiger Käufer*innen) - ein Grundwiderspruch des Kapitalismus, der in Krisenzeiten besonders deutlich zu tragen kommt. Auch in diese Richtung werden sich die unterschiedlichen Begehrlichkeiten des Kapitals in der kommenden Periode verstärken: Rufe nach „Senkung der Lohnnebenkosten“, staatlicher Lohnsubvention (Kurzarbeit, Mindestsicherung zum Aufstocken von Niedrigstlöhnen) etc. Auch wenn die Angriffe auf Löhne in Österreich nicht vergleichbar brutal waren wie z.B. in Deutschland mit der massiven Ausweitung des Billiglohnsektors, so findet mit der „Reform“ der Mindestsicherung hier ein Aufholprozess statt. Auch drückte sich die wirtschaftliche Erholung der letzten Jahre nicht in einem generellen Anstieg des Lebensstandards aus. Von 2010-2017 sanken die Reallöhne in Österreich um 0,1%. Besonders Frauen sind durch die hohe Teilzeitquote durch niedrige Einkommen belastet. Beim Gender-Pay-Gap ist Österreich mit 40% bzw. bereinigt um die Teilzeit bei 20% im traurigen europäischen Spitzenfeld.
Das bedeutet, dass mit Eintreten der Krise die Reserven der Arbeiter*innenklasse schon gering sind. Ein Blick auf die Sparquote zeigt, dass sich die Arbeiter*innenklasse bis heute nicht von der Krise 2007/8 erholt hat, seit 2013 verharrt die Sparquote auf niedrigem Niveau. Ein Drittel der Haushalte ist verschuldet und seit 1995 steigt die Verschuldung privater Haushalte weitgehend linear – von 60% des netto verfügbaren Jahreseinkommens auf 90%. Zum Vergleich: Die Maastricht-Kriterien sagen, dass die Staatsverschuldung nicht über 60% des BIP liegen soll. Die Hälfte der Bevölkerung hat inzwischen Konsumschulden, der häufigste Grund für Verschuldung ist Arbeitslosigkeit bzw. zu geringes Einkommen.
Die Einkommensverteilung hat sich weiter verschärft, so erklären in einer Studie der AK „externe und interne Experten“: „Seit 2000 kann ein Auseinanderdriften von niedrigen und hohen Einkommen der unselbständig Erwerbstätigen beobachtet werden.“ Die untersten Einkommen sind seit 2000 real gesunken. Betroffen sind davon v.a. Frauen, auch wegen der hohen Teilzeitquote. Die enorme Ungleichverteilung zeigt sich auch bei der Vermögensverteilung, die 5% Haushalte mit dem höchsten Bruttovermögen besitzen 42% des gesamten Vermögens in Österreich – die untere Hälfte matte 4%. Das Gefühl über die Ungerechtigkeit dieses Zustandes ist nicht nur vorhanden, sondern wird wütender und ungeduldiger und drückt sich – weil die organisierte Arbeiter*innenbewegung in Form der Gewerkschaften das Thema kaum aufgreift und gar nicht offensiv bekämpft – teilweise in einer Hoffnung in versprochene „Fairness“ oder „Gerechtigkeit“ von rechts aus, teilweise aber auch in einem wachsenden, aber oft diffusen, antikapitalistischem Bewusstsein.
Beschränkte Handlungsspielräume des Kapitals und Angriffsfelder kommender Regierungen
Die Krise kommt, das pfeifen die Spatzen von den sprichwörtlichen Dächern und darauf bereiten sich auch Kapital und entsprechend Politik vor. Im Vergleich zu 2007/8 sind aber die Spielräume für Gegenmaßnahmen noch beschränkter. Was wurde damals gemacht, und was geht heute?
Die österreichische Regierung reagierte u.a. mit Lohnsubventionen (Kurzarbeit), Infrastrukturprojekten (ÖBB) und Konjunkturprogrammen (die Investitionen stimulieren sollten). Außerdem profitierte die österreichische (Zuliefer)Industrie stark von der deutschen Abwrackprämie. Der Schwerpunkt lag in Folge auch auf der Rettung und Stabilisierung der Finanzmärkte. Es kam zu Bankenrettungen durch Notverstaatlichung (Hypo) bzw. die Auslagerung in eine Bad Bank sowie die Vergabe günstiger Kredite (Erste etc.). Derartige Maßnahmen brauchen die entsprechenden finanzielle Reserven bzw. Kreditwürdigkeit. Doch auch in Österreich machen trotz niedriger Zinsen und hoher Staatseinnahmen die Schulden noch einen höheren Anteil am BIP als vor der 2007/8er Krise aus (2007: 65% - 2018: 74%). Ähnlich auch in anderen Staaten: In Italien z.B. ist die Verschuldung jetzt schon höher als in Griechenland vor dem Memorandum. Konjunkturprogramme, auch rund um ökologische Maßnahmen (wie von Von der Leyen auf EU-Ebene geplant und insbesondere bei einer ÖVP-Grün-Koalition zu erwarten) sind wahrscheinlich, ihr Umfang aber ist aufgrund der bereits hohen Verschuldung begrenzt und wird nicht ausreichen, um die strukturellen Probleme der Wirtschaft auszugleichen und wird mit Kürzungen an anderer Stelle und erhöhter Neuverschuldung gegenfinanziert werden.
2007/8 gab es ein koordiniertes internationales bzw. europaweites Vorgehen auch um Kapitalverschiebungen zu beschränken. Regierungen und damit auch v.a. EZB, Fed & Bank of Japan borgten sich gegenseitig Geld, auch um Liquidität zu haben. Doch die zunehmenden internationalen, inner-imperialistischen Widersprüche machen eine solche Zusammenarbeit unwahrscheinlicher. Das liegt allerdings nicht einfach an einem „Verrückten“ Trump oder „nationalistischen“ Rechspopulist*innen, sondern am Vorgehen des gesamten Kapitals nach dem Motto „Jacke vor Hose“, also Schutz der eigenen Interessen vor den Gesamtinteressen.
Seit 2007/8 wird versucht, durch niedrige Zinsen die Investitionen anzukurbeln. Auch dies erfolgte koordiniert, um Kapitalflucht zu verhindern. Die niedrigen Zinsen haben zwar auch beim Abbau von Staatsschulden geholfen, doch hat das – auch trotz wirtschaftlicher Erholung - nicht gereicht, um auf ein Vorkrisenniveau zurück zu sinken. Und heute sind die Zinsen bereits auf einem Null-Niveau, ohne aber zu steigenden Investitionen zu führen. Die EZB hebt inzwischen (vor Krisenbeginn) sogar Strafzinsen ein für Banken, die bei ihr Geld anlegen. Ein weiteres Problem niedriger Zinsen ist die damit niedrige Inflation, die ihrerseits Investitionen weiter verzögert (warum heute investieren, wenn morgen die Zinsen noch niedriger sind). Diese Maßnahme ist also bereits über-ausgeschöpft.
Der Ankauf von Wertpapieren und Anleihen durch die EZB (Quantitative Easing): Von März 2015 bis Ende 2018 steckte die EZB rund 2,6 Billionen Euro in Anleihen, was den Eurostaaten günstiges Geld verschaffte – man hoffte damit, die Wirtschaft ordentlich anzukurbeln (was aber nur sehr beschränkt gelang). Auch gelang es nicht (wie erhofft) mit dieser Maßnahme die Inflation (siehe oben) anzukurbeln. Obwohl das Programm mit Dezember 2018 beendet wurde, erlebte es mit September 2019 einen Neustart – bereits vor Krisenbeginn. Im Krisenfall kommt erschwerend hinzu, dass es eine enorme Verflechtung zwischen der EZB und der „Realwirtschaft“ gibt, weil die EZB inzwischen an allen wichtigen europäischen Unternehmen beteiligt ist und zwar insgesamt bis zu 40 % des Bruttoinlandsprodukts der gesamten Euro-Zone.
Die Konflikte in der ONB im Herbst 2019 um FPÖ-Gouverneur Holzmann spiegeln mehr als ein „unsensibles“ Verhalten des FPÖlers in der Personalpolitik wider. Vielmehr ist Holzmann ein Vertreter des neoliberalen Atterseekreises. Der Konflikt ist wohl auch ein Vorbote für unterschiedliche wirtschaftspolitische Konzepte. Denn der ONB-Gouverneur ist in der Geldpolitik weisungsfrei und zwar nicht nur im Inland, sondern auch im EZB-Rat.
