Do 04.12.2008
"Österreich ist zweifellos ein Nutznießer, aber auch eine Lokomotive des Wirtschaftsaufschwunges in der postkommunistischen Welt gewesen. Die Warenexporte nach Osteuropa haben sich seit 1989 auf 24 Milliarden Euro verachtfacht. Die österreichischen Direktinvestitionen machen rund ein Drittel der gesamten Auslandsinvestitionen in Bulgarien, Kroatien, Slowenien, knapp 15 Prozent in der Slowakei und Rumänien und mehr als elf Prozent in Serbien, Tschechien und Ungarn aus. (...) Die massiven Kursverluste, auch auf den Ostbörsen seit Jahresbeginn, reichen von 46 Prozent in Polen und Tschechien bis 71 Prozent in Rumänien und 78 Prozent in der Ukraine. Ungarn und die Ukraine konnten einstweilen von einem drohenden Staatsbankrott durch massive Kapitalhilfe des Währungsfonds, der EU und der Weltbank gerettet werden. (...) Die meisten Transformationsstaaten taumeln nicht nur finanziell, sondern auch politisch. Eine Rosskur ist notwendig, um das Vertrauen der ausländischen Banken und Investoren wiederzugewinnen. (...) In Ungarn lehnt die größte Oppositionspartei jede Zusammenarbeit mit der verhassten Gyurcsány-Regierung ab. (...) Man soll freilich auf das Osteuropageschäft nicht verzichten, aber die Nebenwirkungen der globalen Finanzkrise sind derzeit unabsehbar.” (Paul Lendvai, 6.11.2008, DER STANDARD)
Einst galt Ungarn als "Musterschüler" kapitalistischer Reformpolitik. Heute merkt die rechtspopulistische Opposition Fidesz-MPSZ bissig an, dass es wenig schmeichelhaft sei wegen des internationalen Kreditpakets von 20 Milliarden Euro in die Kategorie von Ländern wie Island, Ukraine, Weißrussland oder Pakistan eingeordnet zu werden. Man sei in der Entwicklung um zehn Jahre zurückgefallen. Die Rezepte von IWF, EU und der sozialdemokratisch geführten Regierung Gyurcsany sind altbekannt: Harte Sparmaßnahmen im öffentlichen Sektor, Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und Stabilisierung der Landeswährung Forint um jeden Preis. Ein vitales Interesse an solchen Sanierungen, die nun im ganzen zentraleuropäischen Raum drohen, haben gerade auch österreichische Banken und Konzerne. Gemeinsam mit Gyurcsany fordern sie eine "Rosskur".
Wie in einigen zentraleuropäischen Staaten, werden soziale Themen von der Rechten in den Parlamenten, aber auch auf der Straße erfolgreich instrumentalisiert. Die inzwischen katastrophalen Begleiterscheinungen kapitalistischer Reformprozesse, werden (nicht nur) von der FIDESZ zum nationalen Verrat umgedeutet. Antisemitische Feindbilder gehören hier inzwischen wieder zum politischen Alltag. Ebenso gelingt es der Opposition immer wieder eine direkte Linie von der stalinistischen Bürokratie zu den heutigen Eliten zu ziehen und damit antikommunistische Vorurteile zu schüren. Diese neuen Oligarchen scheinen allerdings ihre Vorgänger zuweilen zu übertreffen: Vor einigen Wochen wurde bekannt, dass der mit mit Abstand reichste Mann Ungarns Sándor Csányi (geschätztes Vermögen: 600 Millionen Euro) nicht nur Robbie Williams beim Hochzeitfest seines Sohnes auftreten lies. Mittels eines riesigen Privatgeheimdienstes in dem zahlreiche Ex-Mitarbeiter der Staatssicherheit arbeiten, unterstützte er die Intrigen des FIDESZ-Führers Orban. Pikanterweise ist Csányi Generaldirektor der international tätigen ungarischen Großbank OTP, die im Zuge der Krise so stark ins Schlingern geriet, dass sie fast verstaatlicht worden wäre (Vgl.: Pester Lloyd v. 10.10.2008). Paul Lendvai ist zwar Recht zugeben, wenn er heute "die Nebenwirkungen der globalen Finanzkrise" für diese Region als "derzeit unabsehbar" einstuft. Denn ein Produkt der gegenwärtigen ökonomischen und politischen Krise des ungarischen Kapitalismus ist eine starke und ungeheuer gewaltbereite Neonazi-Szene, die systematisch versucht, über martialische Aufmärsche die Straße zu besetzen. Jeder Widerstand gegen diese Kräfte wird allerdings als unglaubwürdig wahrgenommen werden und hohl bleiben, wenn er sich nicht auch klar von den neoliberalen Eliten des Establishments um Premier Gyurcsany abgrenzt. Wie arrogant diese zuweilen agieren macht ein Interview mit dem Präsidenten der ungarischen Nationalbank Andras Simor deutlich. Auf die Frage wie er dazu stehe, dass die Bevölkerung für eine Krise zahlen müsse die nur wenige verschuldet haben meinte er: "Sie haben doch vorher gesagt, dass das Leben nicht fair ist. Das ist es tatsächlich nicht."