Sudan: Generäle ergreifen die Macht – Revolution und Konterrevolution auf der Straße

Serge Jordan, International Socialist Alternative (ISA)

Dieser Artikel erschienen am 26. Oktober 2021 zuerst auf der Website der International Socialist Alternative (ISA), der die SLP angehört: https://internationalsocialist.net

“Millionen von leidenden Arbeiter*innen, Jugendlichen, Frauen und Unterdrückten wollen einen Sudan ohne Gewalt und Armut, während die Generäle und Warlords, die das Land beherrschen und plündern auf die Gelegenheit warten, noch stärker zurückzuschlagen um ihre Macht und ihre Profite zu sichern.” — aus einer Stellungnahme der ISA, Juni 2021

Montagmorgen eskalierte der seit Monaten schwelende Konflikt zwischen den Militärs und den zivilen Vertreter*innen im „Souveränen Rat“ des Sudan, der seit 2019 als kollektives Staatsoberhaupt amtierte. Die Armeeführung organisierte einen Putsch, rief den Ausnahmezustand aus, löste den Rat auf und verhaftete Premierminister Abdalla Hamdok und seine Regierung sowie die Vorsitzenden mehrerer die Regierung unterstützender Parteien. Der Flughafen von Khartoum und die Zentrale der staatlichen TV- und Radiosender wurden vom Militär besetzt, das Internet und Handynetze abgeschaltet.

Hinter dem Konflikt zwischen Zivilist*innen und Militärs steckt ein tieferer Widerspruch zwischen den revolutionären Hoffnungen von Millionen Sudanes*innen und der Konterrevolution, die die Generäle verkörpern. Die tiefe Krise der sudanesischen Wirtschaft und die gesellschaftliche Polarisierung, die durch das Ausbleiben von Veränderungen nach der Revolution 2018/19 entstanden führte zu wachsendem Druck auf die prekäre Koexistenz zwischen den zivilen Führer*innen und den Generälen. Durch eine Reihe von Massenmobilisierungen in den letzten Monaten kam es zum offenen Bruch. Der zivile Block (bekannt als „Kräfte für Freiheit und Wandel“, FFC) brach auseinander, eine Gruppe von Parteien und bewaffneten Bewegungen, die früher in Darfur gegen das Regime von Omar al-Bashir gekämpft hatten, wendeten sich dem Militär zu.

Außerdem war ursprünglich geplant, dass der Vorsitz im Souveränen Rat im November von einem Militärvertreter auf einen Zivilisten übergeht. Der Putschführer General Abdel Fattah al-Burhan und seine Kameraden sahen dadurch ihre Macht und ihr Ansehen in Gefahr und fürchteten, dass die Massen das Militär aus dem Staatsapparat entfernen und Gerechtigkeit fordern könnte, etwa für die Opfer des Massakers vom 3. Juni 2019, als der damals herrschende Militärrat hunderte von revolutionären Protestierenden im Zentrum der Hauptstadt Khartoum abschlachten ließ. Letztlich ergreift die Armee die alleinige Macht aus Angst vor einer neuen sozialen Explosion und zur Verteidigung ihrer Privilegien.

In einem im Juni veröffentlichten Artikel schrieb die ISA, dass „Millionen von leidenden Arbeiter*innen, Jugendlichen, Frauen und Unterdrückten einen Sudan ohne Gewalt und Armut [wollen], während die Generäle und Warlords, die das Land beherrschen und plündern auf die Gelegenheit warten, noch stärker zurückzuschlagen um ihre Macht und ihre Profite zu sichern.“ Dieser Moment, der lange vorbereitet wurde ist gekommen.

Die Massen leisten Widerstand

In der Morgendämmerung, sobald sich die Nachricht vom Putsch verbreitete, begann der Widerstand auf den Straßen. Oft von örtlichen „Widerstandskomitees“ organisiert, brachen in der Hauptstadt Khartoum, in Omdurman und vielen anderen Städten Proteste gegen den Putsch aus. Jugendliche begannen in ihren Stadtteilen mit dem Bau von Barrikaden und zündeten Reifen an. Der wichtigste Sprechchor auf den Straßen lautet „Es gibt kein Zurück!“, wie Satti berichtet, ein ISA-Unterstützer der an den Demonstrationen in Khartoum teilnimmt.