Auch die Haltung zur EU ist von großer Bedeutung. Populistisches „Anti-EU“-Getöse, wie zuletzt auch von Kurz zu hören, ist auch weiterhin möglich. Wirtschaftspolitisch aber führt für das österreichische Kapital kein Weg an der EU, bzw. den Kernstaaten der EU und hier insbesondere Deutschland, vorbei. Über 75% aller Exporte gehen nach Europa, bzw. 30% nach Deutschland, nur 7,1% in die USA und nur 2,7% nach China.
Kapital braucht Regierung, die stabil und angriffig ist – Konflikte sind vorprogrammiert
Das Kapital braucht beides, eine Regierung die stabil ist, um in der Lage zu sein, die aus Kapitalsicht nötigen staatlichen Rettungsmaßnahmen zu setzen. Und eine Regierung, die entschlossen genug ist, um die aus Kapitalsicht nötige Senkung der Lohnkosten und der Sozialausgaben durchzusetzen. Die schwierige Regierungsbildung ist Ausdruck dieser „doppelten Aufgabe“.
Eine ÖVP-Grün-Regierung scheint aktuell die wahrscheinlichste Option und wäre wohl – da die Grünen weit pragmatischer sind als ihr Ruf – stabiler als manche im Vorfeld befürchten. Doch auch die SPÖ würde sich aus „Staatsräson“ anbieten, um eine stabile Regierung vor dem Eintauchen in die Wirtschaftskrise anzubieten. Das einzige, was sie im Moment daran hindert, ist ihre eigene Krise. Am grundlegenden Charakter der SPÖ ändert das Hickhack der verschiedenen bürokratischen Fraktionen jedoch nichts: Staatstragend und systemstabilisierend bis zur Selbstaufgabe. Auch die FPÖ, insbesondere Teile um Hofer (und Haimbuchner), die für eine stärkere Wirtschaftsorientierung stehen, steht bereit. (mehr unter: https://www.slp.at/artikel/nach-den-wahlen-ergebnisse-und-perspektiven-9730)
Letztlich kann aber auch ein taktisches Ewig-Verhandeln mit Gang in eine Minderheitsregierung durch Kurz nicht ausgeschlossen werden. Stabilisiert durch einige „Expert*innen“ und eventuell abgesichert durch unterschiedliche Projekte mit den unterschiedlichen Parteien könnte sich Kurz in einer Krise sogar als eine „Minderheitsregierung der nationalen Einheit“ verkaufen. Doch wir haben bei Politiker*innen, die ein ähnliches Konzept fahren wie Kurz (vermeintlich modern, tatsächlich neoliberal) – Macron und Trudeau z.B. – gesehen, dass ihr Glanz vorübergehend ist und insbesondere bei zunehmend härteren, unsozialen Maßnahmen sie sich Protesten gegenüber sehen. Die aktuelle Stabilität von Kurz, und insbesondere der künftigen Regierung, ist auf Sand gebaut. Aktuell geht es einmal darum, dass die kommende Regierung die „Hausaufgaben“ für das Kapital macht: Vom Kapital gefordert werden Maßnahmen, die die Arbeit intensivieren bzw. die Arbeitskosten senken.
Vom Kapital gefordert werden steuerliche Maßnahmen, um Unternehmen „zu entlasten“ (so liegt z.B. Österreich bei der Körperschaftssteuer im europäischen Spitzenfeld) - gegenfinanziert durch Kürzungen bei Sozialausgaben (z.B. durch den Abtausch Senkung der Lohnnebenkosten und Einführung einer verpflichtenden Pflegeversicherung). Hier wird aus Sicht des Kapitals zunehmend ein „ausgesteuerter“ Sektor nötig (also Arbeitskräfte, die nicht „brauchbar“ sind aus Sicht des Kapitals und daher auch nicht „durchgefüttert“ werden sollen – dazu gehören Menschen mit besonderen Bedürfnissen, mit Krankheiten oder Ältere). Dem entgegen steht die Notwendigkeit, diese Schichten (und ihre Angehörigen) ruhig zu halten, und vom Rebellieren abzuhalten. Dies kann durch eine Verstärkung der Repressionen im Sozialbereich wie die Koppelung von Sozialleistungen an „Wohlverhalten“ stattfinden.
Vom Kapital gefordert wird ein leichterer Zugang zu billigen Arbeitskräften, das kann durch indirektes Lohndumping passieren. Eine Erhöhung des Pensionsantrittsalters spült zusätzliche Arbeitskräfte auf den Arbeitsmarkt, die aber schon jetzt „nicht vermittelbar“ sind. Auch kann es durch eine neue Regierung Lockerungen für migrantische Arbeitskräfte geben, um diese dann zum Lohndrücken einzusetzen. Die Reaktion der Gewerkschaft darauf darf kein „Grenzen dicht“ sein, sondern muss ein gemeinsamer Kampf für höhere Löhne für alle sein!
Das Kapital wird aber auch eine aggressivere Umsetzung seiner Interessen vom Staat fordern. Aufrüstung, um im Inland gegen unwillige/rebellische Belegschaften vorzugehen sowie Kriminalisierung von Protesten und Streiks sind hier die eine Seite, eine Stärkung und Aufrüstung des österreichischen Imperialismus, insbesondere am Balkan, wo es einen zunehmenden Wettbewerb nicht nur mit anderen europäischen Imperialismen sondern auch mit Russland und China gibt, und in beschränktem Ausmaß auch in Osteuropa zur Durchsetzung „heimischer“ Interessen sind die andere.
Unmut schon vor dem Eintauchen in die nächste Krise
Die Arbeiter*innenklasse wird sich in absehbarer Zeit mit Beginn der kommenden Krise innerhalb von etwas mehr als 10 Jahren der zweiten Wirtschaftskrise nach jener von 2007/8 ausgesetzt sehen. Der Umgang der Herrschenden mit jener von 2007/8 (Bankenrettung als zentrales Dogma) ist in weiten Teilen der Klasse noch präsent. Auch herrscht in breiten Teilen der Klasse das Gefühl, dass die Folgen der letzten Krise (07/8) noch gar nicht überwunden sind (die Zahlen zu Lebensstandard und Reallohnentwicklung bestätigen das auch). Und schon droht die nächste Krise. Das hat Auswirkungen auf das Bewusstsein. Die Hoffnung, dass die Regierung das „irgendwie hinkriegt“ wird geringer sein, als 2007/8. Das wird das Vertrauen in das Establishment und seine Institutionen weiter reduzieren. Die Krise der bürgerlichen Demokratie ist trotz einer starken ÖVP nicht gestoppt, sondern bestenfalls unterbrochen. All das bedeutet kein automatisch sozialistisches Bewusstsein, doch nimmt das Vertrauen in den Kapitalismus weiter ab. Das ist ein Problem, mit dem sich alle etablierten Parteien konfrontiert sehen, auch die rechten und rechtsextremen.
Bewusstsein entwickelt sich nicht linear und es bleibt nicht ewig gleich. Es kann sich zurück entwickeln, wie es in Folge des Zusammenbruchs des Stalinismus (und damit dem Wegfallen einer Systemalternative), der Verbürgerlichung der Sozialdemokratie und der neoliberalen (auch ideologischen) Offensive nach 1989/90 passiert ist. Es wird nicht einfach vererbt, d.h. junge Generationen, die weder positive noch negative Erfahrungen mit z.B. dem Stalinismus gemacht haben, haben hier ein anderes Bild (was sich z.B. in den USA deutlich zeigt). Und Bewusstsein kann sich, insbesondere wenn es große Ereignisse und v.a. Bewegungen und Klassenkämpfe gibt, sprunghaft entwickeln. Und: Das Bewusstsein ist nicht gleich in allen Teilen der Klasse.
