Mo 10.12.2018
Knapp 30 Jahre nach der Wiedereinführung des Kapitalismus in Tschechien ist sein ideologisches Fundament so brüchig wie noch nie. Bei den Wahlen 2017 erreichten die offen neoliberalen Parteien nicht einmal 30% der Stimmen. Auch die Sozialdemokratie CSSD und die „kommunistische“ KSCM stürzten fast auf die 5%-Hürde ab. Großer Sieger war mit knapp 30% die Partei „ANO 2011“ („Aktion unzufriedener BürgerInnen“). Die Partei präsentiert sich als „Protestbewegung“ – wurde aber gegründet und finanziert vom Unternehmer und Milliardär Andrej Babiš. Sie punktet, ähnlich wie die „5 Sterne“ in Italien, durch oberflächliche und nach rechts offene Anti-Establishment-Rhetorik. ANO 2011 stützt sich auf jene Teile der Eliten, die zwischen der EU und den westlichen Staaten auf der einen Seite, und Russland/China auf der anderen Seite balancieren. Die aktuelle Regierung ist eine unheilige Allianz von ANO 2011 und der CSSD - mit Unterstützung der KSCM. Die KSCM macht damit den nützlichen Idioten für den nationalistischen Anti-Migrationsflügel der Eliten. Dieser Rassismus von oben gibt der von der AfD und der FPÖ inspirierten rechtspopulistischen „SPD“ Rückenwind.
Die politische Lage ist Ausdruck der widersprüchlichen Entwicklungen, die das wirtschaftliche Wachstum einerseits und die trotzdem enttäuschten Hoffnungen in den Kapitalismus andererseits hervorbrachten. Im April 2018 gab es erstmals mehr offene Stellen als offiziell Arbeitslose. Die Arbeitslosigkeit lag im September bei 3%, der niedrigste Wert in Europa. Das stärkt das Selbstvertrauen von breiten Schichten der Beschäftigten. Zu ihnen gehören nun auch vermehrt Frauen und Roma - nach einer ganzen Generation mit Arbeitslosigkeit, Armut und Leben am Rand der Gesellschaft. So erreichten etwa die Beschäftigten von Skoda durch die Androhung eines unbefristeten Streiks 20% Lohnerhöhung. Der Lohn bei Skoda liegt nun bei 1.900 Euro brutto – immer noch die Hälfte verglichen mit dem deutschen Mutterkonzern VW. Die Situation in der Autoindustrie zeigt jedoch auch die brüchige Grundlage des Aufschwungs: Tschechien hat sich in den letzten Jahren als Niedriglohnbasis für die EU etabliert. Manche bezeichnen es als „17. Bundesland“ von Deutschland.
Der Mangel an Arbeitskräften zwingt die KapitalistInnen einerseits, höhere Löhne zu gewähren und stärkt die Gewerkschaften - andererseits verstärkt er den Ruf nach billigen Arbeitskräften aus der Ukraine, Slowakei, Polen etc. Die größte Gewerkschaft CMKOS wuchs letztes Jahr um 14.000 Mitglieder. Die Gewerkschaftsführung führt zwar Kampagnen gegen Billigjobs und Billiglöhne oder für Arbeitszeitverkürzung, jedoch ohne wirkliche Mobilisierungen und Streiks. Doch die Furcht vor der ArbeiterInnenklasse bringt die Herrschenden dazu, wie bei Skoda vorauseilend Zugeständnisse zu machen: So erhöhte die Regierung den Mindestlohn um 50% auf 470 Euro – ein Ausdruck des Mangels an Arbeitskräften – und hob das Einfrieren der Löhne im Öffentlichen Dienst auf. Das ist nur möglich aufgrund des Wachstums.
Dennoch wächst die Kluft zwischen Profiten und Löhnen. Während das BIP nominal fast um 40% höher ist als 2009, sind die Löhne nur um 25% gewachsen. Das zeigt: Der Aufschwung kommt vor allem den Reichen zugute. Fast eine Million Menschen (10%) lebt an der Armutsgrenze. Deswegen gibt es trotz des Aufschwungs große Enttäuschung über die nicht erfüllten Hoffnungen nach der Wiedereinführung des Kapitalismus. Viele, die keine Chance sehen, ihre Situation durch soziale Kämpfe zu verbessern, bauen deswegen auf die rechtspopulistische SPD, um ihre Angst und Wut auszudrücken – vor allem in vernachlässigten ländlichen Regionen. Andererseits müssen hunderttausende MigrantInnen aus der Ukraine und anderen ärmeren osteuropäischen Ländern unter furchtbaren Bedingungen arbeiten und leben, diktiert durch Arbeitsagenturen unter der Aufsicht staatlicher Behörden.
Aber auch die Bereiche, wo sich Widerstand regt, werden mehr. Eine Situation wie bei Skoda existiert auch in anderen Unternehmen. Bildungs- und Gesundheitssystem sind unterfinanziert und die Beschäftigten in diesen Bereichen überarbeitet – und wütend. Die Mieten in Prag sind nun um 10-20% teurer als in Berlin, und wir sehen immer mehr lokalen Protesten gegen Immobilienhaie. Die Jugend lehnt das alte korrupte System der letzten 30 Jahre ab und ist angewidert vom Rassismus, Sexismus und der Homophobie der politischen Parteien.
Dieser explosive Mix schafft große politische und soziale Spannungen. MarxistInnen können die Kristallisationspunkte von Protest ausweiten, radikalisieren und eskalieren – und sie zu generalisierten Massenbewegungen vereinen. In solchen Bewegungen können wir die notwendige Kraft aufbauen, um den Kapitalismus zu stürzen und eine demokratische sozialistische Gesellschaft aufzubauen, ohne den Horror der bürgerlichen Herrschaft oder jenem der stalinistischen Bürokratie.