In den letzten Monaten sind die Menschen im Sudan verstärkt auf die Straßen gegangen, um ihre Reveolution gegen die spürbare Putschgefahr zu verteidigen. Seit einigen Wochen hatte al-Burhan – einst ein loyaler, blutiger Henker im Dienst al-Bashirs – offen gefordert, die zivile Regierung aufzulösen. Mit einem ersten, abgebrochenen Putschversuch am 21. September wurde die Bedrohung konkreter. Als Reaktion auf diesen Angriff einer Gruppe von Anhänger*innen des alten Regimes hatte es in verschiedenen Bundesstaaten Demonstrationen gegeben, darunter in al-Dschazira, Nordkordofan, al-Bahr al-ahmar und al-Qadarif. Seit Mitte Oktober hatten Anhänger*innen des Militärs den Platz vor dem Präsidentenpalast in Khartoum besetzt und die Armee zum Putschen aufgefordert.

Am 21. Oktober zeigten dann nach einer Reihe von Provokationen die Massen ihre revolutionäre Energie. Hunderttausende demonstrierten im ganzen Land mit der Forderung nach einer zivile Regierung, einer der größten Proteste gegen das Militär seit dem Sturz al-Bashirs. Es war auch der Jahrestag des revolutionären Generalstreiks, mit dem 1964 das Militärregime von General Ibrahim Abbud gestürzt wurde, der sich kurz nach der Unabhängigkeit 1956 an die Macht geputscht hatte.

Seit der Unabhängigkeit gab es im Sudan drei längere Phasen der Militärdiktatur, jeweils unterbrochen durch prekäre und kurzlebige Perioden die als „Übergangs zur Demokratie“ bezeichnet wurden. Diese demokratischen Intermezzos zwischen offen tyrannischen Regimes waren selbst durch immer wieder aufflackernde Repression durch staatliche Kräfte und schwere Einschränkungen demokratischer Rechte geprägt.

Der aktuelle Putsch ist eine schreckliche Erinnerung an eine Lehre, die in der Geschichte des Landes immer wieder bewiesen wurde: dass es nicht möglich ist, „Demokratie“ aufzubauen ohne die bestehende Wirtschaftsordnung zu beseitigen, in der Millionen extrem ausgebeutet und in Armut gestürzt werden. Der Kapitalismus, der im Sudan stark vom Militär und der gefürchteten Miliz „Schnelle Eingreiftruppe“ (RSF) geprägt ist, die ganze Branchen beherrschen, bietet keine Grundlage für demokratische Rechte und erst recht nicht für ein Leben in Würde für Alle.

Seit die Corona-Pandemie zu einer neuen Krisenphase für den globalen Kapitalismus geführt hat bröckelt der demokratische Anstrich des Regimes an allen Ecken. Ein deutliches Beispiel ist die Rückkehr der Militärputsche und autoritären Staatsstreiche in Afrika im letzten Jahr, darunter zweimal in Mali, einmal im Tschad, einmal in Tunesien und ein gescheiterter Putsch in Niger im März.

Opposition

Am Montag riefen Führer*innen verschiedener Parteien die sudanesische Bevölkerung auf, gegen den Putsch auf die Straße zu gehen. Das ist schön und gut, und viele Protestierende waren schon vor den Aufrufen ihrer Führer*innen aktiv geworden. Es gibt ein gesundes Misstrauen gegenüber Führer*innen, die das Blut der Märtyrer*innen verkauft hatten indem sie den revolutionären Kampf in die Sackgasse einer Partnerschaft mit der mörderischen Militärjunta führten. Premierminister Hamdok, der jetzt unter Hausarrest steht, kritisierte letzten Monat die „Reste des ehemaligen Regimes, die versuchen den Übergang zur Demokratie zu stoppen“. Aber er selbst führte seit fast zwei Jahren eine Regierung, die verzweifelt versuchte Kompromisse mit diesen „Resten“ zu schließen.

Die Massenbewegung, die sich gegen den Putsch entwickelt hat sollte natürlich die sofortige Freilassung alle zivilen Führungspersonen und Minister*innen fordern – und der hunderten von Protestierenden, die seit Montagmorgen verhaftet wurden. Aber die Schäden, die die kurzsichtige Strategie dieser Politiker*innen angerichtet hat, die versucht haben sich politisch mit der alten herrschenden Klasse zu arrangieren statt auf den revolutionären Kampf zu vertrauen müssen als solche erkannt werden.