Für unsere Arbeit ist wichtig, auch die negativen Folgen von Jahrzehnten von de facto staatlicher, rassistischer Politik ohne relevanten politischen Konter zu sehen. Die Unterstützung für FPÖ & Co. trägt nach wie vor ein starkes Protestelement in sich, doch gibt es Teile der Arbeiter*innenklasse, die die FPÖ nicht nur als Opposition, sondern auch wegen ihrer rassistischen Politik wählen. Das ist in letzter Konsequenz die ideologische Weiterführung der von Sozialdemokratie und ÖGB vertretenen Standort-Politik: Von „Standort schützen“ zu „Jobs nur für Österreicher*innen“ ist es gerade in Krisenzeiten nur ein kleiner Schritt. Diese verfestigte Basis der FPÖ (die inzwischen die größte Stammwähler*innenbasis hat) wieder wegzubrechen wird nicht leicht. Die pure Existenz einer politischen Alternative in Form einer neuen Arbeiter*innenpartei wird in vielen Fällen nicht mehr reichen. Hier kommt künftigen Klassenkämpfen, in denen Kolleg*innen unterschiedlicher Nationalität und Religion gemeinsam um ihre Jobs und gegen Regierungsangriffe kämpfen, eine zentrale Bedeutung zu. Nicht moralische Argumente, wie sie auch den Antirassismus der Gewerkschaften häufig prägen, werden hier ausschlaggebend sein, sondern die konkreten Erfahrungen in konkreten Klassenkämpfen.
Für uns ist es aber besonders wichtig, die Veränderungen und Entwicklungen in den letzten Jahren zu sehen und hier insbesondere unter Jugendlichen. Das Jahr 2019 endet mit einer Welle von Protesten: Viele starten bei scheinbar nebensächlichen Fragen, aber entwickeln sich rasch weiter und stellen die jeweiligen Regierungen in Frage. Soziale und gesellschaftspolitische Themen treten nicht getrennt, sondern in ihrer dialektischen Verbindung auf. Viele Proteste sind kämpferisch, manche militant. Sie sind nicht nur ein vorübergehendes Aufpoppen, sondern dauern teilweise monatelang an. Weltweit ist v.a. die junge Generation auf der Straße. Die meisten sind aus der Arbeiter*innenklasse, wenn sie auch oft nicht unmittelbar, oft auch nicht bewusst als „Arbeiter*innen“ in die Kämpfe eintreten und die Organisationen der Arbeiter*innenbewegung der Entwicklung in vielen Fällen hinterherhinkten. Wir haben es mit einer neuen Generation zu tun, die sich sehr früh politisiert (viele der Aktivist*innen sind erst 11 oder 12) und Erfahrungen mit Widerstand macht – die sie dann auch in ihrem künftigen (Arbeits-)Leben nutzen kann.
Auch Österreich ist von dieser Entwicklung betroffen. Beschleunigt durch die Angriffe von Schwarz-Blau und die damit zusammenhängende Offensive der Kapitalist*innen rund um Kollektivverträge, Arbeitszeit und Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen erleben wir schon seit Jahren eine Zunahme von Klassenkämpfen. Klarer Höhepunkt dabei war die in kürzester Zeit mobilisierte Massendemo gegen den 12h Tag/ die 60h Woche (12/60). Auch in den kommenden Monaten werden wir weitere Klassenkämpfe sehen: Der Sozial- und Gesundheitsbereich kommt nicht zur Ruhe, laufend entstehen hier neue Initiativen, einige sind (neben SANB) auch sehr erfolgreich (z.B. im Wiener Krankenanstaltenverbund). Im Bildungsbereich gärt es seit Jahren unter der Oberfläche. Und wir haben in einer Reihe von prekären Jobs und schwächer organisierten Bereichen Versuche von Betriebsratsgründungen und Widerstand gesehen – hier ist mehr zu erwarten.
Das zunehmend selbstbewusste (aber gleichzeitig verzweifelte) Agieren der Unternehmen z.B. im Handel provoziert Widerstand. Die Krise in der Autoindustrie wird signifikante Folgen für die Zulieferindustrie haben, die Gewerkschaft wird auf „Sozialpläne“ und ev. Kurzarbeit setzen, doch der Unmut steigt. Das Eintreten der Krise kann vorübergehend eine bremsende Wirkung auf Kämpfe haben, doch wird dieser Effekt eher vorübergehend und kurz sein. Nicht immer und überall wird der Bleideckel Gewerkschaftsbürokratie auch dicht halten. V.a. aber ist der „Streik“ immer weniger unvorstellbar, sondern im Gegenteil gerade auch durch die Klima“streiks“ (auch wenn diese als Schulstreiks keine ökonomische Macht haben) zum „normaleren“ Kampfmittel geworden. Auch das ist wichtig für das Bewusstsein in einem Land, das sich jahrzehntelang rühmt, ohne Streiks auszukommen. Gleichzeitig kann die demografische Entwicklung in manchen Industriebetrieben dazu führen, dass Kämpfe trotz wachsender Krisenphänomene ausbleiben beziehungsweise eine beschränkte Form annehmen. So nimmt das Opel-Werk in Wien Aspern seit Jahren kaum noch neue Lehrlinge auf. Die Belegschaft altert. Diese Umstände erleichtern der Gewerkschaftsbürokratie die Abwicklung des Werkes über Sozialpläne und anderen Maßnahmen. Kämpfe für den Erhalt des Werks als solches sind hier kaum erwartbar, eher Kämpfe für bessere Ausstiegspakete und höhere Abfindungen.
Gleichzeitig gab es in den letzten Jahren einen starken Anstieg von weiteren Protesten auf der Straße, von Murkraftwerk über die Do! Demos, Massenmobilisierungen zu Asyl oder ganz allgemein gegen die Regierung, Ibiza bis hin zur schon ein Jahr andauernden Fridays For Future Bewegung. Entgegen aller Unkenrufe: In Österreich tut sich sehr viel!
Und ein Blick über die Landesgrenzen hinaus muss uns darauf vorbereiten: Diese Entwicklung ist noch nicht vorbei. Wir haben es mit einer teilweise sehr jungen Schicht von Aktivist*innen zu tun, die einen internationalen Ausblick hat und zunehmend den Zusammenhang zwischen Klimakrise und Kapitalismus sieht. Das Thema „Klima“ ist auch in Österreich angekommen. V.a. bei jungen, städtischen und bildungsbürgerlichen Schichten ist auch die Bereitschaft groß, „etwas zu tun“ – in den traditionelleren Schichten der Arbeiter*innenklasse ist das Thema ebenfalls präsent, doch meist noch vom angeblichen „Jobs versus Klima Dilemma“ verwirrt. Wir kennen aus der Vergangenheit die Versuche, Arbeiter*innen und Gewerkschaften gegen Umweltschutzbewegungen aufzuhetzen (Hainburg etc.) – auch wenn insbesondere aus der FPÖ ähnliches nicht ausgeschlossen ist, wird diese Strategie künftig nicht mehr so einfach funktionieren. Wir müssen aber auch dem individualisierten Verzichts-Zugang entgegentreten, da dieser nicht nur viele Menschen aus ärmeren Schichten abschreckt, sondern auch objektiv kein Lösungsansatz für die Klimakrise ist.
Doch trotz teilweise starker Mobilisierungen und sogar kürzeren Streiks war keine dieser Bewegungen wirklich erfolgreich. Bei den Kollektivvertragsverhandlungen wurden nur geringfügig bessere Abschlüsse erzielt wenn gekämpft wurde, das Murkraftwerk ist gebaut, die Regierung ist nicht über den Druck der Straße, sondern über innere Widersprüche gestolpert und in Sachen Klimakrise ist von politischer Seite effektiv nichts passiert. Wir erleben also eine wachsende Bereitschaft zum Widerstand, aber stoßen dabei auf die Probleme aus der langen Durststrecke von Kämpfen. Es fehlt an Selbstbewusstsein, wirklich etwas bewirken zu können, an Vertrauen in die Stärke der organisierten Arbeiter*innenbewegung und schlicht an Mangel an „Know-How“ zu Organisation und Eskalation. Kämpfe werden begonnen, aber dann abgewürgt oder jedenfalls nicht siegreich zu Ende geführt.
Die Kämpfe um soziale und sogenannte „gesellschaftspolitische Fragen“ berühren sich zwar inhaltlich sehr stark, aber gemeinsame Aktionen oder Bündnisse gibt es kaum. Weder orientieren die Aktivist*innen aus den Bewegungen auf die organisierte Arbeiter*innenbewegung, noch ist diese aus sich heraus wirklich präsent, in der Frage von Murkraftwerk oder dritter Piste sogar (durch ihre Führung) auf der anderen Seite.
Hier gibt es einen direkten Zusammenhang mit der von uns in früheren Dokumenten beschriebenen Krise der Arbeiter*innenbewegung. Als Faktor, der durch die ihr eigenen Kampfformen und wirtschaftliche Macht den Unterschied zwischen Sieg und Niederlage macht, kommt die Arbeiter*innenklasse auch im Bewusstsein von Gewerkschafts-Aktivistist*innen und sich radikalisierenden Schichten kaum vor. Ein Bewusstsein dafür, dass auch Themen abseits des unmittelbaren Arbeitslebens für Gewerkschafter*innen relevant wären, gibt es auch kaum. Ohne öffentlich geführte Kämpfe gibt es wenig Kontakt zu anderen Initiativen und wenig Erfahrung mit dem Prinzip der Solidarität als Waffe.
Die Führung der Gewerkschaften
Es ist symptomatisch für den Zustand der Gewerkschaften, dass wohl kaum jemand wirklich weiß, wie die Führungsebene eingesetzt wird. Wer KV-Verhandlungsteams, Gewerkschaftskongresse oder den Vorstand eigentlich genau wählt, ist für Viele ein Rätsel, die Führung zeigt auch kein Interesse, das transparenter zu machen. Die großen Fraktionen und natürlich besonders die FSG (Fraktion Sozialdemokratischer Gewerkschafter) haben sich die Posten nach Proporzprinzip aufgeteilt und dabei über die Jahrzehnte jede Organisierung auf Basisebene abgewürgt. Das geht so weit, dass die meisten unter „Gewerkschafter*in“ die Funktionärseben verstehen, nicht sich selbst als einfache Mitglieder.
Diese tiefe Trennung zwischen Mitgliedern und Führung zementiert die Ideologie der „Sozialpartnerschaft“. Die Mitglieder werden dabei nur zu einer abstrakten Masse, deren Mobilisierung sich bei Verhandlungen mit dem Kapital als immer leerere Drohgebärde einbringen lässt.
Die Erinnerung an längst vergangene Kämpfe und das Wissen um das ja enorme Kampfpotential der Arbeiter*innenklasse haben früher noch öfter gereicht, um kleinere Erfolge allein am Verhandlungstisch zu erreichen. Das lag auch an der schwächeren Rolle, die das österreichische Kapital historisch gespielt hat, aber in den letzten 30 Jahren konnte sie an Eigenständigkeit und eigener imperialistischer Expansion in Osteuropa und Balkan hinzu gewinnen. Heute kann sie mit ganz anderem Selbstbewusstsein in die Klassenkämpfe eintreten, auch weil die Arbeiter*innenbewegung in den letzten Jahrzehnten an Kampfkraft verloren hat. Die jahrzehntelange, langsame Aushöhlung der Sozialpartnerschaft ist offenen Angriffen gewichen.
Die Sozialpartnerschaft ist eine logische Umsetzung der reformistischen Ideologie. Sie versucht einen „ewigen Frieden“, vermittelt durch einen vermeintlich klassenneutralen Staat, mit dem Kapital zu schließen. Das hat NIE funktioniert, aber unter den Bedingungen der relativen Stärke des Proletariats im Vergleich zum österreichischen Kapital war eben dieses zu Deals bereit, die in anderen Ländern schwerer erkämpft wurden. Diese Zeiten sind vorbei.
Das Festhalten an der Sozialpartnerschaft durch die Gewerkschafts-Bürokratie ist ohne Analyse der Gründe dafür immer schwerer zu verstehen. Angesichts von völlig ausbleibenden Erfolgen auf der reinen Verhandlungsebene gerät die Sozialpartnerschaft immer mehr zum Dogma, das nicht mal hinterfragt werden darf. Die Angst vor Klassenkampf ist aber nicht allein auf der Ideologie-Ebene zu verstehen: Der ganze Apparat, allen voran natürlich die Führung mit ihren absurd hohen Gehältern, ist auf Sozialpartnerschaft ausgelegt. Sie sehen ihre Rolle nicht als „Streikführung“ etc., sondern als zuverlässige, seriöse Ansprechpartner auf Augenhöhe für Ministerien, Wirtschaftskammer, Industriellenvereinigung & Co. Schnelle Wechsel aus der Gewerkschaft in die Politik oder (staatsnahe) Konzerne bestätigen das. Gleichzeitig wissen Teile der Bürokratie, dass sie für die Mitgliedschaft „liefern“ müssen und inszenieren daher den einen oder anderen Protest. Denn am Ende des Tages hängt die ökonomische Existenz der Bürokratie vor Allem an den Mitgliedsbeiträgen, aber auch an sozialpartnerschaftlichen Institutionen mit großzügigen Pfründen für sie, wie Sozialversicherungen oder Arbeiterkammern. Wo diese, wie zuletzt ja unter Schwarz-Blau immer wieder diskutiert und versucht, angegriffen werden, könnte die Bürokratie die Kämpfe auch weitertragen. Ob sie den auf Sozialpartnerschaft ausgerichteten Apparat dann schnell genug in die notwendige Kampforganisation verwandeln kann, ist mehr als fraglich. Denn die Bürokratie ist daran interessiert, ihre Existenz als solche zu sichern. Der Existenzzweck einer Gewerkschaftsbürokratie aber ist die Verwaltung des Widerspruchs zwischen Arbeit und Kapital in Zusammenarbeit mit Staat und Unternehmen; durch die Sozialpartnerschaft wurde die Bürokratie in dieser Sicht bestätigt. Daher ist die Rolle der Gewerkschaftsführung eine konservative: „Alles sollte so bleiben wie es ist“. Weil das aber angesichts der unauflöslichen und sich zuspitzenden Widersprüche zwischen Kapital und Arbeit unmöglich ist, verliert die Bürokratie durch ihr Dogma Sozialpartnerschaft den Bezug zur Realität. Denn es wird nicht so bleiben wie es ist.
Die Bindung der Gewerkschaften an den Staat wird mit dem Ende der etablierten Sozialpartnerschaft eigentlich geringer, obwohl sie immer noch personell sehr hoch ist. Ähnlich wie die SPÖ agiert aber auch der ÖGB extrem staatstragend; man hält fest an dem Selbstbild einer quasi staatlichen Einrichtung.
Diese Führung lehnt den Klassenkampf als Mittel der Vergangenheit ab, der aber natürlich trotzdem täglich in den Betrieben und der Politik stattfindet. Das Auslassen der Führung führt zu einer Zunahme an Eigeninitiativen von bedrängten Kolleg*innen. Jede Form von Dynamik an der Gewerkschaftsstruktur vorbei ist gefährlich für die Bürokratie, deshalb ist sie gezwungen, solche Kämpfe aufzugreifen, manchmal auch, um überhaupt eine Existenzberechtigung als Führung zu beweisen - kann sie aber kaum zu einem erfolgreichen Ende führen.
Beinahe jede Form von kämpferischer Stimmung an der Basis wird so zur Herausforderung an die Bürokratie. Wie bei den Protesten gegen den Angriff auf die AUVA, die Sozialversicherung oder den 12h Tag/60h Woche war die Führung gezwungen, zu teilweise starken Mitteln zu greifen. Dabei haben wir erlebt wie riesig das Potential gewerkschaftlicher Mobilisierung trotz der sehr passiven Haltung von Jahrzehnten immer noch ist. Aber wir mussten auch erleben, wie skrupellos diese Bewegungen abgewürgt wurden statt die notwendigen und so offensichtlichen Schritte zu unternehmen, diese zum Erfolg zu führen.
Mittelbau
In dem Bereich der Angestellten der Gewerkschaft finden wir immer mehr Leute, die dort direkt von der Uni eingestellt werden. Viele dieser Angestellten sind bzw. waren politische Aktivist*innen in z.B. ÖH oder SPÖ-Jugendstrukturen oder auch radikaleren Antifa- oder (eher verkopften) marxistischen Gruppen. Oft genug haben wir mit dieser Schicht eine gewisse Gesprächsbasis und kennen sie häufig auch aus dem persönlichen Umfeld. Manchmal können sie auch bei bestimmten Themen zeitweise Verbündete sein. Aber auch das ändert im Zweifel nichts daran, dass diese Leute kein Vertrauen in die Kraft und die Methoden der Arbeiter*innenklasse haben. Ihr Bezug ist abstrakt und durch die „Schule“ der Bürokratie getrübt, deren Verhältnis zur Klasse sehr paternalistisch ist (also „wie Eltern zu Kindern“, also möchtegern-erziehend und nicht ernst nehmend).