Die Kompromissler*innen der FFC sahen im Machtteilungsabkommen mit der Militärführung eine Möglichkeit, die revolutionären Demonstrant*innen mit dem Staatsapparat zu versöhnen. Nachdem sie zu lange versucht haben, die Massenbewegung zu befrieden rufen sie sie jetzt aus politischem Selbsterhaltungstrieb zu Hilfe.

Ihre Wirtschaftspolitik war objektiv im Interesse der kapitalistischen herrschenden Eliten und der Institutionen des Imperialismus. Sie haben harte Austeritätsmaßnahmen eingeführt, Subventionen abgeschafft und staatliche Leistungen weiter ausgehölt. Damit zieht sich die Schlinge um den Hals der Arbeiter*innen und Armen weiter zu. Für die Mehrheit der Bevölkerung ist die wirtschaftliche Lage noch schlimmer geworden, Preise steigen und es herrscht Mangel an Medikamenten, Weizen und Benzin. Schätzungen zufolge wird ein Drittel der Bevölkerung bis Jahresende auf humanitäre Hilfe angewiesen sein.

Die Generäle nutzen die Rolle, die die zivilen Führer*innen und abgesetzten Minister*innen bei dieser wirtschaftlichen und sozialen Katastrophe gespielt haben auf zynische Weise aus, um ihren Putsch zu rechtfertigen. Der Chef der RSF [diese Miliz wurde seit den 2000er-Jahren unter dem Namen Dschandschawid für Kriegsverbrechen in Darfur bekannt und spielt seit dem Aufstand, der zum Sturz al-Bashirs führte eine besonders brutale Rolle bei der Niederschlagung von Protesten, a.d.Ü.], General Mohamed Hamdan Dagalo (genannt „Hemedti“) erklärte, die Regierung habe „den normalen Bürger vernachlässigt“. Natürlich haben die Generäle und Warlords wie Hemedti nichts anders anzubieten als die fortgesetzte Plünderung des Landes und die Unterdrückung der Mehrheit im Interesse ihrer eigenen Bereicherung.

Aber der zivile Block und die FFS-Führung setzen dem keine ernsthafte Alternative entgegen. Deshalb ist es notwendig, ein Programm aufzustellen das mehr umfasst als die Forderung nach „ziviler Regierung“ – worunter manche einfach die Rückkehr der ungewählten bürgerlichen Minister*innen an die Macht verstehen könnten – um die Basis der revolutionären Bewegung zu verbreitern und sie attraktiver zu machen. Letztlich verläuft die wichtigste Grenze nicht nur zwischen Zivilist*innen und Generälen, sondern zwischen denen die vom Kapitalismus ausgebeutet und zerquetscht werden und denen, die davon profitieren – ob mit Uniform oder ohne Alternative.

Das ganze vom westlichen Imperialismus unterstützte politische Konstrukt, das nach dem Sturz al-Bashirs geschaffen wurde, um auf den Fundamenten des alten Unterdrückungsapparats und der ökonomischen Ausbeutung eine demokratische Fassade zu errichten liegt in Trümmern – ebenso wie die Strategie der zivilen Führer*innen, die jetzt am eigenen Leib die Konsequenzen ihrer zweijährigen Versuche erfahren, die Revolution mit der Konterrevolution zu versöhnen.

Direkt nach dem Abschluss des Machtteilungsabgkommens im Sommer 2019 betonte die ISA, dass die alte herrschende Klasse die Krise letzten Endes auf ihre Art lösen würde, wenn die sudanesische Arbeiter*innenklasse und die Masse der Bevölkerung die Macht nicht in die eigenen Hände nehmen und sie enteignen würden. Wir rechneten damit, dass sie „auf einen Militärputsch oder ‚neue 3. Junis‘, vielleicht in größerem Umfang [zurückgreifen]“ würden. Diese Gefahr ist heute noch größer geworden. Im Moment setzt der massenhafte Widerstand in den Straßen des Sudan den repressiven Zielen der Generäle gewisse Grenzen. Aber schon jetzt wurden einige Demonstrant*innen erschossen, die Putschführer prüfen die Bedingungen für größere Angriffe. In manchen Gebieten, etwa in Darfur, hat die Gewalt nie wirklich aufgehört. In einem Konflikt, für den zu einem großen Teil die Herrschenden in Khartoum verantwortlich sind wurden hunderte Menschen getötet und hunderttausende vertrieben.