Sie setzen die reformistische Ideologie der Führung um und mischen sie mit der „modernisierten“ kleinbürgerlichen von den Unis. Sie sehen Gewerkschaft so wie eine Art „Greenpeace“ für Arbeiter*innen, also agieren wie eine Lobby-Gruppe mit mehr Betonung auf Medienstrategie als auf Mobilisierung und das Herausbilden kämpferischer Schichten in der Arbeiter*innenklasse. Es findet eine „NGOifizierung“ der Gewerkschaft statt.
Das passt bestens zu der im Dogma der Sozialpartnerschaft erzogenen Schicht von Jungbürokrat*innen (ÖGJ...), den Funktionär*innen auf mittlerer Ebene wie von Frauenorganisationen oder den teilweise absurd privilegierten „Betriebsratskaisern“. Diese stehen aber mehr unter dem Druck der Mitglieder, mit denen sie im Betrieb oder über Betriebsrät*innen zu tun haben. Ihre Hoffnung auf baldigen Aufstieg in die Führung schafft aber auch höhere Bereitschaft, aktiv Kämpfe abzuwürgen und falsche Versprechungen zu machen. In diesem Spannungsverhältnis hängt ihr Verhalten besonders stark vom Kräfteverhältnis ab.
Aber Gewerkschaft kann ihren Klassencharakter nur in schwersten Ausnahmesituationen verändern. Selbst enormer Druck durch den Staat und eine verbürgerlichte Führung würden erstmal nichts daran ändern, dass ihre Mitglieder per Definition Arbeiter*innen sind. Die Rolle des Mittelbaus verschärft den aufklaffenden Widerspruch zwischen Bürokratie und Basis. Sich selbst aktivierende und dabei radikalisierende Arbeiter*innen werden oft zuerst mit diesem Mittelbau zu tun bekommen und dabei ihre Erfahrungen mit der Bürokratie machen.
Betriebsrät*innen
Hier kommen wir zu dem derzeit dynamischsten und spannendsten Teil der Gewerkschaftsbewegung. Nein, nicht alle Betriebsrät*innen sind Mitglied einer Gewerkschaft, aber sie werden derzeit als unterste, ansprechbare Ebene bei Protesten heran gezogen. Gewerkschafts-Basisgruppen, wie in andern Ländern, existieren praktisch nicht. Wenn, wie z.B. bei der 12/60 Mobilisierung oder KV-Verhandlungen, die Basis mobilisiert und auf einen bestimmten Kurs eingeschworen werden MUSS, läuft das über die Betriebsrät*innen. Diese sind aber in der Regel abseits von solchen Betriebsrät*innenkonferenzen oder persönlichen oder fraktionellen Beziehungen nicht miteinander vernetzt. Das ist ein großes Problem für alle selbstständigen Initiativen, die von dieser Ebene ausgehen könnten und sollten.
Immer mehr Betriebsrät*innen sind unfraktioniert (sie gehören also keiner der parteinahen Fraktionen wie FSG, FCG, UG, GLB...an). Es gibt hier ein direktes Wechselverhältnis zu der Krise der Fraktionen, allen voran der FSG. Mit dem Schrumpfen der Parteimitgliedschaften fehlen ihnen oft genug schon die Kandidat*innen und die Verankerung in den Betrieben, um erfolgreiche Listen bei Betriebsratswahlen aufzustellen. Das führt 1. dazu, dass besonders die FSG immer mehr Betriebe an unabhängige Listen verliert und 2. Kolleg*innen auf FSG- (oder auch FCG-) Listen kandidieren, die eigentlich wenig in deren Apparat eingebunden sind oder nicht mal Fraktions-Mitglieder sind.
Beides bedeutet, dass oft dynamischere und kämpferischere Kolleg*innen in die Betriebsräte gewählt werden. Auch bilden sich die langsamen und sehr ungleichmäßigen Radikalisierungsprozesse an der Basis auch in FSG&Co besser ab. In Kampagnen arbeiten wir oft und gut mit Betriebsrät*innen aus beinahe allen Fraktionen (Ausnahme AUF) zusammen.
Betriebsrät*innen sind der direkteste Kontakt zur Gewerkschaft in den meisten Betrieben. Die Gewerkschaft macht sie auch für die Umsetzung ihrer Politik in den Betrieben verantwortlich. Gerade in der direkten Auseinandersetzung mit der Konzern-Seite ist der Druck, Disziplin zu halten und „der gemeinsamen Linie“ zu folgen, sehr hoch. Betriebsrät*innenkonferenzen haben eben nicht den Charakter einer Mitbestimmungsebene, sondern werden von der Führung so gestaltet, dass die Betriebsrät*innen mit der Führung zu einer Art „verschworenen Gemeinschaft“ verschmelzen sollen, auch gegen die Kolleg*innen, wenn das sein muss.
Auch den Unternehmen ist bewusst, dass immer mehr kämpferische Kolleg*innen Betriebsratsposten erreichen und davon eine Gefahr für sie ausgeht. Dies zeigte sich gut bei den Streiks im Sozialbereich, so gingen Einrichtungen mit dynamischen Betriebsrät*innen eher in den Streik. Es ist damit zu rechnen, dass die Geschäftsführungen versuchen werden, sie zu schwächen. Dies kann sowohl durch Repression, als auch durch verschiedene Einbindungsstrategien erfolgen.
Ohne eine Organisation im Rücken, die diesem Druck widersteht, ist es schwer, sich diesem Druck zu entziehen und der Verschleppungs-Politik der Führung etwas entgegen zu halten. Unfraktionierte sind daher oft genauso in „Co-Management“ Funktion wie FSG und Co. Auch wenn sie außerhalb des Betriebs z.B. in Antifa oder Klimafragen mit uns zusammen radikalere Positionen vertreten haben, haben sie Hemmungen, das in den Betrieb zu tragen, wo sie nicht nur der Geschäftsführung, sondern auch dem Druck der Kolleg*innen alleine gegenüber stehen. In dem Schaffen einer politisch selbstbewussten Organisation von Betriebsrät*innen und kämpferischen Kolleg*innen liegt ein Schlüssel im Kampf um die Gewerkschaften. Ansätze in diese Richtung sehen wir u.a. bei Workers for Future, ÖGB-Aufrütteln, Sozial aber nicht blöd, Gleicher Lohn für Gleiche Arbeit...
All diesen Initiativen ist gemeinsam, dass sie politische Ansätze zum Aufbau von Betriebsgruppen bieten. Diese Gruppen haben einerseits eine organisierende Wirkung auf bislang nicht organisierte Schichten im Betrieb. Hier können sich Personen einbringen, die weder Gewerkschaftsmitglied noch Betriebsrät*in sind. Gleichzeitig ermöglichen sie die Einbindung engagierter, kämpferischer Kräfte in bestehenden Betriebsratsorganen. Indem diese Betriebsrät*innen in Kontakt mit engagierten Kolleg*innen treten, wird ihnen der Rücken gestärkt, sie bekommen durch positiven Druck gesteigertes Selbstbewusstsein. Das hat umgekehrt wieder Auswirkungen auf nicht organisierte Kolleg*innen, die sich nun entscheiden können, zu Betriebsratswahlen zu kandidieren und ähnliches. Dort, wo solche Prozesse erfolgreich stattfinden, kann eine erste Basis für den Wiederaufbau einer aktiven Gewerkschaftsbewegung gelegt werden.
Zur Zukunft der Gewerkschaften
Auf dem Papier gibt es in Österreich 1,2 Millionen Gewerkschaftsmitglieder (davon ca. 20% Pensionist*innen), also ca. 25,5% der Beschäftigten (Stand 2014). Von der Aufteilung dieser Mitglieder auf die Fachgewerkschaften und ca. 36% Frauenanteil abgesehen lässt sich über die Zusammensetzung dieser Mitglieder (Alter, Größe des Betriebs, Anstellungsverhältnis, Ausbildung...) wenig herausfinden. Anders als in anderen Ländern werden aber z.B. bereits pensionierte Arbeiter*innen weiter in der Statistik geführt. Trotzdem ist der Organisationsgrad vergleichsweise hoch und das Kampfpotential gigantisch!
Gerade weil die Gewerkschaften zunehmend unfähig sind, Betriebsratsgründungen durchzusetzen, sind solche Strukturen auch in Betrieben ohne Betriebsrat sinnvoll. Sie sind eine Vorbedingung für die erfolgreiche Gründung eines Betriebsrats. Hier muss aber auch klar sein, dass eine Betriebsratsgründung als solches noch nicht alle Probleme in einem Unternehmen löst. Betriebsratsgremien sind in ihren Möglichkeiten gesetzlich eingeschränkt beziehungsweise in sozialpartnerschaftliche Ketten gelegt. Betriebsgruppen stellen ein tendenziell unkontrollierbares, an keine Gesetze gebundenes Element dar. Deshalb sind sie von der Bürokratie gefürchtet, deshalb muss ihr Aufbau ein wesentliches Element sozialistischer Gewerkschaftspolitik sein.
Was wir wissen ist, dass sich die Zusammensetzung der österreichischen Arbeiter*innenklasse verändert, so wie sich in vielen Branchen das Berufsleben stark verschlechtert hat. Seit 2008 ist die Zunahme atypischer Beschäftigung um 28% gestiegen. Unternehmen wie Foodora oder Uber, das enorme Wachstum bei den Logistikunternehmen, Billigflieger… sind nur die bekannteren Größen bei neuen, extrem schlechten Beschäftigungsverhältnissen. Ca. 90.000 Menschen sind bei Leiharbeitsfirmen angestellt. Mit dieser Art der Anstellungen und Scheinselbstständigkeiten wird auch die gewerkschaftliche Organisierung und die Verbreitung von Betriebsräten verschlechtert.
In vielen dieser Bereiche sind die Kolleg*innen voneinander isoliert, weil sie größtenteils alleine arbeiten oder die jeweiligen Niederlassungen nur wenige Mitarbeiter*innen umfassen. Sich hier zu organisieren ist extra-schwer. Im Rahmen der alten „Sozialpartnerschaft“ weitgehend verbannte Praxen des „Union-Bustings“, also konkrete Anti-Gewerkschaftsarbeit der Konzerne, die mit Druck und Angstmacherei die Beschäftigten einschüchtern wollen, kommen verstärkt auch nach Österreich. Beispiele dafür sind Amazon Großebersdorf, Müller, Douglas oder Laudamotion. Möglicherweise werden wir bald auch den Einsatz von Streikbrecher*innen in Österreich erleben.
Auch klassische Konzerne setzen auf kreativste Formen der prekären Beschäftigung, wie im Journalismus oder im Handel. Immer wieder sehen wir Versuche hier auch für die atypisch Beschäftigten Betriebsräte zu gründen, oft getragen von wenigen, mutigen und engagierten Kolleg*innen. Unserer Erfahrung nach ist die Hilfe, die sie hier von den Gewerkschaften erwarten können, oft sehr gering. Das Gründen eines Betriebsrats ist hier eben ein sehr offener Konflikt mit den Chef-Etagen. Viel zu oft lassen sich auch die Gewerkschaften auf das „Teile und Herrsche“ Spiel zwischen fest angestellten und prekär Beschäftigten ein, wenn sie die Gründung eines Betriebsrats für die Prekären aus Rücksicht auf den „Betriebsfrieden“ schleifen lassen.
Auch gut Ausgebildete sind von diesen Formen besonderer Ausbeutung betroffen. Deutlich wird das bei Uni-Absolvent*innen: Was früher noch quasi eine Garantie für einen gut bezahlten Job war, bedeutet heute oft lange Schleifen von unbezahlten Praktika und unsichereren Zeitverträgen.
Die deutsche Gewerkschaft Verdi und ihre Kampagne für gewerkschaftliche Organisierung bei Amazon ist ein Beispiel, wie Gewerkschaften kämpferisch mit den neuen (alten) Herausforderungen umgehen können. Ansetzend bei den Entschlossensten haben sie durch Kampfmaßnahmen und Streiks das Vertrauen der anderen Kolleg*innen in gewerkschaftliche Vertretung gestärkt, ganz ähnlich wie bei den Kämpfen am Beginn der Arbeiter*innenbewegung.
Mit „Sezonieri“, einer Kooperation aus ProGe, ÖGB und diversen NGOs, um die Rechte von Erntehelfer*innen durchzusetzen, geben die österreichischen Gewerkschaften ein anderes Beispiel. Statt über Organisierung der Arbeiter*innen läuft diese Vertretung nach eigenen Angaben über Rechtsberatung, staatliche Stellen und Gerichte. Grundsätzlich gut, dass es so etwas gibt, aber es ist eben auch weit weg von dem Aufbau einer gewerkschaftlichen Verankerung in dieser wichtigen und extrem prekären Branche. Eine Mobilisierung der Klasse, die Kernaufgabe einer Gewerkschaft, findet eben nicht statt.
Die Gewerkschaften, die ja auf Mitgliedschaft finanziell angewiesen sind (der ÖGB mit über 200.000.000€/Jahr) scheinen mehr und mehr auf ihren „starken Bastionen“ stehen zu bleiben, also auf dem Öffentlichen Dienst und den großen („staatsnahen“) Konzernen (Schwerpunkt Industrie) mit vielen Beschäftigten. Der Anteil dieser Bereiche an der Arbeiter*innenklasse ist zwar immer noch sehr groß, schrumpft aber. Auf den Wandel in der Zusammensetzung der Klasse und das feindlichere Klima mit dem Kapital sind die Gewerkschaften nicht eingestellt, die wenigen Initiativen, die es hier gibt, kommen spät und zögerlich.
Jener Teil der Klasse, der von der Bürokratie mehr im Stich gelassen wird, ist aber auch der, der zur Zeit den größten Druck ausübt. Wo die Verankerung der Bürokratie noch stark ist, gelingt es ihr recht gut, die Kämpfe zu kontrollieren und jede Eskalation zu verhindern. Unter Deutschlehrer*innen (DIE), im Gesundheits- und Sozialbereich, bei den Gerichts-Übersetzer*innen, bei Foodora&Co ist das aber weniger der Fall. Hier kann sich die Wut über einzelne, engagierte und mutige Kolleg*innen die Bahn brechen. Das sind oft kleinere Kämpfe und Branchen mit weniger Schlagkraft, wie z.B. die Streiks im Sozialbereich in den letzten Jahren.
Auffällig ist, dass Frauen in diesen Kämpfen eine prominente Rolle spielen. In vielen prekarisierten Branchen stellen Frauen den Großteil der Beschäftigten. Zusammen mit erschwertem Zugang zu Kinderbetreuung, mehr Druck aus dem AMS und Ähnlichem entsteht eine „Kämpfen oder Untergehen“ Stimmung, die manch zögerliche*N Gewerkschafts-Hauptamtliche*N überfordern kann. Hier liegt ein besonderes Eskalationspotential.
Dabei gründen sich immer wieder auch kleine „Parallel-Strukturen“ zur Gewerkschaft. Ohne Möglichkeit, Gewerkschafts-Ortsgruppen für den eigenen Kampf zu organisieren, schaffen sich kämpfende Kolleg*innen aus der Notwendigkeit heraus eigene Vernetzung. Das fängt bei einer Email-Liste an und kann den Rahmen wie „Sozial Aber Nicht Blöd“ oder „Gleicher Lohn für Gleiche Arbeit“ annehmen. Versuche, eigene Gewerkschaften zu gründen bzw. sich nicht in die vorgesehene Gewerkschaft einzugliedern beobachten wir dabei in Österreich (noch!) kaum („Bildungsgewerkschaft“), aber sehen einen Trend dazu in anderen Ländern (zB. NASRA/Nordirland).
Schlüsse daraus
Die spontan aufpoppenden, kleineren Kämpfe zusammen mit den häufigeren Kämpfen auch der „starken Branchen“ (ÖBB, Metaller*innen...) stehen in einem spannenden Wechselverhältnis. ZB der Bezug auf die riesige 12/60 Demo 2018 hilft das Vertrauen in die eigene Stärke zu erhöhen und macht Mut, eigene Kämpfe zu starten, natürlich immer noch unter dem Vorzeichen der ausgebliebenen Erfolge in den großen Fragen. Umgekehrt geben kleinere, mehr auf Basis orientierte und kollektiver organisierte Kämpfe Beispiele dafür, wie auch größere Kämpfe geführt werden könnten.