Auf die Sprache nackter militärischer Gewalt kann man nur in der Sprache revolutionärer Massenaktionen und kollektiver Selbstverteidigung antworten. Es sollten sofort im ganzen Land Volksselbstverteidigungskomitees gegründet werden, um die Angriffe des Militärs abzuwehren. Die Widerstandskomitees, die das Herz der Bewegung sind sollten die Selbstverteidigung planen und koordinieren. Es ist notwendig, die unteren Ränge der Armee, die von ihren Vorgesetzten für die Drecksarbeit eingesetzt werden und von ihrem Sold ihre Familien nicht ernähren können, aufzufordern den konterrevolutionären Generälen den Gehorsam zu verweigern und alle Verbrecher*innen, Folterer*innen, Vergewaltiger*innen und Mörder*innen in den staatlichen und paramilitärischen Kräften zu entwaffnen.

Eine breite Beteiligung der Arbeiter*innenbewegung ist entscheidend, denn sie kann der Militärjunta die Profite und die Handlungsfähigkeit nehmen. Es gibt Berichte über Streiks von Ärzt*innen, Bergarbeiter*innen und den Beschäftigten der Zentralbank des Sudan, sie sind wichtige Schritte in diese Richtung. Die Aufrufe zum Generalstreik von der SPA und der Kommunistischen Partei des Sudan sollten daher unterstützt werden.

Aber um den stärksten Widerstand gegen den Putsch aufzubauen, muss innerhalb der Bewegung ein Programm vertreten werden, das die Arbeiter*innen, armen Bäuer*innen, arbeitslosen Jugendlichen und unterdrückten Gemeinschaften wirklich anspricht. Forderungen nach der Wiederherstellung aller demokratischen Rechte, der sofortigen Freilassung aller Demonstrant*innen und politischen Gefangenen, dem Ende des Ausnahmezustands und der Verhaftung der Putschführer sollten mit einem radikalen Programm für eine soziale Revolution verbunden werden – einer Revolution, die das Elend, Arbeitslosigkeit und tägliche Existenzangst beenden kann, unter der so viele Sudanes*innen leiden.

Die Ressourcen des Landes, die von einer Clique korrupter und gewalttätiger Gauner*innen beherrscht werden, sollten im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung öffentlich verwaltet, kontrolliert und geplant werden. Um das zu erreichen, könnte die Bewegung die Verstaatlichung der Investmentfirmen, Goldminen und anderer Unternehmen die dem Militär und der RSF gehören unter demokratischer Kontrolle der Arbeiter*innen fordern; die vom IWF geforderten Austeritätspläne ablehnen und die Nichtanerkennung der Staatsschulden fordern; die Enteignung der Großgrundbesitzer*innen und eine umfassende Landreform zugunsten armer Bäuer*innen; Maßnahmen zur Begrenzung von Preisen und die Verteilung von Lebensmitteln und anderen lebensnotwendigen Gütern durch Basiskomitees; die Streichung der enormen Militär- und Sicherheitsausgaben und massive staatliche Investitionen in Infrastruktur, Gesundheit und Bildung; für gleiche Rechte für alle Völker, einschließlich dem Recht auf Selbstbestimmung für alle unterdrückten Gruppen in Darfur, Südkordofan und den Nuba-Bergen.

Weil die offiziellen zivilen Führer*innen ihre Unfähigkeit und ihren Unwillen, mit dem Kapitalismus zu brechen gezeigt haben müssen die Arbeiter*innen, die armen Massen und die revolutionäre Jugend ihre eigene, unabhängige politische Organisation aufbauen, um ein solches Programm durchzuführen. Sie werden auch die volle Unterstützung und Solidarität der internationalen Arbeiter*innen- und Gewerkschaftsbewegung brauchen, die eine wichtige Rolle dabei zu spielen hat den heroischen Widerstand gegen den Militärputsch zu stärken.

Nieder mit dem Putschregime! Es gibt kein zurück – vorwärts zu einem freien, sozialistischen und demokratischen Sudan!