Das Potential für „Leuchtturm-Kämpfe“ nimmt damit zu. Das „Ansteckungsrisiko“ von Kämpfen und Kampfformen, die so nicht von der Bürokratie initiiert wurden, wie bei der AUVA oder im Sozialbereich, steigt. Auch kleinere linke Organisationen können hier eine Brücke sein. Ausdauernde Arbeit in einer Branche und kurzfristigere Interventionen in konkrete Kämpfe gehören hier zusammen.
Es gilt die Lehren aus den aktuell stattfinden Kämpfen und Initiativen wie SANB zu verbreiten und als Forderungen in die Kämpfe zu tragen. Besonders mit den „demokratischen Forderungen“ wie echten Streikkomittees und Urabstimmungen stoßen wir bei aktiven Kolleg*innen auf offene Ohren. Damit ziehen wir neben der Ebene des Klassenkampfs mit dem Kapital auch eine Ebene des Kampfs um die Gewerkschaften gegen die Bürokratie in die Kämpfe mit ein. Es gilt beide Kämpfe zu gewinnen.
Die Bürokratie wird auch von kämpferischen Schichten in den Gewerkschaften und Betrieben kaum als solche erkannt. Die Funktionär*innen werden höchstens als individuell „unsympathisch“ oder „unglaubwürdig“ benannt oder als Teil des verachteten (SPÖ-)Establishments gesehen. Ihre Rolle als Bürokratie, die mit ihrer zögerlichen Haltung ihre ökonomischen Interessen verteidigt, geht dabei oft unter. So ein Verständnis ist aber wichtig, um mehr als einen Austausch der Führung zu erreichen, nämlich den demokratischen und aktivistischen Umbau der Gewerkschaften insgesamt.
Jugend: Die Kinder des Krisen-Kapitalismus
Die Jugend ist geprägt von der praktisch ständigen Krisenhaftigkeit des Kapitalismus seit 2008. Auch wenn es bei den meisten in Österreich nicht direkt um Armut etc. geht, wird vielen schon hier klar, dass der Kapitalismus kein Versprechen auf eine bessere Zukunft mehr halten wird. Aber ganz besonders das Thema Klimakrise führt das Versagen des herrschenden Systems deutlichst vor Augen! Ein krudes, systemkritisches Bewusstsein ist heute beinahe Standard.
Die Errungenschaften älterer Generationen verblassen langsam oder haben eh nur auf dem Papier existiert. Die „Ehe für Alle“ und Antidiskriminierungsgesetze sowie die allgegenwärtige Bekundung von Gleichberechtigung durch das Establishment werden der erlebten Wirklichkeit von LGBTQIA+ Personen nicht gerecht. Frauen sind nicht weniger von Sexismus betroffen, wenn sich etablierte Politik und Konzerne heute, anders als früher, einen „feministischen Anstrich“ verpassen. Dieser Gap zwischen Anspruch und Wirklichkeit, die Heuchelei der Herrschenden, befeuert die Wut auf „das System“ unter Jugendlichen.
Das alleine reicht aber nicht. Es fehlt an glaubwürdigen Alternativen zum Kapitalismus. Das Problem für uns ist dabei immer seltener eine „Sozialismus/Planwirtschaft ist widerlegt“-Haltung, wie sie vor Allem in den 90ern einen Höhepunkt hatte, sondern eher eine „es lässt sich nicht durchsetzen“-Einstellung. Hier sind wir wieder bei der Krise der Arbeiter*innenbewegung, die kein Vertrauen in ihre revolutionäre Kraft mehr einflößt.
Das ewige Gerede, „die Jugend“ sei unpolitisch, ist heute so falsch wie zu jedem anderen Zeitpunkt. Insgesamt ist sie nicht schlechter informiert als andere Generationen oder macht sich weniger Gedanken. Der „Graben“ zwischen der Jugend und den Älteren vertieft sich heute eher über die doch sehr andere Art, sich zu informieren und auszutauschen. Auch in der SLP hatten wir wohl kaum auf dem Schirm, dass ein Youtuber, der zu Musik oder „peinlichen Teenie-Fotos“ Videos produziert, die weitgehendste und meist beachtete Kritik an der CDU seit Jahren formuliert. Auf Medien wie Instagram findet sehr viel Politik statt, aber eben abseits der „etablierten“ Formen. Nicht nur Fridays for Future, sondern auch die Proteste in Hongkong oder die Unterstützung für Bernie Sanders und AOC zeigen, dass durch online-Medien auch für Proteste auf der Straße mobilisiert werden kann. Die Schwierigkeiten dabei in Österreich hängen eher mit einer „was bringen Demos denn?“-Haltung zusammen, die wir allerdings eher bei älteren kennen, als damit, dass die Leute zu bequem etc. wären. Wie auch bei gewerkschaftlichen Aktionen sehen wir auch hier: Wenn Menschen das Gefühl haben, dass die Proteste ernsthaft sind, kommen sie in Scharen. Massendemos wie Fridays for Future spielen für die Entwicklung von Bewusstsein eine Rolle. Zwar ist auch hier bisher der politische Erfolg ausgeblieben, aber die Erfahrung zu zehntausenden in Österreich und zu Millionen weltweit auf der Straße zu sein, das Gleiche zu wollen und dafür zu kämpfen hinterlässt sicher Spuren im Bewusstsein. Es ist ein Vorgeschmack auf das Potential und die Kraft, die kollektive Aktion entwickeln kann.
Das Chaos des Kapitalismus, das sich auf so vielen Gebieten zeigt, kann, v.a. wenn es keine organisierte Kraft mit Antworten gibt, überfordern. Ohne eine theoretische Grundlage, die Widersprüche einzuordnen, wie sie der Marxismus oder in falscher Form auch Religion etc. bieten, ist es sehr schwer, überhaupt einen Überblick zu behalten. Eine logische Reaktion ist es, sich auf einzelne „Baustellen“ zurückzuziehen, also je „nur“ ein Problem anzugehen. Also entweder Klimakrise, oder Kriegsgefahr, oder Datensicherheit… So findet auch eine Zerfaserung statt.
Trotzdem wirken die gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen stark. Auch wer sich auf das Thema Klimakrise „spezialisiert“ hat, nimmt die Polarisierung um das Thema Flüchtlinge, Islam oder Rechtsterrorismus wahr. Bewusst oder nicht fördert das die Politisierung.
Gegenläufig ist hier, dass zumindest bei einer Schicht von migrantischen Jugendlichen (aus Nationalitäten die sich stark mit Rassismus konfrontiert sehen, also v.a. mit türkischem bzw. arabischem Background) der Link zum Herkunftsland (oder dem ihrer Vorfahren) eher stärker als früher ist. Gerade Klassenfragen verschwimmen dabei aus der Ferne oft, besonders auffällig ist das bei dem Phänomen Erdogan. Konflikte aus dem Herkunftsland übersetzen sich oft gefiltert durch soziale Medien nach Österreich. Ein ähnliches Phänomen haben wir während der Balkankriege auch bei Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien gesehen. Diese Entwicklung war aber nicht dauerhaft, heute gibt es im Gegenteil wieder einen starken Wunsch aus Teilen der ex-jugoslawischen Community zur Überwindung dieser Konflikte. Auch kommen aus den Herkunftsländern auch fortschrittliche Impulse, bei Klassenkämpfen oder z.B. bei den Anti-Trump-Protesten unter US-Amerikaner*innen, bei den Protesten in Katalonien unter Katalan*innen etc. Gerade unter ausländischen Studierenden sehen wir hier ein auch für die Partei interessantes Klientel.
Jugendbewegung 2019 - Fridays For Future
Die Krise der Arbeiter*innenbewegung wirft ihren Schatten auch auf Kämpfe und Bewusstsein unter Jugendlichen. Das Gedächtnis der Arbeiter*innenbewegung vererbt sich eben nicht genetisch, sondern kann nur durch ihre Organisationen wach gehalten werden. Diese verwalten ihr Erbe aber schlecht und es kommen kaum neue Erfahrungen mit Kampf dazu. Wer heute unter 25 ist, hatte kaum Möglichkeit an stärkeren und ausdauernden Bewegungen Teil zu haben.
Zum ersten Mal seit den Protesten rund um die Zentralmatura 2013 erleben wir jetzt mit Fridays For Future (FFF) eine Jugendbewegung. Nicht nur das: FFF ist auch mit einem Jahr Bestehen die ausdauerndste Bewegung seit langem. Es sind Strukturen mit hunderten Aktivist*innen entstanden und ein extrem hoher Level an Engagement und Opferbereitschaft zeichnet sie aus. Mit einem österreichweiten Mobilisierungspotential von (am bisherigen Höhepunkt) 150.000 gehört sie auch zu den größten Bewegungen seit Jahrzehnten.
Wichtig ist es festzustellen, dass es immer noch vor Allem, aber sicher nicht nur, die Schichten mit kleinbürgerlichem Bewusstsein sind, die in der FFF-Bewegung aktiv sind. Auf den Schulstreiks sind vor Allem AHS-Schüler*innen in Klassenstärke präsent. In Österreich wird Bildung laut OECD immer noch besonders stark vererbt, vereinfacht ausgedrückt sind Arbeiter*innenkinder in AHS und Uni also unterrepräsentiert. Es ist also schwer, aus unseren Erfahrungen mit den FFF-Aktiven auf das Bewusstsein in der jungen Arbeiter*innenklasse zu schließen. Gleichzeitig sind aber gerade die bei FFF derzeit dominanten Schichten von einer wachsenden Proletarisierung betroffen. Sie werden einen deutlich schlechteren Lebensstandard als ihre Eltern haben, sind durch die Klimakrise mit fundamentalen Existenzängsten konfrontiert, wie dies seit den Hochzeiten der Angst vor einem Atomkrieg in den 1980er Jahren nicht mehr der Fall war, und viele von ihnen können bestenfalls auf prekarisierte Arbeitsverhältnisse hoffen. Das wird sich früher oder später deutlich auf das Bewusstsein auswirken. Das bedeutet auch, dass Universitäten und Fachhochschulen mittelfristig wieder eine stärkere Rolle in ideologischen Auseinandersetzungen spielen könnten.
Eingebettet in eine starke, internationale Bewegung und vor Allem, weil das Thema Klimakrise immer drängender wird, wird die Bewegung wohl nicht nachlassen. Mag sein, dass sie mal stärker und mal schwächer wird, dass sie sich institutionalisiert (Grüne) oder in kleineren, autonom agierenden Strukturen radikalisiert (bis hin zu individual-terroristischen Aktionen), aber an sich wird sie fortbestehen, auch wenn wir hier einen für uns sehr wichtigen Differenzierungsprozess sehen werden.
Auffällig ist, dass Organisationen keine Rolle in der Bewegung spielen. Wie auch schon bei anderen (nicht nur) Jugendbewegungen erleben wir auch eine starke Organisations-, besonders Parteienfeindlichkeit unter den Aktiveren. Dahinter stecken weniger eigene, schlechte Erfahrungen, sondern eher keine Erfahrungen mit Organisationen. Früher gab es in fast jeder Schulklasse in den Städten ein oder mehrere Mitglieder von politischen Organisationen wie AKS (SPÖ Schüler*innenorganisation) oder auch Junge Grüne, Schülerunion (ÖVP Schüler*innenorganisation) oder linken Kleingruppen. Bei Jugendbewegungen intervenierten sie organisiert und mit politischen Inhalten. Auch wenn die Inhalte aus unserer Sicht oft zu kritisieren oder abzulehnen waren, zeigten sie den Unterschied zwischen Organisierung und Nichtorganisierung in einer Bewegung. „Politik“ ist für Jugendliche oft nur das schmutzige und verlogene Geschäft der bürgerlichen Parteien und nichts was sie aus ihrem Umfeld kennen. Bei vielen Aktivist*innen sehen wir aber auch die Erkenntnis, dass es nötig ist, sich zu organisieren – zwar nicht in bestehenden, sondern in neuen Strukturen. Aber wie auch in der Arbeiter*innenklasse zeigt sich: Es ist die quasi natürliche Entwicklung in Protesten, dass sich organisatorische Strukturen bilden.
Ähnliches gilt auch für den Blick auf die Gewerkschaften. Sie sind als erheblicher Faktor unter Jugendlichen schlicht nicht präsent. Woher auch? Schon ihre Eltern haben kaum noch mit ihnen zu tun. Bei Diskussionen mit FFF-Aktiven über die Gewerkschaften erleben wir, wie diese eher in einer Reihe mit Kirchen oder Sportvereinen gedacht werden, also als Plattform, um viele Menschen zu erreichen und politische Breite auszudrücken, aber ohne echte Alleinstellungsmerkmale gegenüber diesen. Gleichzeitig sehen wir aber unter den fortschrittlichen Teilen der Bewegung starke Zustimmung dafür, dass die Schüler*innenstreiks zu „echten“ Streiks ausgeweitet werden müssen. Das zeigt ein instinktives Verständnis für die potentielle Schlagkraft der Arbeiter*innenklasse.
Woran erkennen wir die fortgeschrittensten Schichten?
Eine spannende Minderheit der Aktiven stellt sich die wesentliche Frage nach dem Erfolg der Bewegung. Erfolgreiche Mobilisierungen bedeuten ja noch keine erfolgreiche Bewegung, dafür müssten ihre Ziele erreicht werden. Bei FFF ist besonders unklar, was eigentlich die Ziele genau sind. Die inhaltliche und auch methodische Schwäche von FFF fällt zunehmend auf. Fortschrittlichere Schichten machen sich dazu Gedanken. Für Sozialist*innen ist es daher wichtig, nicht nur Teil der Proteste zu sein, sondern auch Programm und Methode vorzuschlagen, um echte Veränderungen zu erreichen.
Ein weiterer Schritt ist dann, sich auf die Suche nach dem Kontext zu machen. Wer ist z.B. schuld an der Klimakrise? Gibt es eine Linie in der Politik der Regierung, die die OMV protegiert und den 12h Tag einführt? Die Absage an den Rückzug auf „nur“ ein Problem, wie oben beschrieben, zeichnet die Fortgeschrittensten aus. Gerade auch deshalb dürfen Sozialist*innen nicht aus Angst vor Konflikten auf auch kontroverse Debatten verzichten. Der Druck, um einer vermeintlichen „Breite“ willen auf Punkte zu verzichten, ist groß. Wir sind für die größtmögliche Breite aus den verschiedenen Teilen der Arbeiter*innenklasse und der Unterdrückten auf Basis eines kämpferischen Programms und Methode. Eine „Breite“ im Bündnis mit Regierung bzw.
Unternehmen bedeutet zwangsläufig Schwammigkeit und eine Entwaffnung der Bewegung. Wir bringen Punkte wie Antikapitalismus, Sozialismus bzw. Streik nicht aus Prinzipienreiterei ein, sondern weil all das nötig ist, um den Unterschied zwischen Sieg und Niederlage zu machen.
Wir müssen aufzeigen, dass ein Leben ohne fossile Energien kein „Zurück in die Steinzeit“ bedeutet. Wir müssen erklären, dass in der Schaffung von Klimagerechtigkeit viele Chancen für ein besseres Leben stecken: Sinnvolle Jobs, gesünderes Essen, weniger Verkehrslärm, mehr Freizeit, etc. Wir müssen daher den Negativbildern konservativer Kräfte positive Bilder entgegensetzen und die ökologische mit der sozialen Frage verbinden. Wir müssen darauf hinweisen, was in einer sozialistischen Gesellschaft alles möglich wäre und erklären, warum diese Entwicklungen derzeit behindert werden.
Der Wunsch nach einem „ordnenden Verständnis“, das Antworten auf die klaffenden Widersprüche unserer Zeit gibt und vor Allem Auswege aufzeigt, wird dann stärker. Als Marxist*innen stehen wir hier in einem Wettbewerb auch mit anderen Ideen und sei es nur „die Menschheit ist eben zu dumm“, denen wir uns stellen müssen. 2020 beginnt mit vielen, spannenden Aufgaben für Sozialist*innen. Österreich ist längst angekommen im Reigen jener Länder, wo sich „was tut“. Die kommende Wirtschaftskrise, die Krise des politischen Establishments und nicht zuletzt die Klimakrise zeigen die Unfähigkeit des herrschenden Systems auf – unsere Antworten sind nicht simpel, aber richtig. Wir haben nicht mehr und nicht weniger als das große Ziel: Den Kampf zu organisieren, um eine lebenswerte Zukunft zu sichern. Wir haben eine Welt zu gewinnen!